notiz: ein sonniger occupy-nachmittag im oktober - zunächst lokal

jubel, trubel, heiterkeit: gestern hat in bremen der "freimarkt" begonnen, nichts anderes als das "oktoberfest" des nordens (und ähnlich groß und monströs). was bedeutete, dass einerseits die innenstadt eh voll von leuten war und andererseits zwei beliebte und sich eigentlich anbietende ziel- und treffpunkte für demos aller art gerade von einem ableger des eigentlichen marktes besetzt sind, nämlich marktplatz mit rathaus und der sich anschließende domshof, ein platz, der rundherum wirklich zugeknallt mit bankfilialen aller art ist. so ging´s also am bahnhof los, genauer gesagt auf einer grünfläche vor dem überseemuseum.

wer war da? mehr als ich dachte; ich hatte mir allerdings vorher auch aus gründen verkniffen, überhaupt mit irgendwelchen erwartungen hinsichtlich zahlen und motivationen der teilnehmerInnen dort hinzugehen. jedenfalls waren trotz einiger fluktuation und unübersichtlichkeit wg. verkehrsknotenpunkt hbf so zwischen 300 - 500 leute da - was für eine stadt wie bremen wenig erscheinen mag und im vergleich zu bspw. anti-akw-aktionen auch ist. bloß war das hier tatsächlich eine fast reine netz-mobilisierung, mit der erschwernis einer nichtöffentlichen facebook-seite. dafür war´s dann doch erstaunlich.

zu sehen waren viele "attac"-fahnen, eine gruppe von anonymous in anzügen und mit den obligatorischen masken (so in der häufung hat das durchaus was), eine fahne der "piraten", eine riesentransparent der "arbeiterkommunistischen partei iran"; zwei ältere leute, die mit einem selbstgebastelten pappschild neue "aufklärung zu 9/11" forderten; die landeschefin der hiesigen "linke" mitsamt einigen genossInnen, plus viele ältere semester ab 50+, die mir vom habitus her wie gewerkschafter rüberkamen. also die üblichen verdächtigen? nicht ganz: eine große gruppe sehr junger leute etwa von 15 bis 25 und etliche leute, die vom outfit und ebenfalls habitus her nicht groß vom umherströmenden feier- und shoppingvolk zu unterscheiden waren.

die leute, die das ganze aus dem boden gestampft haben - ich habe mit ihnen zwischendurch ein paar kurze gespräche geführt (und dabei auch meine klage bezgl. facebook vorgebracht) - hatten zwei kleine zelte aufgestellt sowie ein - leider völlig unzureichend, weil viel zu klein und leise - mikro mit verstärker organisiert. alles tatsächlich an jeder partei und sonstigen organisation vorbei. polizei war in beschränktem rahmen (drei wannen) im hintergrund präsent und hielt sich sehr zurück.

*

so, und dann wurde es ab 16.00 interessant - während die ersten minuten eine gruppe von wie neohippies daherkommenden jungen mit bongos und didgeridoo musik machten, wuchs die menge zunächst noch an und verharrte in unzähligen einzelgesprächen, bei denen es tatsächlich und hauptsächlich nach dem, was ich so mitbekam, um die aktuelle situation und die perspektiven darin ging. bei der gelegenheit traf ich auch
quirinus, der vielleicht noch einige fotos nachreichen wird.

