Yurun (Gast) - 23. Mär, 08:49

mehr Nachrichtenekstase

Also ich finde ja "mehr geht nicht" eine etwas merkwürdige Formulierung. Die Weltöffentlichkeit, also jener Teil der Weltbevölkerung die "Weltnachrichten" verfolgt, mag zwar bei allerlei Katastrophen und Revolutionen quasi live dabei sein und "mitfiebern", doch wirklich globale Auswirkungen haben derlei Ereignisse meist nur sehr beschränkt. Dabei sind ja auch die meisten Japaner oder Ägypter genauso Zuschauer wie etwa wir Deutschen, doch was da passiert hat ja noch mittel- bis langfristig auf Auswirkungen auf deren Leben, was wiederum für uns hier nur beschränkt gilt.

Mal ein Beispiel: während der Revolution in Ägypten waren hier alle möglichen Artikel darüber aufgetaucht wie die arabische Welt auf einmal aus dem Schatten ihrer historischen Passivität tritt und man sich nun in Europa verwundert die Augen reiben und feststellen muss: "Huch! Da leben ja wirklich Menschen die was tun und ihr Leben in die Hand nehmen und nicht nur Araber!". Bishin zu Journalistinnen die darüber schreiben es wäre Zeit sich in Berlin einen Ägypter zu angeln und ihn zu küssen und dergleichen. Wie merkwürdig und zugleich erfrischend ein derartiges Erwachen in der hiesigen Wahrnehmung auch sein mag (warum das hier auf so viele so anziehend wirkt ist übrigens keine Kleinigkeit), kaum zeigt das Militär dort seine Krallen sitzen sie Legenden vom demokratieunfähigen Araber, der lieber foltert als abzustimmen, wieder veröffentlichungsbereit in der Schublade. Was ich damit sagen will: zumindest hier ist (noch) nicht wirklich viel passiert und überall sonst wo nur beobachtet wird wohl auch nicht.

Es gibt dabei einen feinen Unterschied zwischen dem was eine Zeitung gerade hat um ihre Seiten zu füllen (bzw. dem was sie ignoriert) und dem was in den Menschen aber auch an deren ökonomischen Austausch an nachhaltigem Wandel geschieht. Diese Sollbruchstellen zwischen tatsächlichem Ereignis und zeitlich begrenzter "Aufregung" sind recht komplex, geht ja das eine mal ins andere über und mal nicht (auf Jahrzehnte verstrahlte Meeresböden vor Japans Küste, siehe die Küste vor La Hague, gespickt mit unzähligen nun jedoch teilweis weggespülten Fischerdörfern, ist übrigens nicht aufregend). Dabei finde ich die derzeitigen Ereignisse sicher so spektakulär wie meist traurig, doch davon abgesehen habe ich noch nicht den Eindruck es würde neben dem normalen Chaos besonders viel tatsächlich passieren, sich also bereits ein Wandel vollziehen der Einschnitte in das Leben von Milliarden hat (abgesehen von den wirklich Betroffenen freilich). Da sich genau das aber abzeichnet wäre ich vorsichtig bereits von "wenn du denkst, mehr geht nicht" zu sprechen.

Ausserdem ist da die Einheit unklar, denn ein mehr im sagen wir materialistischen Sinne von "noch größerer Supergau" oder "noch gewaltigere Bankenkrise" ist etwas anderes als ein mehr der Art "noch größere Revolte" oder "noch gewaltigerer kultureller/psychologischer Wandel". Nur wenn aus Ersterem auch eine Form von Letzterem folgt ist das finde ich eine "Nachricht" im Sinne dieses Blogs und von welcher psychosozialen Basis aus es geschieht, mit welchen Folgen, Aussichten, Fallgruben etc. wenn ich das richtig verstanden habe sozusagen sein Thema (wirklich vorraussagen kann man das freilich nicht, höchstens darauf achten). Daneben auch die Nachrichten darüber was unsere derzeitige Kultur in all ihrer Stagnation so an Fallout und Erbsünden hinterlässt, wozu auch das neueste Ölteppichphantom gehört. Dies nur für jene die denken es ist doch alles prima abgesehen von griechischen Staatsschulden.

