Samstag, 24. September 2005

assoziation: tittytainment

ein begriff, der jetzt auch schon gut zehn jahre alt ist, und sich trotz oder wegen der tatsache, dass er eine zynische (und treffende) neuformulierung des alten "brot & spiele" darstellt, nicht durchsetzen konnte. bin vorhin wieder einmal drüber gestolpert. und frage mich ebenso wieder einmal nach der mentalität oder der inneren verfassung dieser leute. erste hinweise auf mögliche antworten stehen in diesem blog.

auszugsweise beschrieben wird im folgenden eine konferenz von ca. 500 politikern, wirtschaftsführern und wissenschaftlern, die im september 1995 in san francisco stattgefunden hat und sich mit den "perspektiven" der welt im 21. Jahrhundert beschäftigte. ist vielleicht ganz nützlich, das im hinterkopf zu haben, wenn einen politik & medien mal wieder mit ihrem fetisch "arbeitsplätze-schaffen-und-bruttosozialprodukt-steigern-um-jeden-preis-dann-wird-alles-gut" in den heulenden wahnsinn treiben wollen.


"Kein Raunen geht da durch den Raum, den Anwesenden ist der Ausblick auf bislang ungeahnte Arbeitslosenheere eine Selbstverständlichkeit. Keiner der hochbezahlten Karrieremanager aus den Zukunftsbranchen und Zukunftsländern glaubt noch an ausreichend neue, ordentlich bezahlte Jobs auf technologisch aufwendigen Wachstumsmärkten in den bisherigen Wohlstandsländern - egal, in welchem Bereich.

Die Zukunft verkürzen die Pragmatiker im Fairmont auf ein Zahlenpaar und einen Begriff: "20 zu 80" und "tittytainment".

20 Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung würden im kommenden Jahrhundert ausreichen, um die Weltwirtschaft in Schwung zu halten. "Mehr Arbeitskraft wird nicht gebraucht", meint Magnat Washington SyCip. Ein Fünftel aller Arbeitssuchenden werde genügen, um alle Waren zu produzieren und die hochwertigen Dienstleistungen zu erbringen, die sich die Weltgesellschaft leisten könne. Diese 20 Prozent werden damit aktiv am Leben, Verdienen und Konsumieren teilnehmen - egal, in welchem Land. Das eine oder andere Prozent, so räumen die Diskutanten ein, mag noch hinzukommen, etwa durch wohlhabende Erben.

Doch sonst? 80 Prozent der Arbeitswilligen ohne Job? " Sicher", sagt der US-Autor Jeremy Rifkin, Verfasser des Buches "Das Ende der Arbeit", "die unteren 80 Prozent werden gewaltige Probleme bekommen." Sun-Manager Gage legt noch einmal nach und beruft sich auf seinen Firmenchef Scott McNealy: Die Frage sei künftig, "to have lunch or be lunch", zu essen haben oder gefressen werden.

In der Folge beschäftigt sich der hochkarätige Diskussionskreis zur "Zukunft der Arbeit" lediglich mit jenen, die keine Arbeit mehr haben werden. Dazu, so die feste Überzeugung der Runde, werden weltweit Dutzende Millionen Menschen zählen, die sich bislang dem wohligen Alltag in San Franciscos Bay Area näher fühlen durften als dem Überlebenskampf ohne sicheren Job. Im Fairmont wird eine neue Gesellschaftsordnung skizziert: reiche Länder ohne nennenswerten Mittelstand und niemand widerspricht.

Vielmehr macht der Ausdruck "tittytainment" Karriere, den der alte Haudegen Zbigniew Briezmski ins Spiel bringt. Der gebürtige Pole war vier Jahre lang Nationaler Sicherheitsberater von US-Präsident Jimmy Carter, seither beschäftigt er sich mit geostrategischen Fragen. "Tittytainment", so Brzezinski, sei eine Kombination von " entertainment" und "tits", dem amerikanischen Slangwort für Busen. Brzezinski denkt dabei weniger an Sex als an die Milch, die aus der Brust einer stillenden Mutter strömt. Mit einer Mischung aus betäubender Unterhaltung und ausreichender Ernährung könne die frustrierte Bevölkerung der Welt schon bei Laune gehalten werden."

(zitat aus "Die Globalisierungsfalle", s. 12)


*

edit: weil´s zum obigen inhaltlich passt...

