assoziation: anmerkungen zum ganzen komplex schule/heime, kirche, gewalt gegen kinder etc. (2)

zum ersten teil.

*

2. die arten und formen der gewalt gegen kinder und jugendliche, die gerade besonders innerhalb institutioneller rahmen sichtbar werden, stellen meiner meinung nach keinesfalls alleine ein problem der katholischen kirche dar; andererseits ist es auch nicht zufällig, dass sich gerade diese sekte international mit derart verbreiteten gewaltstrukturen innerhalb der eigenen reihen konfrontiert sieht. das sich aktuell inzwischen mindestens auch eine
nichtkonfessionelle, ja sogar wg. ihres reformpädagogischen ansatzes ausgezeichnete "eliteschule" mit ihrer innerstrukturellen gewalt beschäftigen muss, unterstreicht allerdings nachdrücklich, dass hier der zipfel von etwas gelüftet worden ist, was - eigentlich schon lange erkennbar - nicht nur diese gesellschaft hier in ihrem umgang mit kindern und jugendlichen seit jahrhunderten tiefgreifend und destruktiv prägt.

ich fürchte, das, was wir gerade sehen müssen, ist eine späte ausdrucksform dessen, was bspw. alice miller seit jahrzehnten beschreibt und lloyd deMause in der extremsten erscheinungsform als
infantizid bezeichnet. und ich glaube, dass wir hier sozusagen "nur" das institutionelle komplementär zu all den fällen von schwerer bis tödlicher gewalt und vernachlässigung gegen kinder sehen, die in den letzten jahren unter namen wie kevin, jessica und zu vielen anderen auch hier im blog immer wieder thema waren. die zu starke konzentration auf die katholische kirche alleine - auch, wenn dieser verein völlig berechtigt im kreuzfeuer steht - birgt durchaus die gefahr, dass sich die restgesellschaft hier selbst entlastet. etwas, was wir im ureigensten interesse nicht durchgehen lassen dürfen.

3. wer sich schon mal näher mit den (historischen) formen militärischen drills beschäftigt hat (empfehlenswert hierzu immer noch die "männerphantasien" von theweleit, siehe literaturliste), wird zwischen einigen der jetzt bekannt gewordenen
praktiken besonders aus religiösen heimen und dem umgang gedrillter männergruppen untereinander durchaus gemeinsamkeiten erkennen können:

(...) "So berichtete ein Opfer, in den 60er-Jahren seien Übergriffe bis hin zur Prügelstrafe "tägliche Praxis" gewesen. Diese Übergriffe seien "vollkommen offen praktiziert" worden. Ein anderer Ex-Schüler bezeichnete die früheren Verhältnisse in der Schule als "absoluten Terror". Im Schlafsaal habe es Ohrfeigen für alle Schüler gegeben als Strafe dafür, dass zuvor einer von ihnen etwas gesagt habe. Eine andere Methode sei gewesen, zwei Nachtkästchen zusammenzurücken und zwei Schüler sich daraufstellen zu lassen, die sich gegenseitig ohrfeigen mussten. Wer zuerst herunterfiel, hatte verloren. Andere berichteten von Stockschlägen auf den Rücken, Kopfnüssen und Schlägen mit der flachen Hand." (...)

das gegenseitig-demütigen lassen, die bestrafung aller für das "vergehen" eines einzelnen, der ständige - offene - ein- und übergriff auf die psychophyische unversehrtheit - all das sind genau die gleichen techniken, mittels derer rekruten bis heute in vielen armeen zu soldaten verwandelt werden sollen. drill bedeutet im prinzip nichts weiter als ein set von ausgesuchten an- und übergriffen sowie kontrolliert-impulsiven demütigungen, mittels derer traumatische effekte erzielt werden, die dann von der jeweiligen institution benutzt werden können, um die gebrochene persönlichkeit in ihrem sinne neu zusammenzusetzen. in einer kaum zu übertreffenden klarheit hat das stanley kubrick in der quälend langen ersten stunde seines films "full metal jacket" am beispiel der (authentischen) nachstellung des drills bei den us-marines exemplarisch vorgeführt. man könnte auch sagen: eine schockstrategie für individuen. im rahmen der katholischen kirche mit dem vermutlichen ziel, "gottesfürchtige, anständige unddemütige" menschen zu produzieren - also von zwängen und ängsten geplagte, traumatisierte, lenkbare und autoritätshörige untertanen.

