assoziation: nachträge zur "als-ob-persönlichkeit"

beim wiederholten lesen der letzten beiden beiträge geht es mir so, dass mir selbst viele fragen, ergänzungen und weitergehende gedanken in den kopf kommen - die sollen hier unsortiert gesammelt werden.

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zunächst ein paar interessante links: ich hatte u.a. geschrieben, dass es innerhalb der klassifikationen der orthodoxen psychiatrie keine diagnose mit dem namen "als-ob" gibt - aber es scheint augenscheinlich zumindest psychiatrisch tätige zu geben, die das modell der simulativen persönlichkeit trotzdem nutzen, wie ich der folgenden, bereits etwas älteren prozeßreportage entnehme:

"Zu den Indizien passt die Persönlichkeit des Angeklagten. Ein psychiatrisches Gutachten bescheinigt ihm eine »Als-ob-Persönlichkeit«, die immense Unsicherheiten und Ängste mit der Fassade des Machers, des Herrn-im-Haus kaschiere.
Kontrolle über die Umgebung sei Crantz das Wichtigste, mit Reichtum und Statussymbolen versuche er sein schwaches Ego zu stabilisieren. Gerate sein glanzvolles Selbstbild aber in Konflikt mit der Realität, so täte er »vieles, wenn nicht gar alles dafür«, die schöne Illusion zu retten."


erinnert doch irgendwie an unseren mr. ripley, oder? der begriff "schwaches ego" hingegen lässt sich imo höchstens in metaphorischer bedeutung verwenden.

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unter dem titel "Die Als-Ob-Strategie - Hochstapeln für Anfänger und Schüchterne" findet sich ein beispiel dafür, wie mittels simulationen im berufsleben getrickst und getäuscht wird (ironischerweise spielt dieses geschichte auch noch innerhalb einer versammlung von professionell psychologisch tätigen). ich halte das beschriebene inhaltlich nicht von vorneherein für völlig fragwürdig - schließlich nutzen wir alle in bestimmten situationen simulative zustände - ,aber bemerkenswert und bezeichnend finde ich, dass bereits in der überschrift völlig ungeniert der - ja, bewußte betrug an den mitmenschen als quasi-erfolgsstrategie propagiert wird. auch an solchen beispielen wird sehr gut deutlich, dass die grenzen zwischen als "legal" und "illegal" betrachteten ökonomischen aktivitäten eine sehr fließende ist.

und gerade die am ende des artikles genannten sechs bausteine erfordern eine gründliche betrachtung und machen die versteckten gefahren deutlich, die im völlig unkritischen und geradezu begeisterten hantieren mit simulationen innerhalb sozialer zusammenhänge lauern:

"Niemand kann Ihnen von außen ansehen, wie kompetent sie sind. Jedes Urteil über Sie wird allein aufgrund Ihres Aussehens und Ihres sichtbaren Verhaltens gefällt. Wenn Sie auftreten, als ob Sie kompetent sind, dann gelten Sie für die Zuschauer auch als kompetent. Aus dem Schein wird Sein."

das ist leider eine oft zutreffende beobachtung - aber woran liegt das? ich würde hier sagen, dass ein derartiger zustand ganz zwangsläufig auf mehr oder weniger verbreitete wahrnehmungsdefekte hindeutet - wie jemand gestylt ist, ob jemand seriös wirkt oder gar mittels einer uniform wirkung erzielt (kennen Sie eigentlich den hauptmann von köpenick?) - all diese äußerlichkeiten lassen keinesfalls automatisch rückschlüsse auf die reale persönlichkeit zu - aber das gilt in alle richtungen (das als anmerkung für diejenigen, die sich z.b. darüber aufregen, dass bestimmte eher "linke" vorurteile mit uniformen und yuppie-klamotten automatisch immer negatives assoziieren - ich halte solche vorurteile real meistens für zutreffender als die umgedrehten varianten, in denen abschätzig über "schmuddelige" aller art geurteilt wird.

all das deutet auf wahrnehmungs- und in der folge auch kommunikationsstörungen hin. vorurteile sind bilder des objektivistischen bewußtseins, bei denen es mehr oder weniger zufällig bleibt, ob sie mit der realität übereinstimmen oder nicht. eine als-ob-strategie wie die hier beschriebene macht sich derartige bilder von gesellschaftlich verbreiteter relevanz zu nutze und konstruiert daraus ein eigenes schein-bild. entscheidend ist aber, dass derlei nicht klappen kann ohne die (un-)freiwillige mithilfe derjenigen, die in die irre geführt werden sollen. ob also aus dem schein immer das sein werden kann, liegt auch an uns allen, bzw. an der qualität unserer wahrnehmungsfähigkeiten.

