notiz: "...eine Psychokatastrophe, die es im Gegensatz zu verrückten Rindern und grippekranken Hühnern wohl nie in die Tagesschau bringen wird."

mit den obigen worten kommentiert der leiter eines wirtschafts-nachrichtendienstes die zunahme der - "offiziell" als solche (!) verstandenen - sog. psychischen krankheiten in d-land. im zusammenhang mit den selektierenden praktiken etlicher versicherungsunternehmen hinsichtlich der absicherung gegen berufsunfähigkeit aufgrund psychischer beeinträchtigung nennt der folgende artikel eine schätzung:

(...)"Die Zahl der Bundesbürger, die an behandlungsdürftigen seelischen Erkrankungen leiden, schätzen Experten mittlerweile auf acht Millionen."(...)

ich persönlich halte diese zahl grundsätzlich für zu niedrig angesetzt - wenn Sie sich erstens klarmachen, dass die gezählten "offiziellen" diagnosen in diesem bereich nach teils inhaltlich durchaus unzureichenden diagnostischen modellen gestellt werden, die bspw. die gesamten folgen gesellschaftlich potenziell traumatisierender gewaltzustände noch nicht einmal ansatzweise erfassen können (das liegt u.a. in der bereits seit längerer zeit diskutierten zu engen begrenzung der diagnose der posttraumatischen belastungsstörung, wie sie heute in den diagnostischen katalogen definiert wird, dazu mehr im künftigen traumaschwerpunkt); zweitens dazu berücksichtigen, dass gerade in diesem medizinischen bereich die kriterien für gesund und krank teils auf dem kopf stehen - wenn Sie bspw. aufgrund von mobbing oder stupider schichtarbeit symptome entwickeln und (lohn-)arbeitsunfähig werden, dann mittels klassischer psychiatrischer behandlung mittels psychopharmaka wieder leistungsfähig werden sollten - ist dieses deckeln einer prinzipiell durchaus als gesund (im sinne von symptomen als warnhinweise und im weiteren sinne auch als versuch der selbstregulation zu verstehenden reaktion) zu betrachtenden reaktion auf unzumutbare soziale bedingungen wirklich als "heilung" zu betrachten? eine rhetorische frage.

drittens, und das hängt mit dem obigen punkt zusammen: wie zb. am modell der als-ob-persönlichkeit sehr deutlich zu sehen ist, werden sogar eindeutig schwer psychopathologische zustände überhaupt nicht als solche wahrgenommen, wenn der betroffene mensch es schafft, die "objektiven" aktuellen gesellschaftlichen kriterien für gesundheit zu erfüllen, bei denen die arbeits- und leistungsfähigkeit oder auch das unauffällige funktionieren quasi "naturgemäß" in einem kapitalistischen system an erster stelle steht (und das kriterium von kognitiver intelligenz, die sich bei fast jedem soziopathen finden lässt, gilt ebenfalls per se als kennzeichen von gesundheit). wie hier im blog bereits mehrfach aufgezeigt wurde, können bspw. deutlich antisozial handelnde personen durchaus als "erfolgreiche und tatkräftige" manager (oder auch politiker) durchgehen; und schwer traumatisierte menschen, die ihren posttraumatischen stress zb. in der symptomatik einer arbeitssucht ("worcoholic") ausagieren, werden von einer wahrnehmungsreduzierten sozialen mitwelt für ihre "produktivität" und "leistungsbereitschaft" sogar noch oft gelobt.

viertens kommt ganz banal noch der folgende punkt hinzu:

(...)"Dabei spiegelt diese Zahl vermutlich nur die halbe Wahrheit. Denn Experten schätzen, dass ohnehin nur die Hälfte der behandlungsbedürftigen Menschen auch wirklich professionellen Rat sucht."(...)