Eine Grobheit die der Art der Beobachtung geschuldet ist wäre es dabei nur jenen Wandel zu betrachten, der massenmedial nachrichtenwürdig und damit im psychologischen Sinne fast automatisch traumatisierend ist (naja das oder eben Klatsch). Feinheiten und gerade jene Entwicklungen, die stattfinden auch wenn die dpa nichts zum berichten findet, fallen da unter den Tisch.

Ein paar Beispiele: Willy Brandt wurde im Autrag Reichs nach Spanien geschickt, um im dortigen Bürgerkrieg herauszufinden wie es sich den mit der Sexualität der gegen Franco kämpfenden Jugend bestellt ist, eben weil derartige Fragen für Reich zu einer Beurteilung wichtig waren, nicht aber für Zeitungen und deren Nachrichten von der Kriegsfront. Abgesehen von der späteren Karriere Brandts kein wichtiges Detail, doch eben Ausdruck der Art wie sich schon immer Informationen beschafft werden mussten, um abseits der Hauptkanäle auch Einschätzungen der anderen Art treffen zu können. Auch die wirklich wichtigen Einblicke in die Pariser Kommune waren keine klassischen Nachrichtenfakten, sondern Fakten zur Beschreibung des dort neu hervorbrechenden Lebens und seiner Art sich Ausdruck zu verschaffen. Dabei eben nie nur isoliert irgendwie "politisch", was an sich als Modell die Welt zu betrachten ziemlich pervers ist, sondern von vorne bis hinten menschlich, bishin zum Orgasmus.

Zuletzt noch zum Öl im Golf von Mexiko: in den USA starten gerade die Frühlingsferien, spring break genannt. Die Abteilung Klatsch, Tratsch und Bikinis der amerikanischen Medien dürfte sich also bald an den Stränden Floridas einfinden. Soviel zur letztlichen Fähigkeit das da irgendwie "containen" zu können, wenn das Wasser dort anfängt nach Öl zu stinken. Bei Urlaub und Gesundheit werden auch die Amerikaner schnell hysterisch.

monoma - 23. Mär, 11:18

ich hatte ja...

...im beitrag geschrieben, dass dieser satz einer der ersten war, die mir beim anblick der meldung durch den kopf gingen - das betrachte ich eher als ausdruck eines persönlichen zynischen momentes im sinne von "na klasse, jetzt das auch noch" - und ja, ich musste die letzten wochen und monate immer wieder auch an den ölGAU denken.

was das alles letztlich für auswirkungen auch hier noch haben wird, lässt sich meiner meinung nach erst dann beantworten, wenn die situation gerade in japan mal wirklich deutlich wird - es gibt mehr als genug hinweise auf abwiegelung, vertuschung, lügen und fakes. und es gibt eine größere wahrscheinlichkeit, dass eine breitflächige verstrahlung über die wirkung auf die japanische ökonomie auch global einiges an turbulenzen auslösen wird.

ansonsten beobachte ich an vielen stellen in diesen tagen etwas, was hier ein user in worte fasst - eine form von duck and cover sozusagen. die zwar verständlich ist, aber nichtsdestotrotz eine sackgasse darstellt. ich glaube, auch anhand der eindrücke, die ich vom auftreten der allermeisten leute vom schlage atomkraftbefürworter, peakoilleugner, klimaskeptiker etc. habe, dass "in wirklichkeit" untergründig schon ein breiteres gefühl dafür vorhanden ist, wie absolut grundfalsch "unsere" westliche lebensweise, wie extrem verlogen der normale und banale alltag hier ist. aber die breite reaktion darauf ist dann u.a. dieses kopf-in-den-sand-und-hoffen. und das ist etwas, was zumindest mich meist die wände hochgehen lässt.