dann begann eine der organisatorInnen zu sprechen und ging nach der begrüßung auf ihre eigenen motivationen und vorstellungen ein, wobei nicht nur sie wert drauf legte, dass die nächsten stunden von allen anwesenden selbst mit inhalten und aktionen gefüllt werden sollten. ebenfalls betonte sie, dass es nicht (nur) darum ginge, das bankensystem zu kritisieren, sondern "ganz grundsätzlich" in dieser gesellschaft etwas nicht stimmt. danach rief sie kurz dazu auf, mittels einer menschenkette noch weitere teilnehmerInnen von einem nahegelegenen platz abzuholen. was passierte, und anschließend gab es eine art kundgebung mit beiträgen eines spanischen studenten, der auf deutsch etwas zur M15-bewegung in spanien erzählte, was ich grundätzlich sehr spannend fand, leider aber aufgrund der miesen anlage weiter weg kaum zu verstehen war. er ging dabei u.a. auch auf den widerstand gegen zwangsräumungen ein und erhielt viel applaus. dann kamen ein vertreter des hiesigen
umsonstladens, der sehr berechtigt und unter viel applaus darauf hinwies, dass die unterscheidung zwischen finanz und "real"wirtschaft nicht haltbar und das ganze ökonomische system zu hinterfragen sei.

als nächstes gab es ein beitrag von "anonymous", der zuerst für heiterkeit - der redner musste seine maske für das mikro etwas hochziehen, konnte aber danach erst mal nix mehr von seinem text sehen - und dann für ordentlich stimmung sorgte. die rede war ein durchaus populistischer und radikal daherkommender rundumschlag gegen das ganze system, der aber aufgrund seiner klaren ansagen und der technik des "chantens" von parolen, die die gruppe benutzte, viel anklang fand. im anschluß kam noch ein vertreter der gerade aktuell hier laufenden bildungsproteste, die primär von schülerInnen getragen werden, zu wort und rief dazu auf, im sinne der heutigen aktion die angesetzten aktionen wie schulbesetzungen und streiks in den kommenden wochen zu unterstützen. dann gabe es wieder ein junge frau aus dem umkreis des orga-teams, die weiteres zu ihren eigenen intentionen erzählte und nach meinem verständnis sinngemäß etwa auf das hinarbeitete, was naomi klein in new york so bemerkenswert fand und was ich im letzten beitrag unten zitiert hatte - die art und weise des unmittelbaren umgangs unter- und miteinander zu ändern. so sollte eines der zelte etwa als massagezelt dienen, es wurde das von den camps in spanien und den usa entlehnte konsensprinzip erklärt und die dazugehörigen pantomimischen zeichen für zustimmung, ablehnung und veto, "weil verbale äusserungen den redefluss und die konzentration beim zuhören stören". irgendwann zwischen all dem hörte ich einen neben mir stehenden von "einer demonstration neuen typs" murmeln, und das traf es zu diesem zeitpunkt zumindest ein bißchen - die stimmung war recht entspannt und irgendwie erwartungsvoll, wobei ich mich auch frage, wie viele der anwesenden in diesen momenten gerade realisierten, dass es hier auch um ihre eigenen konsumgewohnheiten - die sind gerade bei "linken" demos vorhanden - ging.

*

tja, und dann kam es zu einem kleinen bruch: nach all den reden wurde eine pause angekündigt, die von einigen anwesenden jüngeren - ich schätze mal, aus der antifa-szene - zu einer spontanen kreuzungsbesetzung am strassenbahn- und busknotenpunkt unmittelbar vor dem hbf genutzt wurde. das rief in der folge dann die anwesende polizei auf den plan, die - allerdings ohne helme - nun deutlich mehr präsenz zeigte. aus dieser blockade entwickelte sich dann eine spontandemonstration durch die proppevolle innenstadt und sogar durch die fußgängerzonen, was die polizei ansonsten bei anderen gelegenheiten gewohnheitsmässig unterbindet. hier wäre aufgrund des ungestörten zusammentreffens von demonstration und shoppender bevölkerung einiges an informationsvermittlung und auch agitation möglich gewesen, was leider aufgrund nicht vorhandener flugblätter und auch fast keinerlei parolen nicht stattfand. ich musste mich irgendwann zu diesem zeitpunkt wg. meiner gerade vergangenen erkältung und frierens ausklinken und ging mit einem kopf voller gedanken meiner wege.

