notiz: krisennews und -gedanken (18)

zu beginn möchte ich ein paar worte dazu äußern, dass momentan etliche der "eigentlichen" schwerpunkte im blog zu kurz kommen bzw. zu kommen scheinen. das primär damit etwas zu tun, dass ich erstens die auswirkungen der krise für enorm halte (auch für mich persönlich) und ich zweitens speziell diese reihe hier als eine art gegeninformation verstehe, mittels derer ich für alle interessierten (und für mich) diejenigen informationen bündeln möchte, bei denen ich das gefühl habe, dass sie mittel- und langfristige entwicklungstrends der krise und der weltweiten reaktionen darauf anzeigen könnten. dazu kommt noch die mediale fragmentierung von informationen, die - nicht nur bei diesem thema - darauf angelegt ist, fragen nach zusammenhängen und strukturen gar nicht erst aufkommenz zu lassen.

als drittes aber kommt ein aspekt dazu, der in "le mondes diplomatique" vom dezember 08
so umrissen wurde:

(...)"Und, diese kleine Hoffnung keimt am Ende meines Rundgangs über die Gedankenmesse der Neurowissenschaftler, so es könnte ja sein, dass wir nach den cartesianischen Fortschrittsjahrhunderten eine neue Einheit finden, weil wir nun auch dem härtesten Positivisten "beweisen" können: Nicht die Genetik der Aggression und nicht die Biochemie der Bindung erklärt uns, wer wir sind, sondern nur unsere ganze, kollektive und individuelle Geschichte - und der geteilte Blick und die gemeinsame Aufmerksamkeit auf die Gegenwart.

Wäre das ein unnötiger Umweg gewesen? Nun, wir haben auf diesem Weg der Trennung von Welt und Leib und Seele einige Kenntnisse erworben, die unser Leben erleichtern; und überdies die religiösen und metaphysischen Annahmen über eine hinterweltliche Verursachung unseres Lebens destruiert. Und am Ende steht eben nicht eine neue, diesmal materialistische Kausalitätsmetaphysik, sondern etwas, das sehr viel Ähnlichkeit hat mit der 6. Feuerbachthese von Marx: "Das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum inwohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse." Das ist kein billiger Triumph, denn andere als Marx haben das auch schon immer gewusst.

Und so lande ich nach meinen Ausschweifungen in die Menschenwissenschaften doch immer wieder in der politischen Ökonomie: denn es ist eine Frage der Ökonomie, wie Eltern die Genese der Gefühle, der Intelligenz, der Gemeinschaftsfähigkeit in den Situationen der "joint attention" gestalten; und der Zustand der Welt ist der stärkste Einflussfaktor, den wir beeinflussen können."(...)


ja, es geht u.a. um das wechselspiel zwischen äußeren und inneren strukturen; und sowohl genetik als auch biochemie erklären nicht "uns", sondern eher das "wie" - auf welchen wegen prägen uns äußere soziale verhältnisse, und wie werden diese wiederum von unseren reaktionen darauf geprägt? auch dieser apsekt kommt momentan zwar zugegebenermaßen noch zu kurz, aber für mich waren die letzten monate hauptsächlich von versuchen bestimmt, überhaupt ansatzweise begreifen zu können, was da draußen eigentlich ökonomisch vor sich geht. die anknüpfungspunkte zu den "klassischen" blogthemen sind vielfältig und nicht nur auf den aspekt beschränkt, den der autor oben genannt hat. und sie sollen zukünftig auch - vermutlich in eigenen beiträgen außerhalb der news-reihe - mehr platz finden als bisher.

*

ansonsten ist in diesen tagen kaum mehr drin, als den nachrichten hinterherzuhecheln. und ganz aktuell und auffällig in diesen stunden bei spon sind zb. die folgenden schlagzeilen:
Experten erwarten Erfolg des Konjunkturpakets, Schluß mit den Weltuntergangsszenarien! - ein interview, in dem die ollen (konstruktivistischen) kamellen des sog. "positiven denkens"...

"Wir sollten uns ein neues Denken angewöhnen - wir können alles schaffen, was wir wirklich wollen."