die ausführungen zu den "news hinter den news", wie ich das mal nennen will, teile ich. aber momentan haben wir einfach auf der erscheinungsebene derart viel am hals, dass ich dem aus dibversen gründen priorität einräume.

zum golf: mich stört das wort "hysterisch" in diesem zusammenhang. gerade die anwohnerInnen der golfküste waren im letzten jahr zu einem großen teil eher phlegmatisch und von teils dergleichen duck-and-cover-haltung geprägt - im zusammenspiel mit sorgen um jobs in der ölindustrie - , wie sie sich auch anderswo finden lässt. und wie staatliche behörden und private konzerne im falle des falles tricksen können, wenn´s um ihren hals geht, sollte eigentlich bekannt sein. die äusserungen der küstenwache sind so wie dargestellt für mich schon mehr als merkwürdig.
Yurun (Gast) - 23. Mär, 20:34

anmerkung

zum hysterisch: mir ging es da eher um die Badespaßbesucher als die Anwohner, letztere sind dabei weniger von der "duck and cover" Fraktion (siehe unten) als Anhänger massiver Verdrängungsstrategien vergleichbar zu Leuten die direkt unter einem Staudamm wohnen, ihn aber garnicht mehr wahrnehmen. Es ist sehr schwer jemanden auf eine Gefahr aufmerksam zu machen, wenn seine Angstfreiheit darauf beruht ihr gegenüber ignorant zu sein (siehe "Biedermann und die Brandstifter"). Im eigentlichen Sinn hysterisch wird das aber auch dadurch wenn Leute anfangen auf Millionen Dollar Schadenersatz zu klagen, weil sie mit einem Fuß in leicht öligem Wasser standen. Dies dann vor dem Hintergrund der Zustände in Nigeria, wo der Sprit für ihren Floridaflug herstammt. Verklagt wird freilich der Reiseveranstalter oder das Restaurant, in dem man ölige Shrimps aß.

Ich finde ja Nachrichten der Art "ach du Scheiße" kann es nicht genug geben (also nicht die Ereignisse an sich, sondern die Berichterstattung), wer das wie "konsumiert" dann erstmal dahingestellt. Jemand wie fefe beispielsweise gelingt es dabei diese ganze Misere mit Humor und einer Enttarnung der dahinterliegenden Unfähigkeit zu verbinden, was das ganze wesentlich erträglicher zu machen scheint, selbst wenn "die sind einfach zu doof dazu" als Erklärung all dessen wohl nicht der Weisheit letzter Schluss ist. Eine Sache ist dabei aber wichtig: selbst bei der derzeitigen Häufung ist das keine Sättigung an schlechten Nachrichten, kein "was ist hier eigentlich auf einmal los?". Auch wenn ein "jetzt auch das noch" richtig ist, mir als Ökologen sind derartige Ölmengen oder Radionuklide (die man am Meeresboden messen muss!) ein richtiger Horror und da wo weiteres menschliches Leid die Folge ist sowieso. Wir haben es hier aber nicht mit der Götterdämmerung zu tun, sondern mit dem Normalbetrieb. Ein GAU eben, der ausgelegte Störfall phantasieloser Zeitgenossen, den die Realität in allen Weltteilen unversehens und erbarmungslos in einen unvorhergesehenen Super-GAU verwandelt, für den dann keiner verwantwortlich sein will, weil das ja nicht geplant war. Genau das ist dann der Kern des Schreckens, selbst Fukushima und co sind keineswegs Katastrophen im engeren Sinn, sondern der besonders zerstörerische Rand der herrschenden Normalität. Betriebsunfälle, die die beteiligten Unternehmen in ihrer eigenen Logik auch ganz folgerichtig gerne betriebsintern klären wollen. Die Natur ist bei all dem ebenso phantasielos wie wir, aber im Gegensatz zu uns Menschen plant sie nicht.