*

wie ich das alles fand? nun, es heisst dicke bretter bohren - in meinen gesprächen mit den aufrufenden leuten kam heraus, dass das alles tatsächlich sehr spontan entstanden ist, und auch "m15" sowie "ows" für sie das auslösende moment waren. weitere pläne hatten sie noch nicht, ausser der vorstellung, dass der tag ein start sein soll - für weitere vernetzung, um sich dann als nächstes konkret an den angesprochenen bildungsprotesten zu beteiligen. für mich selbst habe ich gemerkt, dass ich jenseits allen aktionismus tatsächlich im laufe des nachmittags klar hatte, dass ich selbst der phase des kennenlernens und der vernetzung momentan die höchste priorität einräume, und einige der vorgestellten "techniken" bezgl. selbstorganisierter veranstaltungen recht interessant finde. es ist schade, dass wir nun hier gerade vor dem kommenden winter stehen - die zeit für camps ist ungünstig,aber diese form bzw. noch zu suchende adäquate könnte tatsächlich jenseits bisheriger - schlechter und eingefahrener linker gewohnheiten - einiges neue bringen und v.a. neue alltagserfahrungen in einer neuen situation mit sich bringen. an diesem punkt schliesst sich der kreis mit einigen aussagen der organisatorInnen für mich - nicht nur das, was grundsätzlich "politisch"-ökonomisch schief läuft, sondern dazu gehörend auch das ganz praktische und alltägliche miteinander (statt des sozialdarwinistisch-kapitalistisch und letztlich soziopathischen gegeneinanders) als qualitativ neue erfahrungsmöglichkeit zu materialisieren. das scheint mir tatsächlich ein weg zu sein, der das ausprobieren lohnt, weil er ganz basal an der grundsätzlich isolierenden traumatischen matrix ansetzt, durch die un- und mittelbar die allermeisten menschen hier in ihrem verhalten festgelegt sind. das schliesst weder aus, sich gezielter ökonomische und politische strukturen vorzunehmen, noch behindert es das - eher im gegenteil könnte das eine möglichkeit sein, einen tatsächlich halbwegs stabilen punkt zu etablieren, von dem aus eine wirkliche, weil auch in den menschen selbst fundierte, umwälzung möglich erscheint. dazu kommt die nicht gering zu schätzende "prophylaxe" gegen strömungen von rechts, die in solchen prozessen enthalten ist, weil in so einem rahmen auch persönliche interventionen und konfrontationen bei und mit menschen möglich sind, die aufgrund ihrer inneren struktur eventuell für verdinglichende ideologische konstrukte offen sind. die rechten hardliner, egal ob nun neoliberale nach hayek oder aber offene nazis, werden so nicht erreicht, aber das ist auch nicht der punkt. es geht um die "schwankenden", und in der hinsicht ist die derzeitige reale und mediale präsenz von occupy unschätzbar - weil sie viele beobachterInnen ebenfalls dazu zwingt, für sich selbst stellungen zu beziehen, und damit kritisierbar macht.

so, und das obige kann auch gleich mal als teil meiner antwort auf die argumentation von demon driver weiter unten in den kommentaren verstanden werden - ich finde die teils so borniert und v.a. aus dem elfenbeinturm heraus, dass ich mir eine direkte erwiderung für den moment eigentlich ersparen möchte, weil das auf einen schweren streit hinauslaufen würde. aber einen punkt doch dazu: wenn man deiner argumentation, oder auch denen von "konkret"-gremlitza, dem "gegenstandpunkt" oder auch "exit" folgt, so gibt es den richtigen moment für eine fundamentale umwälzung - niemals. immer wird zuviel "falsches bewusstsein", zuwenig "aufklärung" oder gar reaktionäres im spiel sein, um die selbst aufgelegten meßlatten spielend zu unterlaufen. ich kriege mittlerweile bei solchen argumenten echt die krätze, weil sich das letztlich als völlig ignorant gegenüber den lebensrealitäten von milliarden herausstellt und am ende auf ein explizites "ihr seid blöd, wir sind schlau und geben uns lieber einem rotweingeschwängertem weltschmerz hin" hinausläuft, anstatt die ärmel hochzukrempeln und wenigstens zu sagen "okay, wir versuchen zumindest das, was uns möglich erscheint". kritik ohne konkrete und mindestens mittelbar umsetzbare alternativen zu äussern, mag in bestimmten historischen phasen zu rechtfertigen sein. in der phase jedoch, in der wir uns mittlerweile befinden, ist das nichts weiter als selbstzentriertes herumjammern. im übrigen halte ich deine inhaltliche ausrichtung auf die produktionsverhältnisse nicht für den eigentlichen knackpunkt , aber das ist eine andere diskussion.