...zusammen mit ungehemmter wachstums- und fortschrittsgläubigkeit unters volk geschmissen werden:

"Es gibt immer noch Millionen Menschen in aufstrebenden Staaten wie Indien und China, die nach mehr Wohlstand streben - die wird auch diese Krise nicht stoppen. Es gibt die Antriebskraft des technischen Fortschritts ..."

ja, das sind auch so ungefähr die einzigen und höchst sinnstiftenden "inhalte", die die propagandamäuler des systems noch zur verfügung haben - selbstbeschiss mittels eigener sedierung, fixierung auf einen objektivistischen wachstumsbegriff sowie die hoffnung auf "die technik". ein großartiges programm, um noch schneller komplett gegen die wand zu fahren.

und sehr interessant auch dieses
interview mit einem fdp-mann, dessen namen man sich nicht merken muss:

(...)"SPIEGEL ONLINE: Warum profitiert von der Wirtschaftskrise ausgerechnet die kapitalistische FDP und nicht die sozialistische Linkspartei?

Zeil: Weil wir - anders als Sie es in Ihrer Frage unterstellen - eben nicht für den ungehemmten Kapitalismus stehen.

SPIEGEL ONLINE: Bisher aber vernahmen wir von der FDP den Ruf nach Deregulierung und mehr Markt ...

Zeil: Ja, aber wir stehen für den dritten Weg zwischen schrankenlosem Kapitalismus und Sozialismus, die soziale Marktwirtschaft. Der Neoliberalismus, der die Grundlagen für die soziale Marktwirtschaft gelegt hat, wird uns den Weg aus der Krise weisen …

SPIEGEL ONLINE: Moment, erleben wir nicht gerade das Scheitern des Neoliberalismus?

Zeil: Nein. Der Neoliberalismus ist eben kein Marktradikalismus, sondern er steht für die soziale Marktwirtschaft. Alles andere ist Geschichtsfälschung, das lasse ich nicht zu. Das sind wir Neoliberalen wie Alfred Müller-Armack, Walter Eucken und Ludwig Erhard schuldig, die der Marktwirtschaft einen staatlichen Ordnungsrahmen beifügten."(...)


auch das ist wirklich großartig in der hinsicht, wie hier erstens - und zwar berechtigt - die fiktion namens "sozialer marktwirtschaft" durchaus unfreiwillig als das kenntlich gemacht wird, was sie tatsächlich im kern immer gewesen ist. und zweitens reicht ein kurzer blick auf die postulate des von hayek, der als geistiger an- und brandstifter des totalitären kapitalismus unter dem label des neoliberalismus gelten muss, aus, um diesen "staatlichen ordnungsrahmen", den der fdpler da im sinn hat, richtig zu
verstehen:

(...)"die ideen von hayek lassen sich komprimieren im folgenden...

"...Zitat aus einem Interview, das von Hayek in Chile gab, um seinen Freund Milton Friedman zu unterstützen, der vom Diktator Pinochet beauftragt worden war, den Neoliberalismus eins zu eins umzusetzen:

`Eine freie Gesellschaft benötigt moralische Bestimmungen, die sich letztendlich darauf zusammenfassen lassen, dass sie Leben erhalten: nicht die Erhaltung aller Leben, weil es notwendig sein kann, individuelles Leben zu opfern, um eine größere Zahl von anderen Leben zu erhalten. Deshalb sind die eigentlichen wirklichen moralischen Regeln diejenigen, die zum *Lebenskalkül* führen: das Privateigentum und der Vertrag."(...)


und der staat muss in dieser perspektive allein darauf reduziert werden, mittels seiner repressionsinstrumente die einzigen "wirklich moralischen regeln" zu garantieren - im interesse der privateigentümer. wenn sich der fdpler hier nicht selbst geschichtsklitterung vorwerfen lassen will, bleibt nur zu konstatieren, dass er bzw. seine partei genau das im sinn hat. ich finde ja, dass hier der begriff "extremistisch" mal wirklich sinn machen würde.

*

solche durchhalteparolen und schönfärbereien wie oben werden mit einer
roubini-prognose nicht unter einem totalcrash bestraft:

"Das US-Bankensystem ist bankrott. Das schreibt der New Yorker Professor und Nationalökonom Nouriel Roubini. Nichts Neues für ihn, schließlich prophezeite er für das US-Finanzsystem Billionenverluste und wurde als geisteskrank hingestellt, während die Märkte noch deutlich besser aussahen als heute. Neu ist das nur für diejenigen, die ständig Lichter am Ende eines Tunnels sehen, die sogenannten Irrlicht-Späher…

Auf einer Investorenkonferenz in Dubai sagte Roubini, dass die Kreditverluste auf 3,6 Billionen Dollar ansteigen werden, hälftig für Banken und Broker und die US-Institutionen. "Wenn das wahr sein sollte, bedeutet das, dass das US-Banksystem effektiv insolvent ist. Es hat ein Grundkapital von 1,4 Billionen Dollar. Das ist eine systemische Bankenkrise", meint Roubini."(...)


was in dieser deutschen übersetzung meines wissens "vergessen" wurde: auch das europäische bankensystem hat er bei der gelegenheit in den gleichen status befördert. und wenn man sich bspw. alleine die aktuellen nachrichten aus
großbritannien anschaut...