die geschilderten praktiken erinnern nicht zufällig auch an die sporadisch öffentlich werdenden "rituale" von bundeswehrrekruten bzw. ihren unmittelbaren vorgesetzten, und sie erinnern gleichfalls nicht zufällig an die zustände in einer anderen - erzstaatlichen - institution, nämlich
gefängnisse:

(...) "Doch insbesondere für Jugendliche sei die Zeit im Gefängnis hart. "Sie müssen sich behaupten, sonst gehen sie unter", sagt der Psychologe. Jugendliche versuchten, Macht über Schwächere auszuüben, so bildeten sich Hierarchien. "Sprichwörtlich" sei es, jemanden zu zwingen, den Kopf in die Kloschüssel zu stecken.

Auch "Abzocke" sei üblich: Gefangene drohen demnach anderen damit, dass sie etwas "auf die Schnauze" bekommen, wenn sie etwa keinen Tabak abgäben oder sich weigerten, "Dienstleistungen" auszuüben, wie beispielsweise die Zelle zu putzen. All das gehöre zur Subkultur. Auch Vergewaltigungen seien keine Einzelfälle." (...)


kurz: es gibt natürlich einige, eher formale und oberflächliche unterschiede zwischen (kirchlichen) heimen, kasernen und knästen - aber ihre strukturellen gemeinsamkeiten sind schon bei einem kurzen blick unübersehbar, und es sind nichts anderes als die gemeinsamkeiten
totaler institutionen:

"Neben Strafanstalten und Untersuchungshaftanstalten rechnet man dazu auch psychiatrische Anstalten, Kasernen, Arbeitslager, Internate, Schiffe, Altersheime etc. (...)

Eine totale Institution weist nach Goffman folgende Merkmale auf:

1. Totale Institutionen sind allumfassend. Das Leben aller Mitglieder findet nur an dieser einzigen Stelle statt und sie sind einer einzigen zentralen Autorität unterworfen.
2. Die Mitglieder der Institution führen ihre alltägliche Arbeit in unmittelbarer (formeller) Gesellschaft und (informaler) Gemeinschaft ihrer Schicksalsgefährten aus.
3. Alle Tätigkeiten und sonstigen Lebensäußerungen sind exakt geplant und ihre Abfolge wird durch explizite Regeln und durch einen Stab von Funktionären vorgeschrieben.
4. Die verschiedenen Tätigkeiten und Lebensäußerungen sind in einem einzigen rationalen Plan vereinigt, der dazu dient, die offiziellen Ziele der Institution zu erreichen.

Zu ergänzen ist dies noch um einen weiteren 5. Punkt, den Goffman in seiner Aufzählung zunächst nicht nennt, dann aber im weiteren Verlauf seiner Erörterungen als "zentrales Faktum" totaler Institutionen bezeichnet. Das Funktionieren der totalen Institution erfordert die Handhabung einer Reihe von menschlichen Bedürfnissen durch die bürokratische Organisation ganzer Gruppen von Menschen, aus der automatisch eine Trennung zwischen Verwaltern (dem Personal) und Verwalteten (den Insassen) entsteht. (...)