*

zum globalen geschehen in den nächsten tagen mehr.
demon driver - 16. Okt, 19:04

Elfenbeinturm

"... vertreter des hiesigen umsonstladens, der sehr berechtigt und unter viel applaus darauf hinwies, dass die unterscheidung zwischen finanz und 'real'wirtschaft nicht haltbar und das ganze ökonomische system zu hinterfragen sei" – sowas ist immerhin schon mal ein Lichtblick.

Was den "Elfenbeinturm" angeht, geht Deine Argumentation aber schon wieder komplett daran vorbei, worum es geht, nämlich darum, dass es ökonomische Gesetze gibt, die festlegen, was unter den herrschenden ökonomischen Rahmenbedingungen möglich ist und was nicht, und die Produktionsverhältnisse sind nun mal ein wesentlicher Kern davon, ob Du das wahrhaben willst oder nicht, und das ist auch mitnichten eine "andere Diskussion", sondern weiterhin ihr Kern, und wissen könnte man das, wenn man nur wollte, weitgehend seit dem 19. Jahrhundert.

Mit einem "richtigen Moment" hat das Ganze derweil auch wieder nicht das Geringste zu tun, ich zumindest habe bisher weder von Gremliza (sic) noch von "Exit" je etwas in der Richtung gelesen; auch diese Unterstellung zeigt eigentlich nur, dass da – ähnlich wie mit den sogenannten "Antideutschen" – mit Gewalt ein Feindbild aufgebaut wird, gegen das dann einfach mal rundumschlagmäßig mit falschen Unterstellungen gehetzt wird, anstatt sich wirklich mal den Argumenten und Fakten zu stellen. Aber dafür müsste man auch bereit sein, die eigene Haltung wenigstens mal einen Millimeter weit in Frage zu stellen, was ich hier leider inzwischen vollkommen vermisse.

"Selbstzentriertes Rumjammern"? Mal ganz abgesehen von der grenzwertigen Diktion sehe ich das auch inhaltlich nicht so, und Deine Tiraden sind auch nicht wirklich in der Lage, dafür Begründungen zu liefern, und versuchen es ja im Grunde auch nicht mal – stattdessen sehe ich den von Dir hier vertretenen Revoluzzeroptimismus weiterhin als einen von gemeinschaftlich auf der Straße und in der Bebachtung derselben halluzinierten Machtutopien gegenüber den weiterhin völlig ohne Abstriche wirklich Mächtigen getragenen, gemeinschaftlichen Selbstbetrug, der ungünstigstenfalls nicht nur unwirksam, sondern gefährlich werden kann.