(...)"Ausnahmezustand in Großbritannien: Die Anleger fürchten um die Kreditwürdigkeit des Landes. Bankaktien und das britische Pfund waren am Mittwoch im freien Fall. Der Grund: Die Sorgen wachsen, dass das Land nach der Hypothekenbank Northern Rock weitere Banken verstaatlichen muss - und deshalb seine Top-Bonitätsnote verliert."(...)

...und auch die hiesigen aktionen, zombies wie der "hypo real estate" im wochentakt weitere milliarden in den schlund zu werfen, dann kann einen schon mal der eindruck einer systemischen krise überkommen (okay, das war jetzt understatement). die
realität lässt sich jedenfalls so zusammenfassen:

(...)"Trotz staatlicher Hilfen in Höhe von Hunderten Milliarden kämpfen heute nicht nur in den USA und in England, sondern auch im Rest Europas wieder zahlreiche Banken akut um ihr Überleben. In einer zweiten Runde werden neue staatliche Hilfspakete geschnürt. Aber der Finanzspielraum der Staaten ist begrenzt; am Ende sind vielleicht die Zockerbanken gerettet und dafür die Staaten pleite."

*

so ziemlich alle ökonomischen indikatoren befinden sich global in einem sich weiter beschleunigenden freien fall, und die bereits jetzt in vielen staaten wahrnehmbaren auswirkungen dieses falls haben auch vermutlich die londoner "times" zu dieser schlagzeile veranlasst:
World Agenda: riots in Iceland, Latvia and Bulgaria are a sign of things to come:

(...)"The LSE economist Robert Wade – addressing a protest meeting in Reykjavik’s cinema – recently warned that the world was approaching a new tipping point. Starting from March-May 2009, we can expect large-scale civil unrest, he said. “It will be caused by the rise of general awareness throughout Europe, America and Asia that hundreds of millions of people in rich and poor countries are experiencing rapidly falling consumption standards; that the crisis is getting worse not better; and that it has escaped the control of public authorities, national and international.”

Ukraine could be the next to go. The gas pricing deal agreed with Moscow could propel the country towards a serious financial crisis. Russia, too, is looking wobbly. A riot in Vladivostok may have been an omen for things to come. What will happen when the wider economic crisis translates into higher food prices? Or if Gazprom has no choice but to increase domestic gas prices?"(...)


ich hoffe, das ich das nicht übersetzen muss? da werden erste kalte füße sichtbar, und wenn ich nochmal auf die in den letzten news erwähnten militanten proteste in
island verweisen darf, langsam auch zurecht - vielleicht erleben wir hier den ersten sturz einer regierung als krisenfolge:

(...)"Derart heftige Auseinandersetzungen zwischen einer großen Menschenmenge und der Polizei hat die kleine Inselrepublik im Atlantik mit ihren 320.000 Einwohnern seit dem umstrittenen NATO-Beitritt 1949 nicht erlebt. Erstmals zeichnete sich auch ab, dass die seit November immer wieder vor dem Parlament versammelten Demonstranten Erfolg mit ihrer Forderung nach dem Rücktritt des konservativen Ministerpräsidenten Geir Haarde und seiner großen Koalition haben könnten. Der Vizechef der mitregierenden Sozialdemokraten, August Olafur Augustsson, sagte, vorzeitige Neuwahlen im Frühjahr "könnten eine gute Idee sein". Die Regierung verfüge nicht über genug Handlungsspielraum."(...)

wenn sich die leute dann noch mit wahlen abspeisen lassen. noch der hinweis auf einen
tp-artikel zum gleichen thema.

*

als krisenindikator lässt sich so langsam - auch, wenn´s zynisch ist - eine
suizid-chronik führen - ähnlich wie bei den riots kommen die meldungen mittlerweile im wochentakt:

"Tod eines Investors in der Finanzkrise: Der irische Multimillionär Patrick Rocca, ein Freund Bill Clintons, erschoss sich. Er hatte wohl den Ruin vor Augen.(...)