"Es ist übrigens gar nicht gesagt, dass es den Insassen in einem privat geführten Knast schlechter ginge, und die JVA Köln scheint sich schon jetzt auf diese Zukunft einzurichten, wenn sie sich als ein »Dienstleistungsunternehmen« beschreibt, das »der Öffentlichkeit und den Inhaftierten verpflichtet« sei. Das weckt Hoffnung bei den Kunden, die vorerst nicht befriedigt werden kann: »Eigentlich ist es nicht zu begreifen«, schreibt eine Inhaftierte, »dass Staatsanwälte und Richter den Delinquenten gegenüber so oft einen frechen und pampigen Ton anschlagen. Sie vergessen ganz, dass diese Leute die Grundlage ihrer Existenz bilden und sozusagen ihre Kundschaft sind.« Eine andere fordert – die Kundin ist Königin – mehr Freundlichkeit von den Vollzugsbeamten: »Ich bin keine Mörderin, ich bin Hotelfachfrau …« Gericht und Gefängnis als Dienstleister, das gibt dem Schlagwort »Service-Hölle« einen neuen Sinn (und der Vollzug ist übrigens nicht die einzige Dienstleistung, die nicht zu erhalten ein Vorzug sein könnte).

Das endgültige Absinken und Unbrauchbarwerden eines ganzen Drittels der Gesellschaft sorgt aber noch auf andere Weise dafür, dass sich auch die Wirklichkeit des Gefängnisses verändert. Es verliert seinen Schrecken, wenn draußen eine noch schlimmere Welt wartet. Im Gefängnis hat sich vorläufig noch, wenn auch auf oft groteske Weise, der alte Sozialstaat erhalten, was manch eine begrüßt. »Ein Gefängnis ist eigentlich ein schrecklicher Ort, für mich ist es ein Ort der Sicherheit«, schreibt eine Frau, die zu 15 Jahren Haft verurteilt ist. »Irgendwie bin ich froh, dass ich hier drin bin«, schreibt eine andere. Sie könne nun wieder ruhig schlafen. »Sie fühlen sich hier zum Teil sicherer als in ihrem Umfeld draußen«, berichtet eine »Bedienstete für Sicherheit und Ordnung«. Mit einer allgemeinen Verelendung sind Gewalt und Zwang gewachsen und Chancen gesunken. Bei aller Dürftigkeit der Anstalt sind die in ihr eingeschlossenen Frauen nicht nur einiger Existenzsorgen ledig, sie sind auch vor Nachstellungen, Bedrohungen und Misshandlungen durch Mann, Zuhälter und Familie einigermaßen gesichert; anders als bei den männlichen Gefangenen kommt das »Klatschen« unter Frauen selten vor. Und die meisten von ihnen verpassen draußen keine Karriere mehr."


an anderer stelle dieses artikels ist auch zu lesen, dass u.a. frauen mit borderline-diagnose unter den gefangenen eine größere zahl ausmachen. nun ist mein persönlicher eindruck der, dass bei vorliegen offen traumatischer gewalterlebnisse (der zusammenhang ist bei borderline nicht zwingend, aber überdurchschnittlich häufig zu beobachten) diese diagnose eher zu den in der psychiatriegeschichte schon häufiger zu beobachtenden quasi vertuschungsdiagnosen zu zählen ist, mit denen die konsequenzen gesellschaftlich produzierter gewalt quasi unsichtbar gemacht werden. im oben erwähnten kontext ist es nicht unwahrscheinlich, dass traumatisierte frauen, die sich mittels einer gewalttat aus einer unerträglichen lebenssituation befreien wollten, dann einen großteil ihres restlichen lebens im knast verkümmern. natürlich ohne jegliche chancen auf qualitative verbesserungen.

und wenn die knastsituation schon als "verbesserung" gegenüber draussen erlebt wird ("schutzhaft" im wahrsten sinne des wortes?) - was für ein erbärmliches "draussen" ist das dann eigentlich? und die idee der privatisierten knäste (die sehr wahrscheinlich auch hier kommen werden, wenn grundlegende fehlentwicklungen nicht gestoppt werden) - sind wir schon so abgestumpft, um nicht mehr wissen zu wollen, dass diese knäste innerhalb einer kapitalistischen logik auf möglichst hohen "umsatz" konzipiert sein werden? und jene organisierte kriminalität, die da z.b. 1995 das erwähnte treffen veranstaltet hat, genau die bedingungen dafür schafft, dass dieser "umsatz" auch real werden wird?

*

und nochmal edit: "tittytainment" mal in anderer (wenn auch nicht ganz anderer) bedeutung, vorgeführt von einem gewissen herrn hartz und seinen kumpanen - "Es wurde die entsprechende Zahl Frauen geliefert"
frauen, arbeitskräfte, menschliche verhältnisse - alles nur noch dinge, abrechenbar, kalkulierbar, manipulierbar.

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