notiz: krisennews und -gedanken (10)

weil ich weiterhin finde, dass die unruhen in griechenland teils deutlich den charakter einer sozialrevolte aufweisen, die sich trotz einiger dortiger innenpolitischer eigenheiten auch durch die weltwirtschaftskrise speist, bleiben diesbezgl. meldungen vorläufig in dieser reihe. mittlerweile verschwindet das thema gerade wieder aus den titelschlagzeilen und aufmachern des mainstreams, aber natürlich nicht aus der realität. und es deutet einiges darauf hin, dass es jetzt eigentlich erst wirklich beginnt, spannend zu werden. ein bericht aus einem weiteren neuen blog zu den unruhen, alexisg., der sich mit der situation in der stadt patras beschäftigt, macht das deutlich:

(...)"Am Donnerstag dem 11.12 um 19 Uhr begann eine Demo, die berühmte Demo, zu der wir den ganzen Tag über aufgerufen haben, eine Demo mit 6000 Leuten (eine Anzahl, die Patra noch nie zuvor gesehen hat) und eine komplett friedliche Demo. Nicht mal eine Nase blutete. Zusammen mit dem Schwarzen Block. Und mit den Polizei-“Robotern“, die uns in geringem Abstand gefolgt sind und den ganzen Weg über provoziert haben. Aber nichts ist passiert.

Deswegen wird über Patra nicht berichtet. Weil Patra bewiesen hat, dass Chaos sich mit der Ordnung anfreunden KANN. Wir haben gestern gewonnen. Jetzt wissen die Bürger Patras, dass wir nicht gegen sie sind. Sie haben uns gesehen, sie haben unsere Gesichter gesehen, sie haben sich der Demo angeschlossen. Und unser Poster für heute, das gerade gedruckt wird, sagt: „Auf diesen Straßen, in dieser Gesellschaft geschieht die Rebellion; es ist keine Utopie.“ Und ruft auf zu Streiks, Schul- und Universitätsbesetzungen, Demos und Gegeninformation.(...)

Wir werden versuchen, jetzt die Arbeiter zu erreichen. Ohne sie gibt es keinen Weg, den Kapitalismus an seiner Wurzel zu verletzen - der Produktion. Ohne die Arbeiter können sie uns töten, und das meine ich ernst."(...)


und dann kommt die unbekannte autorin auf ein element der unruhe zu sprechen, welches ich - aus ganz eigenen erfahrungen - für eines der wichtigsten prozesse in emanzipatorischen kämpfen überhaupt halte: das lernen in und an der realität, das lernen über die bedeutung und veränderung des eigenen seins IN einem kollektiven prozeß:

(...)"Weißt du, „Tu, was du nicht lassen kannst“ - das ist ein Motto, dass jeder a priori akzeptiert. Deswegen gibt es keinen Grund, zu versuchen, nett und höflich zu klingen mit den Ideen, die man vertritt. Jemanden anzubrüllen bedeutet nicht Disrespekt, es zeigt „es ist mir nicht egal, was du machst“ und es funktioniert.

Außerdem lerne ich der Spontaneität zu vertrauen. Das fühlt sich sehr wichtig an, weil es auch das Vertrauen unter Menschen verstärkt.

„Fuck the Police“ ist nicht der einzige Slogan. Es gibt noch viele mehr, jeden Tag werden neue erfunden, alte sind Klassiker wie „Die Leidenschaft für die Freiheit ist stärker als jeder Käfig“ oder „Bullen, Pressen, Neonazis arbeiten zusammen“ oder „Hey Leute, kommt schon, beugt nicht euren Kopf, der einzige Weg ist Widerstand und Kampf“ oder „Hey, ihr, die ihr am Rande steht, schließt euch an“ oder „Geschichte wird geschrieben durch Ungehorsamkeit“ …

Wie du sehen kannst, gibt es noch keine Slogans, die sich auf eine neue Gesellschaft beziehen. Es gibt noch keine Slogans, die von Sozialismus, Kommunismus, Anarchismus oder irgendeiner Alternative zum Kapitalismus sprechen. Es ist zu zeitig. Es ist noch viel Zeit, also lass uns einen Schritt nach dem nächsten machen. Jetzt erstmal ist es wichtig, zu beweisen, dass Veränderung passieren kann, dass Rebellion mehr als ein Traum sein kann, dass wir zusammen gegen das System kämpfen können, dass wir zusammen diskutieren, singen, spielen und lachen können, egal was unsere Ideologien sind. Wir mögen das System nicht. Und wir haben Ideen… verdammt viele Ideen."(...)