Im übrigen ist doch, was der Protest macht, genau das, was Du so großspurig ablehnst und Deinen linken Feindbildern unterstellst, nur weil die sich über die ökonomisch-gesellschaftlichen Zusammenhänge womöglich mehr Gedanken gemacht haben als Du: "Kritik ohne konkrete und mindestens mittelbar umsetzbare Alternativen". Was ich da an auch nur halbwegs "konkreten" Vorschlägen bisher mitbekam, ist schlicht und einfach keine "Alternative".

quirinus - 16. Okt, 23:03

Jenseits aller Elfenbeintürme

will ich nur mal eben darauf hinweisen, daß ich anhand meiner Fotos 600 Demonstranten gezählt habe; es könnten sogar an die 800 gewesen sein. Ein anderer Fotograf kam zu dem gleichen Ergebnis. Ein brauchbares Videodokument zur Atmosphäre vorm Überseemuseum und zur Rede des Spaniers ist dieses hier.

Die gestrige Spontandemo wurde übrigens von zwei Schülervertretern initiiert; sie und einige Anonymous-Leute hatten in ihrer Unerfahrenheit nicht damit gerechnet, daß die meisten Demonstranten ihnen folgen würden. Heute auf dem Ulrichsplatz wurde länger darüber gesprochen. Am nächsten Sonntag um 17 Uhr gibt es dort ein weiteres Treffen, sofern nicht vorher geklärt ist, unter welchem Dach es stattfinden könnte.

Heute saßen etwa 40 Leute (größtenteils nach 1970 geborene) auf dem Ulrichsplatz, darunter einige, die gestern nicht hatten kommen können. Die Atmosphäre war wieder erstaunlich gut und solidarisch; diverse Passanten (darunter auch bürgerliche Ehepaare) blieben ein Weilchen stehen und hörten zu. Alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer (darunter auch Leute, die noch nie an solchen Aktionen teilgenommen hatten) stellten sich vor und skizzierten das, was sie zum Protest veranlaßt hat. Über die Facebook-Panne wurde auch gesprochen; Verbesserungsmöglichkeiten für die Mobilisierung sollen zusammen mit den Occupy-Gruppen aus anderen Städten geschaffen werden.

Im übrigen sind alle der Meinung, daß nicht nur die Produktionsverhältnisse oder die Finanzmärkte das Problem sind. So wie nie zuvor ist auch und gerade von der fortschreitenden Massenverblösung und vom destruktiven Gegeneinander der Menschen die Rede, gerade in den Äußerungen der um 1990 Geborenen, also genau jener Generation, deren Pubertät mit dem 11. September 2001 begann. Daß diese Generation eine besondere sein würde, auch ohne den Bankencrash, war abzusehen. Nun beginnt es offensichtlich zu werden. Was auch immer komme - diese Generation wird einiges bewegen. Dessen bin ich mir absolut sicher.

monoma - 17. Okt, 19:44

danke für den terminhinweis,

der wird weitergegegeben und ziumindest ich werde versuchen, da zu sein.
Yurun (Gast) - 17. Okt, 02:40

eine adresse für ein gefühl haben

In Frankfurt haben wir uns jetzt vor dem EZB-Gebäude einigermaßen engerichtet und wenn das Wetter für Camps auch suboptimal ist, so dürften sich die Probleme bis zum ersten Regen als gut beherrschbar erweisen.