"Oft zitiert und doch immer wieder wichtig: Ihre Wirkung beruht zu 55 Prozent auf Körpersprache, zu 38 Prozent auf der Stimme und nur zu 7 Prozent auf dem Inhalt des Gesagten. Den Auftritt zu proben ist daher wichtiger als das sorgfältig ausgearbeitete Manuskript. Allerdings: wo nur heiße Luft verströmt wird, nutzt auch der beste Auftritt nichts."

die wichtigkeit der körperlichen präsenz - wenn sie denn real vorhanden ist, was z.b. bei videokonferenzen schon nur noch eingeschränkt der fall ist - kann die als-ob-strategie zwar bis zu einem gewissen punkt berücksichtigen - aber eben nicht total, weil es mehrere ebenen von körpersprache gibt, von denen wenigstens eine völlig am objektivistischen bewusstsein vorbeigeht - die kommunikation von körper zu körper (nein, sex ist hier nicht gemeint) funktioniert auf mindestens einer ebene unterhalb jeder bewussten wahrnehmungsschwelle (einzelheiten werde ich jetzt aus zeitgründen nicht anführen, aber mir sind entsprechende forschungen bekannt), und aus dieser ebene stammen aller wahrscheinlichkeit nach auch die in den gestrigen beiträgen erwähnten möglichen irritationen von authentisch kommunizierenden in der konfrontation mit simulativer kommunikation.
was bedeutet das jetzt vor dem hintergrund des obigen? wenn als-ob-strategien erfolgreich täuschen sollen, müssen sie entweder die wahrnehmung der gerade erwähnten ebene beim wahrnehmenden irritieren oder aber in irgendeiner art und weise für irrelevant erklären. auch diese vorhaben funktionieren umso besser, je mehr die wahrnehmungsfähigkeiten bereits geschädigt sind und simulationen eine gewisse art von normalität darstellen.


"Feilen Sie an Ihrem Auftreten, kopieren Sie aber nicht bis aufs I-Tüpfelchen irgendein berühmtes Vorbild, sondern überlegen Sie: Wie würden Sie auftreten, wenn Sie so locker, selbstsicher usw. wie Ihr Vorbild wären. Aufgesetzte Forschheit wirkt unecht, Ihr Auftreten muß also zu Ihnen passen. Am sichersten fahren Sie, wenn Sie ihre Wirkung ein paar mal im stillen Kämmerlein erproben und dann guten Freunden vorführen, mit der Bitte um kritische Hinweise."

im prinzip nichts weiter als bewährte leitlinien für erfolgreiche schauspieler. ist im theaterkontext auch nichts gegen einzuwenden - aber innerhalb realer sozialer zusammenhänge?

"Vor Ihrem Auftritt sollten Sie keinesfalls grübeln „Oh Gott, wenn nun alles schief geht“. Gehen Sie die Sache vielmehr spielerisch an. Sie sind Schauspieler(in) und spielen sich selbst. Sie gehen in einer Rolle auf und die Reaktionen der anderen - egal, ob freundlich, mißmutig oder gar empört - gehören dazu. Sie ziehen Ihren Auftritt durch und werden sich von den Leuten nicht aus dem Konzept bringen lassen. Es ist natürlich gut, wenn Sie für unterschiedliche Reaktionen Ihres Publikums passende Varianten Ihres Verhaltens vorbereitet haben. Auf keinen Fall werden Sie aber zwischendurch die Sache hinschmeißen, wenn es nicht so laufen sollte, wie Sie gedacht haben. Solange Sie Selbstsicherheit zeigen - so bin ich, ich kann nicht anders - werden die Leute Sie respektieren. Nur wer aus der Rolle fällt, fällt beim Publikum durch."

wie gesagt, innerhalb von theater und film - wo alle wissen (sollten), dass es hier um die produktion von möglichst überzeugenden fiktionen geht, und das publikum dafür bezahlt, sich mit simulierten realitäten die zeit zu vertreiben - ist gegen derartige ratschläge nichts einzuwenden. warum sollte aber jemand bspw. in beruf und arbeitswelt (wo sich ja, wenn auch mit glücklicherweise abnehmender tendenz, für viele menschen immer noch ein haupteil des sozialen lebens abspielt) dazu gezwungen sein, in unterschiedlich großem maße rollenspiele zu veranstalten? das lässt u.a. eigentlich nur den schluß zu, dass die authentische menschlichkeit mit all ihrer "unperfektheit" und ihren "schwächen" an bestimmten orten nicht nur nicht erwünscht ist, sondern sogar als störend angesehen wird. wir haben uns an diese zweiteilung zwischen den wechselnden identitäten "beruflich" und "privat" schon derart gewöhnt, dass die sich darin eigentlich ausdrückende zumutung - nicht nur die arbeitskraft, sondern auch potenziell erfüllt sein könnende authentische menschliche lebenszeit wird verkauft, zum bloßen materiellen überleben - nicht (mehr) als solche wahrnehmen. die kapitalistische ökonomie (auch in ihrer "staatssozialistischen", bereits gescheiterten variante) ist ein vampiristisches system. und als-ob-simulationen sind davon sowohl ausdruck als auch mittel zum zweck.