was u.a. an der weiterhin vorhandenen aura des irgendwie unheimlichen ebenso liegen dürfte wie an der damit verbundenen gesellschaftlichen stigmatisierung - "du musst nur wollen" bzw. "reiß dich zusammen" sind sätze, die oft genug nicht nur gedacht werden, wenn es um diese art von krankheit geht. wobei ich mich mehr und mehr frage, wie gesund im sinne von empathie- und liebesfähigkeit eigentlich diejenigen tatsächlich sind, die derartiges von sich geben.

und wenn dann noch diejenigen berücksichtigt werden, die aufgrund verschiedenster umstände nicht zur (lohn-)arbeitenden bevölkerung zählen - alte, flüchtlinge, erwerbslose, hausarbeitende frauen - , dann dürfte sich die tatsächliche zahl noch einmal erhöhen. von den kindern und jugendlichen erst gar nicht zu reden:

(...)"Knapp jedes fünfte Kind in Deutschland ist betroffen, jedes zwanzigste Kind gilt als dringend behandlungsbedürftig. Die Rate ist fast so hoch wie bei Erwachsenen."(...)

ich mache immer mal wieder ein kleines gedankenexperiment: stellen Sie sich einmal vor, all diese krankheiten und störungen - die eben in nicht geringer zahl vor allem durch die herrschenden (anti-)sozialen verhältnisse entscheidend mitverursacht werden - würden als sichtbares symptom auch zb. einen deutlichen pickelbefall im gesicht mit sich bringen. wie sähe es wohl im straßenbild der städte aus? eben. und wie sähe wohl die öffentliche reaktion aus, gerade bei berücksichtigung des umgang mit bspw. infektionskrankheiten? das zitat in der überschrift bringt die tatsächliche lage schon ganz gut auf den punkt: wir haben es mit einer situation zu tun, die im falle einer als solche verstandenen epidemie mit zahlen wie den obigen (verursacht von einem mutierten grippevirus zb.) durchaus die wertung "medizinische katastrophensituation" bekommen würde (und zwar zurecht). wie bei so vielen sachverhalten, spielen auch hier wahrnehmungsstörungen und -defekte eine entscheidende und unheilvolle rolle. wahrnehmungsstörungen, die im übrigen bereits selbst als indiz für einige schwere psychophysische störungen gelten können. und nicht nur dieser fakt macht die ganze situation so vertrackt und gefährlich.

*

ausblick: ich hoffe, in der übernächsten woche wieder mehr zeit für die arbeit am blog zu haben. dann wird es zunächst einiges interessante zu den themen autismus und empathie geben, bevor dann der traumaschwerpunkt losgeht. machen Sie´s gut bis dahin.
kandinsky (Gast) - 24. Sep, 21:27

Gesellschaft und "Entwicklung"

Zitat:
"was u.a. an der weiterhin vorhandenen aura des irgendwie unheimlichen ebenso liegen dürfte wie an der damit verbundenen gesellschaftlichen stigmatisierung - "du musst nur wollen" bzw. "reiß dich zusammen" sind sätze, die oft genug nicht nur gedacht werden, wenn es um diese art von krankheit geht. wobei ich mich mehr und mehr frage, wie gesund im sinne von empathie- und liebesfähigkeit eigentlich diejenigen tatsächlich sind, die derartiges von sich geben."

Hallo mo :)

vielleicht ein wenig absurder ausdrücken.
Sagt der Alkoholiker zum Alkoholiker: "He Alter, sauf nicht soviel, ist nicht gut für die Gesundheit.", und nimmt nen kräftigen Schluck aus der Pulle.

Camus hat es noch etwas anders ausgedrückt: "Der Fremde paßt gut in die entfremdete Gesellschaft." Man speist andere mit den Sprüchen ab, mit denen man an sich selbst vorbeiredet.
Allerdings sehe ich hier auch, das sich die entfremdete Gesellschaft noch weiter in Richtung Psycho- und Soziopathisch entwickeln kann. Auf dem "Höhepunkt" einer solchen "Entwicklung" steht wohl wieder mal die Barberei. Vielleicht der letzte Akt der Akte Menschheit, wenn sich nicht genug und genügend Vernunft und Vernünftige finden lassen, die ihren Kopf für die Unvernunft anderer hinhalten und diese Entwicklung hin zum Tode sich entgegenstellen.