Auf einen Punkte möchte ich dabei hinweisen: eine Demonstration (oder eine Krise) hat keinen wirklichen Ort und keine Adresse, ein Camp hingegen schon. Ein älteres Ehepaar steht da und sagt sie hätten noch Feuerholz das abgeholt werden könnte, die nächsten bringen ein Zelt vorbei, backen Kekse, spenden Geld und Lebensmittel aller Art ... Da mögen vielleicht nur etwas mehr als hundert Leute wirklich zum Camp gehören, indirekt beteiligt sich daran aber mindestens die dreifache Menge an Personen und garantiert die Versorgung, die etwa hundertfache Menge "schaut sich das mal an". Das ist also kein sozialer Fremdköper inmitten der Stadt, sondern etwas das aus ihr heraus und gleichzeitig im Widerspruch zu ihr Wachsendes. Dies ist vor allem deswegen wichtig, weil jede soziale Form des Lebens und gegenseitigen Kümmerns wenn man so will ortsgebunden und ständig ist, sie benötigt eine Struktur und eben tatsächliches, mitmenschliches Erfahren. Ein unpersönlicher Event allein wird niemals die Strahlkraft haben einen gegen ihn organisierten Alltag innerhalb einer ihn fremden Umgebung zu überwinden, er kann nur eine Schockwirkung entfalten (die allerdings ebenso zum aufwachen gehört). Schocks wird es dabei so oder so wohl viele geben, je mehr desto näher wir an unsere Grenzen kommen, doch er hat ganz andere Eigenschaften als das beständige Streben eine Ordnung des Zusammenlebens zu errichten, die den Sehnsüchten der Menschen gerecht wird bzw. nach diesen strebt. Schon die Möglichkeit ein paar Kekse an einem Zelt abzugeben ist dabei der direkte Ausdruck solchen Strebens und manch Linker, der über soetwas lachen mag, meiner Ansicht nach ein Idiot erster Kajüte. Dieses "authentische individualität in einer kollektivität" erleben, was in früheren Zeiten einige wohl mehr als unangepasste Geldknappheit zum Hausbesetzer hat werden lassen, will erprobt sein. Hier erprobt es sich (besser "kann es") am Beispiel der Anprangerung einer der extremsten Formen seines Gegenteils, also des "nimm dir was du kriegen kannst und scheiß auf den Rest". Der Mythos des Finanzwesens als Steilvorlage für den Mythos des Gemeinwesens. Es ist daher eigentlich garnicht zu wichtig wie weitgreifend nun die Analyse dabei ist, wie sehr man also der tatsächlichen Asozialität auf die Schliche kommt, es kommt ganz und gar auf das "bis hierhin und nicht weiter an". Da beginnt nämlich die Revolte. Hier wird sie übrigens auch wieder verspielt, umso mehr desto technokratischer nach "Lösungen" theoretisiert und plenarisiert wird. Was da aber totgeredet wird ist keine Sache, sondern ein Gefühl. Die wenigsten haben aber dabei die Fähigkeit zu ihrem Gefühl auch eine Sprache zu finden, was das Ganze schon beim zuhören dann unauthentisch und langweilig macht. Inwiefern sich bei genügend Individuuen ein gemeinsamer Mut findet, solch ein Resultat abzuwenden, wird sich ja zeigen.

Unser Wasser beziehen wir in Frankfurt übrigens von einem Kapitalisten (aka Kioskbesitzer), der Dank des Camps einen guten Umsatz hat, und von der gleich daneben liegenden Oper.

quirinus - 17. Okt, 12:17

Vielen Dank, Yurun!

Als 'Linker' muß man tatsächlich sehr borniert sein, um solche Aktionen abzulehnen. Die Wirkung eines Camps kann ja schon erahnen, wer sich zusammen mit anderen im Kreis auf einen Platz setzt, wo - wie gestern in Bremen - der Reihe nach jeder zu Wort kommt. Ich habe die bürgerlichen Ehepaare beobachtet, die das gestern miterlebt haben. Alle haben, wenn auch nur für Minuten, mit nachdenklichem Gesicht den jungen Leuten zugehört, und niemand (abgesehen von einem Besoffenen und einer offensichtlich psychisch gestörten alten Frau) hat die Anwesenden beleidigt oder ist kopfschüttelnd weggegangen. Alle Passanten schienen in den Redebeiträgen etwas von sich selbst wiederentdeckt zu haben, zumindest das von allen geäußerte starke Unbehagen an den jetzigen Zuständen. Und das war nur möglich, weil keiner der Anwesenden politische Parolen von sich gab, sondern von sich erzählte, ohne jemanden missionieren zu wollen. Diese Gesprächskultur des gegenseitigen Zuhörens muß gepflegt werden, damit überhaupt wieder gegenseitiges Vertrauen entstehen kann, gerade zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft und unterschiedlichen Alters. Ohne dieses Vertrauen ist kein im besten Sinne soziales Miteinander möglich. Das beginnt vielen inzwischen zu dämmern. Die berechtigte Empörung (zumindest) über die Finanzhaie hängt ja ganz wesentlich damit zusammen, daß sie nicht nur unsere materielle Lebensgrundlage zerstören, sondern das Vertrauen all der Leute, die einst an das Märchen glaubten oder jetzt noch glauben, die Märkte würden alles zum Besten aller regeln.