Goffman hat den Begriff idealtypisch gebraucht. Er hat das Konstrukt "totale Institution" an der Gefängnisähnlichkeit festgemacht. Der eigentliche Witz der Begriffsbildung besteht darin, dass man die von Goffman am Beispiel der Gefängnisse herausgearbeiteten Merkmale auch an anderen sozialen Institutionen nachweisen kann, die auf den ersten Blick wenig oder gar nichts mit Gefängnissen gemein haben (Psychiatrische Anstalten, offene Anstalten, Schiffe, Schulen, ja sogar Familien). Dieser Blickwinkel gestattet es, gerade an den als normal geltenden Institutionen das Gefängnisartige zu erkennen." (...)


die hinzunahme von familien mag zuerst befremdlich erscheinen, aber wenn man sich die abhängigkeiten von kindern gerade in dysfunktionalen familien mit gewaltstrukturen betrachtet, befinden sie sich durchaus im status eines insassen in einer totalen institution. auch der entführer der zur traurigen berühmtheit gewordenen natascha kampusch hat in gewisser hinsicht speziell für sie das szenario einer totalen institution konstruiert bzw. sich selbst in der rolle installiert.

totale institutionen werden einerseits für bestrafung und abschreckung verwendet, andererseits dienen sie auch der kontrolle, korrektur, erziehung und regelmässig auch der elitebildung. sie stellen unverzichtbare elemente aller systeme dar, die auf struktureller gewalt und gesellschaftlichen hierarchien beruhen, arbeiten dafür zwangsweise wie dargestellt mit gewalttätigen ein- und übergriffen auf die psychophysis der ihnen ausgelieferten und sind vor allem als wahrhaft rechtsfreie räume anzusehen - die schlimmsten, die überhaupt vorstellbar sind (auch folterkeller und vernichtungslager zählen dazu). und sie sind wahre brutstätten für gewalt in allen formen, und zwar nicht als ausnahme, sondern als regel. sie funktionieren mittels mechanismen systematischer traumatisierung - kurz gesagt, sind sie in ihren bösartigsten formen ein
psychotischer kosmos.

totale institutionen können sich, gerade in ihren relativ "zivilen" formen, wie schulen, altenheime, psychiatrischen kliniken etc. auch durchaus wandeln, d.h. je mehr transparenz und offenheit vorhanden ist, desto mehr kann das destruktive potenzial entschärft werden - allerdings verschwindet es niemals völlig, solange der strukturelle kern vorhanden ist, und kann bei anderen rahmenbedingungen auch wieder auftreten - interessanterweise können dazu auch umstrukturierungen gehören, die bspw. als privatisierung auftreten, hier dargestellt am beispiel der institutionalisierten
psychiatrie:

(...) "Halts Maul", pflaumt der Stationsleiter den Patienten an. Als der psychisch kranke Mann nicht reagiert, sprüht er ihm Pflegeschaum - eigentlich zur Reinigung des Genitalbereichs gedacht - in den Mund. Was wie Szenen aus einer Neuverfilmung von "Einer flog übers Kuckucksnest" anmutet, spielte sich bis vor kurzem in einer der größten psychiatrischen Privatkliniken in Europa, dem Klinikum Wahrendorff bei Hannover ab.

Bekannt wurden die Praktiken auf der Station AST 2, einer geschlossenen Akutstation für Menschen ab 55, als Mitarbeiter anderer Bereiche dorthin versetzt wurden - und vor Entsetzen über die Zustände schleunigst wieder weg wollten. Nach ihren Berichten flößte Klaus W.*, seit 2004 Stationsleiter, schlafenden Patienten Flüssigkeit ein. Gesundheitliche Probleme, die bei einer Patientin daraufhin auftraten, kommentierte er lapidar, sie habe sich "verschluckt" und gehe deshalb "kaputt".

Andere zwang er unter Polizeigriff zur Einnahme von Medikamenten. Und auch die Körperpflege war für "lästige" Patienten kein Vergnügen: Sie wurden von Kopf bis Fuß mit Pflegeschaum eingesprüht, der jedoch nicht abgewaschen, sondern nur mit einem trockenen Tuch abgewischt wurde. Untergebene, die sein Verhalten kritisierten, soll er mit Druck und Drohungen zum Schweigen gebracht haben.