patras ist dazu - auch das erwähnt der obige bericht - diejenige stadt, in der es bisher die deutlichsten beweise für eine allianz in unheilvoller (und nicht nur griechischer) tradition gibt:
faschisten hand in hand mit der polizei als verteidiger des verrotteten systems. selbst für all diejenigen, welche die situation dort eher pessimistisch einschätzen, sollte das ein indiz dafür sein, dass es sich hier um eine authentische - und nicht bloß simulierte bzw. inszenierte - rebellion handelt. nazis aller coleur haben ein gutes gespür für alles, was für sie zur echten bedrohung werden kann.

solche töne aus patras wie oben mögen in den desillusionierten ohren allzu vieler wie töne aus einer anderen welt klingen, aber sie stehen nicht alleine -
o-töne aus athen:

(...)"Wir können sagen, dass einige Gebiete des Stadtzentrums eine gesicherte Selbstverwaltung besitzen, mit Sicherheit wird dort die Polizei nicht reingehen...

Freunde in aller Welt, wenn ihr eure Solidarität ausdrücken wollt, kämpft weiter in euren Ländern und verstärkt diese Kämpfe. Sie haben wirklich Angst vor uns glaubt uns, ihr könnte es euch nicht vorstellen, hier können wir es deutlich sehen. Die Wiederkehr der Revolte, wie wir sie in Büchern lesen konnten, besteht wirklich, wir könne es euch versichern, wir leben sie. Es ist wunderbar! In einer Nacht verstarb die „Realität“, die „Normalität“.. Bald wird es auch in euren Ländern passieren....

Macht Pläne, seid bereit!"


diese phase der revolte liest sich in den nachrichtenagenturen des mainstreams etwa so:

(...)"In der griechischen Protestbewegung vollzieht sich eine fast eine Woche nach den tödlichen Polizeischüssen auf einen Jugendlichen ein Wandel: Mit täglichen Demonstrationen wollen Studenten und andere Gruppen eine Politikänderung bezüglich Ausgabenkürzungen, den Rücktritt des Innenministers und die Freilassung aller in den gewaltsamen Ausschreitungen seit vergangenen Samstag festgenommenen Personen erreichen. Am Freitag zogen rund 3.000 Demonstranten mit diesen Forderungen durch Athen, die Kundgebung blieb zunächst weitgehend friedlich.(...)

Demonstranten besetzten vorübergehend einen privaten Athener Radiosender und verlasen eine Erklärung. In der nordwestgriechischen Stadt Ioannina wurde eine Verwaltungsgebäude kurzzeitig besetzt, teilten die Behörden mit. Zunächst waren Demonstrationen vor allem Ausdruck der Empörung über den Tod des 15-jährigen Alexandros Grigoropolous am vergangenen Samstag. Es gab aber auch Unruhen in vielen griechischen Städten, bei denen Hunderte von Geschäften und Dutzende von Autos zerstört wurden. Über die Forderung nach Bestrafung der für die tödlichen Schüsse verantwortlichen Polizisten hinaus wurden bald auch zunehmend politische Forderungen erhoben. Ministerpräsident Konstantinos Karamanlis wies die Forderungen nach Rücktritt und Neuwahl, die auch von der Opposition erhoben wurden, am Freitag zurück. «Was als ein Ausbruch der Empörung über die Tötung von Alexandros begann ist jetzt eine mehr organisierte Form des Protests», sagte Petros Constantinou, einer der Organisatoren und Mitglied der Sozialistischen Arbeiterpartei."(...)


wobei natürlich die etablierten parteien und auch gewerkschaften alles dafür tun werden, die revolte in ihrem sinne zu organisieren. denn die im beitrag aus athen erwähnte angst ist auch die ihre, die inzwischen offen ausgesprochen wird:

(...)"Die Proteste sind inzwischen über die griechischen Grenzen hinausgegangen, in Dänemark, Italien und Spanien kam es auch zu Zwischenfällen mit Steinewerfern. Damit wächst die Sorge, die Proteste in Griechenland könnten für Globalisierungsgegner und von Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit betroffene Jugendliche in ganz Europa zum Beginn einer Rebellion werden."(...)

oder auf den punkt gebracht:
Griechische Unruhen alarmieren die Regierungen von Europa:

"Finanz- und Wirtschaftskrise haben genug sozialen Brennstoff angehäuft, dass jederzeit ein Funken gewaltsame Proteste wie in den vergangenen Tagen in griechischen Städten auslösen könnte.