PS. Gerade habe ich einen neuen NDR-Bericht über die Camper in Hamburg gefunden, worin das eben Gesagte zum Ausdruck kommt, siehe hier.
demon driver - 17. Okt, 13:54

"Gesprächskultur des gegenseitigen Zuhörens"

Entschuldigt vielmals, wenn mir Kekse nicht reichen (ich lache nicht darüber und finde sowas nett, aber Versuche, solche Gesten mit emanzipatorischer Bedeutung aufzuladen, lassen mich verzweifeln), und so richtig es sein mag, eine breite gemeinsame Gesprächsgrundlage zu finden, so leer und theoretisch und ohnmächtig bleibt die, wenn die Inhalte fehlen oder falsch sind. Und zumindest die Inhalte, die bisher hauptsächlich transportiert werden und haften bleiben, wenn die Zeitung hier heute morgen über die Protestierenden beispielsweise wieder schreibt, "sie forderten schärfere Regeln für Banken, eine europäische Vermögensabgabe und bessere Arbeitsperspektiven", sind nun mal völlig falsche Inhalte.

Darüber muss man doch auch als Befürworter der Bewegung und als Teilnehmer reden können, solche Bedenken müssen doch auch in der Bewegung ernst genommen werden, und wenn genau das nicht stattfindet, dann fehlt der Bewegung an dieser Stelle doch genau das, was jetzt als ihr Vorzug herausgestellt werden soll, nämlich die "Gesprächskultur des gegenseitigen Zuhörens". Und wenn, wie hier in diesem Blog, die Teilnahme an der Protestbewegung mit der Überzeugung, die Wahrheit gepachtet zu haben, als nicht in Frage zu stellende Pflicht für Linke postuliert wird, dann hört nicht nur meine in Ansätzen durchaus vorhandene Sympathie für den Protest auf, da endet dann auch meine Geduld mit denjenigen, die sowas hier vortragen.
monoma - 17. Okt, 19:43

@d.d.

da ich vor kurzem erst von der arbeit gekommen bin und immer noch - oder schon wieder :-( - gesundheitlich angeschlagen bin, statt einer ausführlichen antwort für den moment von mir nur der hinweis auf dieses papier der "interventionistischen linken", in dem einiges von dem genauer skizziert ist, worum es nicht nur mir geht.
monoma - 17. Okt, 19:43

@yurun

danke für die eindrücke und gedanken!
demon driver - 17. Okt, 20:18

@monoma

Danke für den Link; Dir auf jeden Fall rasche Genesung.

Der Text enthält sicher viel Vernünftiges, aber auch manches Problematische; ich will hier nur einen Punkt erwähnen, der sich so ähnlich auch ein bisschen durch Dein Blog zieht: der ungetrübt positive Bezug auf den "arabischen Frühling", der sich zunehmend desaströs entwickelt. Nicht nur in Ägypten, wo Teile der "Demokratiebewegung" die israelische Botschaft stürmen und Israel den Krieg erklären, sondern auch in Libyen, wo Islamisten die Macht ergreifen und ein rassistischer Mob die neue Macht nutzt, um verbreitet Jagd auf Schwarze zu machen, sie zu inhaftieren und Opfer zweifelhafter Gerichtsverfahren werden zu lassen. Nicht wirklich Vorbilder, denen ich im Rahmen hiesiger Proteste hinterherlaufen möchte.

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