Gruß,
Kandinsky

Esther (Gast) - 25. Sep, 11:34

Es als Katastrophe zu sehen ... auf diese Idee bin ich bisher noch nicht gekommen!

Aber ich habe mich schon gefragt, warum ich mit zunehmenden Alter die Gesellschaft als kränker wahrnehme. Diese Zeiten ist eh schon stressig zu hektisch genug. (Ist der Mensch eigentlich für so eine Art Leben, wie wir sie in der westlichen Welt führen überhaupft geschaffen? Ich bezweifle es langsam.) Aber durch die Konfrontation mit Menschen, denen es psychisch nicht so gut geht, wird sie oft noch stressiger.

Durch genetische und soziale Vererbung nehmen die Krankheiten langsam zu - begünstigt von den sozialen Entwicklungen in diesem Land. Was mich allerdings stört ist der Begriff der Psychopathie - der meiner Meinung zu schnell vergeben wird.

Früher wurden Menschen mit Persönlichkeitsstörungen so genannt (die Heinz-Peter Röhr in seinen Büchern anhand von Märchen sehr gut beschreibt) Doch was denkt der normale Mensch bei dem Wort Psycho- oder Soziapath? An etwas das auf einige - aber nicht die Mehrheit von Menschen mit Persönlichkeitsstörungen - zutrifft. Das stört mich sehr. Ebenso wie die Ansicht - die meisten dieser Menschen seien schuldfähig (vor Gericht) - das würde auch bedeuten sie wären es im richtigen Leben. Und genau das denken viele Menschen, die "gesund" sein sollen. Es wäre alles eine Sache des Willens.

Aber was die Schuldfrage vor Gericht angeht - wäre ich eh für ein detailierteres Verfahren. Es müßte geprüft werden, ob der Täter das Unrecht und die Verantwortung seiner Tat erkennen kann. Nicht allgemein, sondern speziell. Ich wäre sogar ganz dafür die Schuldfrage abzuschaffen. Aber das ist ein anderes Thema.

monoma - 25. Sep, 18:38

hallo esther erstmal,

"Ist der Mensch eigentlich für so eine Art Leben, wie wir sie in der westlichen Welt führen überhaupft geschaffen?"

ich bezweifle es inzwischen nicht mehr, sondern sage "nein". und dabei ist für mich die subjektive wahrnehmung meiner selbst und meiner näheren und weiteren mitwelt ausschlaggebend. wir sind frontal auf dem weg gegen eine sehr, sehr harte mauer. und davor werden uns auch keine mutationen retten (in einem gewissen sinne lassen sich aus meiner sicht bestimmte der hier im blog thematisierten zustände als mutationen zur selbstrettung begreifen.)

zur justiz haben wir vermutlich eine ähnliche meinung (dazu gibt´s hier etliche beiträge).

und den psycho- bzw. soziopathiebegriff versuche ich hier, anders zu begreifen bzw. ihn zu erweitern - auch dazu verweise ich auf die entsprechenden beiträge.
Claudia (Gast) - 1. Okt, 16:55

Es ist tatsächlich eine Katastrophe, wenn man sich die Zahlen der kranken Menschen ansieht. Aber auch die Vorstufe davon ist traurig. Es ist traurig, wie wenig wir wissen über unser eigenes seelische Wohbefinden. Wie wenig wir in der Lage sind, Warnzeichen bei uns oder anderen wahrzunehmen. Wie wenig Rituale es in unserer Kultur noch gibt, die in wichtigen Lebenssituationen Stütze für die Seele gibt.
Es ist traurig, dass wir über uns selbst so wenig wissen.

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