Dem Vater dreier Kinder habe der finanzielle Ruin gedroht, vertraute ein namentlich nicht genannter Freund irischen Zeitungen an. Offenbar habe sich Rocca mit einem Engagement bei der Großbank Anglo Irish verhoben, hieß es weiter. Das Institut war am Freitag durch Verstaatlichung vor dem Kollaps gerettet worden."(...)


*

währenddessen gibt es indizien für das, was ich im letzten jahr bereits beim offenen beginn der krise im herbst befürchtet hatte - das
hauen und stechen des normalen konkurrenzgerangels könnte sich drastisch verschärfen, und zwar nicht nur in den betrieben, um die es hier geht:

(...)"Angesichts der weltweiten Wirtschaftskrise fürchten viele Arbeitnehmer einen verschärften Wettbewerb unter Kollegen. Wie eine internationale Studie des Online-Stellenportals StepStone ergab, glauben mehr als die Hälfte, dass sich die Ellbogenmentalität in deutschen Unternehmen aus Angst vor einem Jobverlust verstärken wird.

Nur 15 Prozent sind der Ansicht, dass die gegenwärtige Krise sie und ihre Kollegen zusammenschweißt. Ein Drittel der Befragten erwartet den Angaben zufolge eine unveränderte Konkurrenzsituation."(...)


teile und herrsche - das prinzip funktioniert bis dato unangetastet. wobei ich das jetzt nicht so überraschend finde - aber trotzdem desillusionierend. denn all die potenziellen mobber werden wohl nicht auf den straßen zu sehen sein:


aufruf zu den märz-demonstrationen gegen die kapitalistische krise
weitere informationen dazu bei
kapitalismuskrise.org


und welches ausmaß die ganze geschichte erreichen kann, worauf ihre dynamik beruht und ob und wie sie mit vergangenen krisen verglichen werden kann - dazu gibt es abschließend meine heutige leseempfehlung - ein langer text des neulich schon in einem interview zitierten marxistischen historikers karl-heinz roth:

"Wir bewegen uns in eine weltgeschichtliche Situation hinein, in der alle Weichen des gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Lebens neu gestellt werden. Für meine Generation wird es nach den Jahren 1967 bis 1973 der zweite Epochenumbruch sein. Alle wichtigen Fakten und Indikatoren der letzten Wochen weisen darauf hin, dass eine Weltwirtschaftskrise begonnen hat, die schon jetzt das Ausmaß der Krise von 1973 und der Zwischenkrisen von 1982 und 1987 überschreitet und sich an die Dimensionen der Weltwirtschaftskrise und der anschließenden Depression von 1929 bis 1940 annähert.

Wie sollen wir auf diese gigantische Herausforderung antworten? Das ist inzwischen zur entscheidenden Frage geworden, und deshalb habe auch ich ein gerade in der Werkstatt befindliches Traktat, in dem ich auf die Kritik an meinen 2005 veröffentlichten Hypothesen über den »Zustand der Welt“ antworten wollte, völlig neu konzipiert."(...)


fand ich sehr anregend zu lesen.

(ps: das folgende fand sich noch bei google-news und gehört zum ersten kommentar unten; als dokumentation eines kleinen matrix-fehlers.


screenshot spon-schlagzeile via g-news
monoma - 23. Jan, 15:28

"vielleicht...

... erleben wir hier den ersten sturz einer regierung als krisenfolge" und schon passiert:

Isländische Regierung will wegen Finanzkrise abdanken

Es ist die erste Regierung, die wegen der Finanzkrise vor dem Aus steht: Islands Premierminister will für Mai Neuwahlen beantragen. Er reagiert auf anhaltende Krawalle der Bevölkerung - und auf den erdrückenden Vorwurf, der Staat bekomme die Probleme der Finanzkrise nicht in den Griff.(...)


kleines detail am rande: es ist natürlich unmöglich und auch unnötig, von allen artikeln im web präventive screenshots zu machen, aber in diesem fall bedauere ich das - bis vor ca. einer viertelstunde stand in der ersten artikelversion bei spon nämlich:

"Es ist das erste Regime..."

und der begriff ist durchaus treffender - da musste wohl dann zur aufrechterhaltung der demokratiesimulation mal wieder ein redakteur "nachbessern", damit niemand auf dumme gedanken kommt.

gespannt bin ich, was jetzt die weitere entwicklung der protestbewegung anbelangt - reicht den leuten die perspektive, sich im frühling neue aufseher wählen zu dürfen?

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