Gerade den harmlosen Leuten, die verständlicherweise einfach nur ihr Leben leben wollen, muss man solche Nachrichten leider um die Ohren schlagen, dass es nur so schlackert - allerdings ohne Zwang. Nicht weil die böse sind, sondern weil es ein böses Ende haben wird wenn der Wahnsinn dieser "schöner Frühling ohne Sorgen" Mentalität fortbesteht. Unter den herrschenden Bedingungen ist "einfach mein Leben leben und das beste daraus machen" überspitzt ausgedrückt ungefähr so sinnvoll wie ein idyllisches Familienpicknick auf der Wiese vor Fukushima. Schön anzusehen, ohne sichtbare Folgen, zehn Jahre später aber allesamt vom Krebs aufgefressen. In der Folge schürt das vielleicht Verzweiflung und ein Gefühl der Ohnmacht, so viele Antriebe Menschen dazu zu bringen sich eine vernünftigere Art des Zusammenlebens auszudenken und zu praktizieren gibt es aber halt nicht, zumindest für bereits Erwachsene. Da hilft bisweilen nur die rohe Gewalt der Offenbarung, dass die derzeitige Lebensgestaltung dem Überleben unter lebenswerten Bedingungen nicht zuträglich ist und auch ein paar Einkäufe im Ökoladen da wenig ausrichten werden. Das Bewusstsein dafür existiert ja auch insgeheim schon und sei es in Form eines schlechten Gewissens, getriebener Unruhe oder einer Nachrichtenphobie. Je ausgeprägter dies ist, desto größer die Chance es entlädt sich in Kräfte realer Veränderung wenn das timing irgendwann mal stimmt. Je größer die Spannung der Gegenwart ist, also die Lüge zwischen dem geführten Leben und dem gewünschten (meist nicht vorstellbarem) Leben, desto größer die Belohnung wenn diese Spannung sich entlädt und man plötzlich ohne diese Lüge und die mit ihr verbunden Ängste ala Tahrir leben kann. Den meisten wird diese Spannung dabei höchstens als Langeweile bewusst. Am Ende ist das sozusagen der revolutionäre Effekt, egal welches Erscheinungsbild das hat und ob es nun individuell oder gruppendynamisch ist. Die Frage ist dann wie und wodurch sich eine Vorstellung von einem anderen Leben bzw. die Möglichkeit dazu realisiert, als atomisierter Einzelmensch oder umgeben von lauter Leuten die resigniert haben hat man es da wohl schwerer. Erstmal aber muss das normale Leben als falsches Leben enttarnt werden, zusammen mit der Einsicht, dass es in einem falschen Leben halt kein richtiges geben kann und somit "arrangieren" keine Lösung ist.

Übrigens ist das mit dem "duck and cover" im Einzelfall nichtmal falsch, jeder muss selbst einschätzen was er verträgt ohne sich zu schaden, ohne bestehende Handlungsbereitschaft bzw. überhaupt Handlungsfähigkeit wäre das ja quasi die Folge. Wer einmal sensibilsiert genug ist Nachrichten nicht mehr ertragen zu können, der ist insofern er daraus keine selbstgerechte "weiter so mithilfe meiner Ignoranz"-Religion bastelt (scheint mir häufig bei Frauen um die 40, ohne böse sein zu wollen) eigentlich schon gewonnen. Wenn ein Mensch sich durch eine solche Sache in seinem Kern angegriffen sieht, dann ist es eine gesunde Selbstschutzmaßnahme hier mal wegzuschauen. Wer das nicht macht vergiftet sich innerlich und wird auf Dauer zum Arschloch. Wichtig vor allen anderen Dingen ist dabei der Erhalt des Lebenswillens, denn nur wer den hat stellt auch Ansprüche an dieses Leben, wer ihn verliert dem ist schnell alles egal solange er seine Ruhe hat und in seiner Ecke, auf die er sich zurückzieht, nicht belästigt wird. Solche Leute gibt es gerade hier in Ostdeutschland mit haufenweise zerbrochenen Biographien jede Menge, was hier viele Gegenden auch zu einem Eldorado für Schweinereien jener Machart macht, die hier als Nachrichten taugen würden.

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