Am Donnerstag flogen in Dänemark, Italien und Spanien Steine in Schaufensterscheiben und Banken. In Frankreich zogen Demonstranten vor das griechische Konsulat in Bordeaux und steckten Autos in Brand. An Wänden tauchten Graffiti mit der Ankündigung eines Aufstandes auf.

Am Freitag beteiligten sich in Italien Tausende an einem Generalstreik, der allerdings nichts mit dem Tod des griechischen Jugendlichen am vergangenen Samstag zu tun hatte. Und in Athen flogen nach einer zunächst friedlichen Kundgebung wieder Steine und Brandsätze.

So deutet inzwischen einiges darauf hin, dass die Rezession in Europa eine Massenbewegung gegen Sparmassnahmen und andere von Politik und Wirtschaft eingeleitete Gegenmassnahmen auslösen könnte. Das hat es in dieser Form jahrelang nicht mehr gegeben, die Durchschnittsbevölkerung hat die ihr auferlegten Bürden bislang getragen."(...)


und genau das ist das (überaus wünschenswerte und überfällige) szenario, für das mit aller wahrscheinlichkeit all die aufrüstung der inneren repression, überwachung und kontrolle im gesamten westen gedacht ist. millionen von potenziellen "terroristen", die aus der sicht der "eliten" auch nichts anderes sein können, weil für die ihr als "natürlich" empfundener anspruch auf macht und herrschaft tatsächlich ihr elementarstes inneres bedürfnis darstellt. quasi die einzig denkbare lebensform schwer gestörter personen. und jede negierung dieses anspruchs kann nur als tödliche bedrohung, mithin "terror", wahrgenommen werden. dabei ist es letztlich übrigens egal, ob diese negierung militant oder gewaltfrei daherkommt - die bewertung bleibt dieselbe, nur die reaktionen werden jeweils von verschiedenen taktischen und strategischen überlegungen bestimmt. wie in der vergangenheit hier schon oftmals ausgeführt: der objektivistische modus, der sich bei großen teilen der "eliten" in nahezu unverborgener form findet, kann nicht anders reagieren. und das macht meiner meinung auch sog. gewaltdebatten, jedenfalls in ihrer bisherigen form, ziemlich überflüssig. oder anders gesagt: soziopathische persönlichkeiten (die objektivste extremform sozusagen) lassen sich nur durch handfeste grenzen beeindrucken. alles andere können sie nur als "schwäche" wahrnehmen.

*

wir machen einen abstecher in den hohen norden, nach island - auch um dieses land ist es nach den für die dortigen verhältnisse ungeheuerlichen aktionen wie der versuchten stürmung einer polizeiwache sowie der zentralbank vor einigen wochen medial wieder ruhiger geworden. der zwanghaften logik der mainstreammedien entsprechend, die sich kollektive prozesse nur als verkappten ausdruck des handelns von "führungspersonen" ausmalen können, brachte die taz neulich ein
portrait eines solchen "kopfes" (fällt auch anderen dabei immer die hydra ein?) möglicherweise ist island aber auch von der bevölkerungszahl - mittlere großstadt - tatsächlich klein genug, damit solche personalisierungen zumindest teilweise sinn machen. unabhängig davon enthält der artikel einige interessante informationen:

(...)"Hördur Torfa, 63 Jahre alt, Sänger, Dichter und Regisseur, steht seit Anfang Oktober an der Spitze einer wachsenden Protestbewegung. "Diejenigen, die uns in diese prekäre Lage gebracht haben, wollen uns erzählen, das wird schon wieder alles. Aber wir glauben ihnen nicht mehr", sagt er.(...)