Die Leidenszeit auf der AST 2 hat nun ein Ende: Der Stationsleiter wurde vor die Tür gesetzt. Bis dato gibt es keinerlei Hinweise auf strafrechtliche Konsequenzen der Übergriffe.

Doch für negative Publicity sorgen nicht allein die Misshandlungsfälle. Die Klinik ist für stetig schlechter werdende Arbeitsbedingungen und kontinuierliche Attacken gegen gewerkschaftliche Strukturen bekannt. Kritiker sehen die aktuellen Misshandlungen als direkte Folge der Unternehmenspolitik: "Hier werden Vorgesetzte nicht nach Qualifikation ausgesucht, sondern danach, dass sie die Linie der Klinikleitung umsetzen", kommentiert ein Angestellter, der lieber anonym bleibt." (...)


auch hier finden wir wieder viele strukturelle gemeinsamkeiten mit den vorherigen beispielen, und eine weitere sei hervorgehoben: "Bis dato gibt es keinerlei Hinweise auf strafrechtliche Konsequenzen der Übergriffe."

staatliche repressionsorgane werden nicht von ungefähr regelmässig von apathie und lähmung befallen, wenn es darum geht, selbst schwere und schwerste gewaltdelikte in solchen institutionen zu verfolgen, und zwar nicht nur in staatlichen. das darf getrost als ausdruck davon verstanden werden, dass sie selbst - polizei und justiz - strukturell ähnlich organisiert sind bzw. solche institutionen selbst betreiben; und auch als ausdruck eines impliziten wissens, dass ohne solche institutionen im wahrsten sinne des wortes kein staat zu machen ist. es wird sehr interessant zu beobachten, ob der öffentliche druck für den staat aktuell groß genug werden wird, um einen zumindest ehemals tragenden systemteil, nämlich die institutionalisierte kirche, faktisch zu "opfern" - um den rest erhalten zu können.

*

(zum
dritten teil)
Aurisa - 7. Mär, 22:46

Danke!

Ich hatte beim lesen grade ein deja vue...

Die Schule als Gefängnis in das ich als Kind unschuldig, ohne Prozess, ohne Verteidiger und ohne angehört worden zu sein gesperrt worden bin... drangsaliert von den Mit'gefangenen' Schülern... und die Lehrer als 'Wärter' die dabei zu- oder eher wegschauten...

Genauso habe ich das immer empfunden...
(Und in der eigenene Familie war es aus anderen Gründen auch nicht wirklich besser...).

An den Folgen leide ich bis heute...

Ich habe mich ja oft gefragt und frage mich das immer noch, obwphl ich es inzwischen eigentlich längst besser weiss, ob das an mir lag... ob ich am Ende selber schuld daran bin, daß ich dort zum Opfer wurde...

Darum auch danke für diesen Beitrag... denn er zeigt mir, daß all das nicht nur nicht an mir lag... sondern daß es sehr sehr vielen Menschen so ging und weiter geht in dieser Gesellschaft... und daß all das System hat... und nicht nur ein Einzelfall ist: http://aurisa.twoday.net/stories/einzelfalltheorie/main

monoma - 7. Mär, 22:55

ja. einer der miesesten tricks der macht

"Ich habe mich ja oft gefragt und frage mich das immer noch, obwphl ich es inzwischen eigentlich längst besser weiss, ob das an mir lag... ob ich am Ende selber schuld daran bin, daß ich dort zum Opfer wurde..."

die scham ist von ihren auswirkungen her womöglich eines der unterschätztesten gefühle.

und ich bin mir sehr sicher, dass die allermeisten menschen in diesem land ähnliche erfahrungen haben - genau danach sieht unser gesellschaftliches leben insgesamt nämlich aus.

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