den nächsten punkt überspringe ich, da nicht grundsätzlich verschieden zum obigen. und dann:

"Was den Inhalt Ihres Auftritts betrifft: Bereiten Sie rund zwanzig Prozent mehr Inhalt vor, als Sie benötigen. Es wirkt besonders souverän, wenn Sie bei passender Gelegenheit (zum Beispiel einer Diskussionsfrage) zeigen können, daß Sie noch weitere Kenntnisse abrufbereit im Hinterkopf haben. Daraus schließen die Zuhörer, daß nicht nur Ihr Auftritt, sondern ihre ganze Person auf Kompetenz beruht."

wie täusche ich meine mitmenschen am besten? vielleicht war ich gestern mit meinen überlegungen zur moral doch etwas voreilig - selbst als verhaltenskrücke wäre mir eine moral, die derartiges verhalten sanktioniert, durchaus willkommen.
der eigentliche hammer jedoch kommt ganz zum schluß:

"Die Als-ob-Strategie eignet sich nicht nur für öffentliche Reden. Mit der gleichen Methode können Sie auch andere ungewohnte Situationen meistern, zum Beispiel Bewerbungsgespräche, Telefonate mit wichtigen Personen, Verhandlungen, Verkaufsgespräche, aber auch Flirts, Liebeserklärungen und Heiratsanträge."

es ist eine sache, die existenz und offensichtlich breite anwendung von simulationen aller art in der sog. öffentlichen sphäre von ökonomie, politik und auch medien zu propagieren und zu tolerieren - ich selbst bin mir durchaus darüber klar, dass sich in der momentanen situation dieser zustand nicht von heute auf morgen ändern kann, und als-ob-strategien für menschen in diesen strukturen in bestimmten umständen womöglich existenziell wichtig sein können, nicht im sinne von karriereerfolgen, sondern zur bewahrung letzter reste von selbstachtung und würde. bei der gefährlichkeit dieser strukturen wünsche ich ihnen jedoch ein möglichst baldiges ende, und jegliche gesellschaftlichen alternativmodelle werden sich im verhältnis von authentizität und simulation im menschlichen leben grundlegend von der heutigen situation unterscheiden müssen, in denen simulationen auch mehr und mehr bereiche erfassen oder gar beginnen zu dominieren, in denen sie in dieser position absolut nichts zu suchen haben!

so eben auch in den zonen sozialer zwischenmenschlicher beziehungen, die hier unter "Flirts, Liebeserklärungen und Heiratsanträgen" umschrieben werden. hallo?!? ich habe mir echt die augen gerieben beim lesen - hier wird offen auch zum betrug innerhalb von partner- und freundschaften geraten, die strategien aus der kapitalistischen arbeitswelt umstandslos in gerade die sphären übertragen, in denen derlei simulationen bei dominanz nun zwangsläufig für ernste schwierigkeiten sorgen müssen. das macht eigentlich nur sinn für solche menschen, bei denen die authentischen fähigkeiten bereits eh geschädigt sind. und damit beißt sich die katze in ihren virtuellen schwanz.

mehr wahrscheinlich demnächst - das, was sich hinter dem modell der "als-ob-persönlichkeit" alles so verbirgt, stellt meiner meinung nach die größte gefahr für das menschliche leben - in den formen, die wir zumindest bis jetzt noch als lebenswert betrachten - dar, die überhaupt vorstellbar ist - oder wie finden Sie die aussicht darauf, als entkernte puppe ein bereitwilliges rädchen im getriebe zu sein? eine maske, die sich mit einem virtuellen surrogatleben abspeisen lässt?

edit am 30.04.: unregelmäßig schaue ich auf vielen der in der sidebar verlinkten seiten vorbei, und manchmal gibt es da so interessantes zu entdecken wie diesen thread im öffentlich zugänglichen forenteil der borderline-community: "Woher weiss ich, dass ich eine Identität habe?" eine sehr berechtigte und nötige frage, die direkt auf all jenes verweist, was in den beiträgen zur "als-ob-persönlichkeit" thematisiert wurde. bezeichnend finde ich dabei, dass - bisher - niemand der diskutierenden den körper als notwendige basis jeder - authentischen - identität angesprochen hat (nein, ich bin dort nicht (mehr) registriert und habe bisher auch nicht die absicht, mich im thread zu beteiligen).

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