Torfa tritt für politische Erneuerung, für Neuwahlen ein. Die "Clique" soll endlich zurücktreten, fordern er und eine wachsende Zahl anderer Menschen: "Anfang Oktober waren wir nur fünf oder sieben Leute", erzählt er. "Jetzt sind es bis zu 7.000, die am Wochenende zu den Protesten kommen." 7.000 Teilnehmer, das klingt zunächst nicht sonderlich beeindruckend, doch bei der geringen Einwohnerzahl Islands sind es über 2 Prozent der Bevölkerung.(...)

Aufruhr auf den Straßen, fliegende Tomaten und Tränengas aus Polizeikanonen kennen viele Isländer nur aus Filmen. Es sind historische Zeiten. In Island gibt es nicht viele Waffen, das Land hatte nie eine eigene Armee. Schon im Jahr 1000 nach Christus beschlossen die Bewohner, Volksversammlungen einzuberufen und über wichtige Entscheidungen demokratisch abzustimmen, statt sich, wie in anderen Ländern damals und noch viele weitere Jahrhunderte lang üblich, der Tyrannei eines einzelnen Königs oder Häuptlings zu unterwerfen. Dafür genossen die gewählten Politiker auch stets ein recht hohes Ansehen und das Vertrauen der Bevölkerung. Bis vor Kurzem war es völlig normal, sie morgens in der Hauptstadt Reykjavík beim Bäcker zu treffen und eine kurze Unterhaltung zu führen. Inzwischen traut sich Premierminister Geir Haarde ohne Bodyguards nicht mehr aus dem Haus. Die guten alten Zeiten wünschen sich viele zurück."(...)


natürlich eine führungsfigur, die "strikt gegen gewalt" ist (was ich als persönliche und durch biographische erfahrungen erworbene maxime durchaus respektiere). und die "guten alten zeiten" sind nichts weiter als zeiten einer funktionierenden herrschaft. so unverhohlen wird systemstützung betrieben. es wird spannend sein zu verfolgen, was sich nicht nur in island im verlauf der weiteren krisenentwicklung an lern- und veränderungsprozessen tut. wieviele selbstbewusste menschen gibt es in europa? (denn nur die können grundsätzlich positive qualitative soziale veränderungen anstoßen und durchführen - sklaven von macht und herrschaft machen nicht nur keine revolutionen, sondern haben angst davor). und die antwort auf diese frage wird auch eine antwort auf die frage nach einer positiveren qualität des umgangs mit kindern in den europäischen gesellschaften innerhalb der letzten jahrzehnte sein.

*

ein update zu der in der letzten folge der krisennews erwähnten fabrikbesetzung in chicago: die
besetzung wurde erfolgreich beendet, erfolgreich jedenfalls aus der perspektive der belegschaft:

(...)"Die Aktion der Belegschaft von Republic in Chicago ist von Erfolg gekrönt: die staatlich extremsubventionierte Bank of America mußte nachgeben, dem Unternehmen wird der Kredit gewährt - zweckgebunden, ausschließlich zur Finanzierung der bestehenden Ansprüche der Belegschaft. Weitere Gelder sind vorhanden für die Gründung einer Stiftung der Belegschaft, die die Weiterexistenz des Unternehmens Republic betreiben soll."(...)

zu diesem ende dürften viele verschiedene dinge beigetragen haben - vermutlich ist neben der neulich schon erwähnten symbolkraft (im verlinkten text ist u.a. kurz erwähnt, dass diese besetzung und überhaupt die us-historie von fabrikbesetzungen unter dortigen gewerkschaftern stark diskutiert wird), auch die für alle öffentlichkeit erkennbar erbärmliche lage und position des kreditgebers, der "bank of america", mitverantwortlich für das schnelle einlenken. eine bank übrigens, die gerade
die streichung von bis zu 35.000 jobs ankündigte, und sich daher auch nicht in der lage befindet, irgendetwas zu fordern oder aussitzen zu können. nicht zuletzt dürfte die positionierung von obama eine rolle gespielt haben, und das wird er sich wahrscheinlich als glaubwürdigkeitspunkt bei vielen us-linksliberalen verbuchen können. wir werden sehen, ob diese verschüttete tradition in den usa in den nächsten monaten ein revival erfährt - womöglich in der autoindustrie?

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