notiz: der "pannwitzblick"...

...dessen geschichte am ende dieses beitrages gestern kurz skizziert wurde, ist heutzutage womöglich mit den technischen errungenschaften unserer zeit verwoben, speziell mit den allgegenwärtigen kameraobjektiven, die sich mittlerweile in enormer dichte an allen möglichen orten finden lassen - multifunktionalität, wie z.b. bei handys, rulez nicht immer okay, schon gar nicht, wenn damit derartiges angestellt wird:

"Nachts in einer Nürnberger Jugendherberge, so schildert es die Leipziger Staatsanwaltschaft, schlichen zwei 15-Jährige sich ans Bett eines schlafenden Mitschülers. Der eine hob die Decke hoch, entzündete den Strahl einer Deospraydose per Feuerzeug und verbrannte dem Opfer die Schienbeine. Der andere Jugendliche drehte davon ein Video.

Wie die "Dresdner Morgenpost" berichtete, erlitt das Opfer großflächige Brandwunden ersten und zweiten Grades. Aus Angst vor weiterer Gewalt habe der Schüler aber tagelang geschwiegen, seine Verletzungen verborgen und sich erst seiner Mutter anvertraut, als die Schmerzen unerträglich wurden. Die Mutter erstattete sofort Anzeige."


zynisch könnte man(n) dabei werden, und das ganze als exzentrische version von "jugend forscht" ansehen - "wir haben damals doch auch ameisen und frösche getriezt" - aber ich glaube, das eine derartige verharmlosung am kern des problems vorbeigeht (was tierquälerei jetzt weder verharmlosen noch relativieren soll. aber um die geht es jetzt nicht).
der obige artikel macht zum einen klar, dass nun das sog. "happy slapping" (was ein name!) auch in diesem land angekommen ist. zum anderen aber: versuchen Sie einmal, sich in einen zustand hineinzuversetzen, in dem Sie - ganz geplant und mit kalkül - einen anderen menschen vorsätzlich verletzen, UND das damit ausgelöste leid auch noch per objektiver aufzeichnung dokumentieren und per elektronischer medieninfrastruktur der restwelt zur verfügung stellen. in der phantasie ist imo viel möglich und erlaubt und teils sogar nötig, um gewisse dinge besser verstehen zu können. also, bitte keine hemmungen. nun? wie würden Sie diesen zustand beschreiben? was ist nötig, um sich zu derartigem tun bewegen zu lassen? ich erwarte hier keine öffentlichen antworten - betrachten Sie´s als experiment mit Ihren eigenen wahrnehmungsoptionen.

aus dem gerade verlinkten tp-artikel noch dieses:

"Schon jetzt sind Menschen, zumeist Jugendliche, durch die Schläge für die kurzen Videofilme verletzt worden. Zwei Jugendliche schossen einer 17-Jährigen in die Beine und nahmen das auf. Im Mai wurden zwei britische Jugendliche verurteilt, weil sie einen Mann, der in einem Busbahnhof schlief, angezündet hatten. Auch das filmten sie mit der Handykamera und präsentierten sich als lachende und scherzende Täter. Das Opfer überlebte mit schweren Verbrennungen. Der neueste Fall einer gefilmten Vergewaltigung zeigt womöglich, dass brutales Verhalten durch Live-Aufnahmen gefördert wird, weil Schranken fallen, wenn die Täter als Schauspieler auftreten und in die Rolle des Bösen für den Blick der imaginierten Zuschauer schlüpfen."

wer sich noch an die wehrmachtsaustellung erinnert, wird vielleicht noch die lachenden deutschen soldaten im gedächtnis haben , die auf diversen bildern z.b. mit gerade hingerichteten partisanen posierten. womöglich hätten die, bei adäquater technischer ausstattung, ähnliches produziert. von daher also ist das phänomen an sich nicht ganz so neu. und ebenso die geistige bzw. psychophysische verfassung nicht, die sich in dieser kälte manifestiert. was aber keinesfalls beruhigen sollte - ganz im gegenteil.

diese gesellschaft bekommt die kinder, die sie verdient. letztlich.

*

aber was sollte auch anderes zu erwarten sein, wenn sich der pannwitzblick ständig und ständig weiter fortpflanzt. was sich z.b. auch an den verschiedenen sog. unwörtern des jahres ablesen lässt (eine kleine auswahl):
  • 1997 "Wohlstandsmüll"
  • 1998 "sozialverträgliches Frühableben"
  • 1999 "Kollateralschaden"
  • 2004 "Humankapital"
gemeint sind Sie, du und ich - wenn das humankapital durch kollateralschäden nicht mehr fitmobilleistungsfähig ist, wird von gewissen leuten also das sozialverträgliche frühableben gefordert, damit es möglichst nicht zur entstehung von wohlstandsmüll kommt. dr. pannwitz mit seinem eisigen blick scheint nicht nur an einer stelle immer noch quicklebendig zu sein.
Daniel Kulla - 14. Aug, 14:17

Das bleibt auch eines der größten Löcher in der kapitalaufhebenden Utopie: die Antastbarkeitsgrenze in der Art des jüdischen Tötungsverbots, irgendein plausibler Maßstab oder eine brauchbare Handlungsanleitung, die die Logik der natürlichen Auslese, der Brauchbarkeit für die Sippe und die kapitalistische Verwertbarkeit überwinden könnten. Gegenwärtig scheinen reihenweise solche Intellektuellen, die an dieses Problem stoßen, vor Schreck zu den Liberalen überzulaufen oder gleich ins Christentum, wo sie ein "Menschenbild" verorten, eine "Achtung des Individuums". Das ist verständlich, hilft aber im Sinne einer Aussicht auf bessere Zeiten leider auch nicht weiter.

monoma - 15. Aug, 14:07

ja...

...wobei sich dieses/dieser (?) blog eigentlich mit zumindest einer essentiellen grundlage von dem beschäftigt, was du als "natürlich auslese" oder auch kapitalistische verwertbarkeit bezeichnest.

ein verhalten, welches sich in derlei formen bemerkbar macht, fällt nicht vom himmel und entsteht auch nicht in irgendwelchen nebulösen sphären und fährt dann in die menschen ein - es spricht eher einiges dafür, solche wahrnehmungsmodi, wie sie zb. der pannwitzblick symbolisiert, im kontext von seinszuständen des menschlichen körpers, besonders von gehirn und nervensystem, zu betrachten. das könnte imo weiterführen als die doch etwas ausgeleierte kritik an kapitalistischen strukturen - die ist deswg. in vielen bereichen nicht falsch, führt aber imo nicht weit genug. oder anders: sie ist zuwenig radikal. was bekanntlich bedeutet, an die wurzel zu gehen.

gruß
mo
Daniel Kulla - 28. Aug, 23:08

Auslese, Sippe und Verwertung waren ja auch eher als exemplarische Aufzählung gedacht, um die Problemkreise Biologie, Kollektiv und Kapitalismus anzutippen. Ich gehöre nicht zu jenen, die die Kapitalismuskritik für allmächtig wahr halten.

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