diskussion: verhältnis borderline - autismus, thesen von j. e. mertz und anderes
ubu hat mir im gästebuch einige einträge hinterlassen, die ich mehrheitlich aufgrund ihrer inhaltlichen aussagen hierher verschiebe - sie bieten einen einstieg für alle interessierten in eine intensivere diskussion nicht nur vieler thesen von mertz.
*
"Mich hat ein Themenbündel interessiert, das man mit Begriffen wie Autismus, Als-Ob, Maschinenmensch, Psychopathen, Borderline, Simulation und ähnlichem kennzeichnen könnte, oder Stichwörter wie z.B. Komorbidität, Beziehungsstörungen, Traumata, hochstrittige Trennungen usw. Alles in allem sozialpsychologische Themen, etwas Persönlichkeitspsychologie oder differentielle Psychologie, auch philosophische Ansätze.
Habe zum Beispiel das Buch von Mertz auch sehr intensiv gelesen. So bin ich auch zuerst auf Deinen Blog gestoßen, wollte mal wissen, was er überhaupt für eine Rezeptionsgeschichte bekommen hat. Letztendlich aber offenbar so gut wie gar nichts angesichts eines solchen Buches."
yep, das "so gut wie gar nichts" teile ich. ich hatte früher schon mal kurz hier geschrieben, dass ich vor ein paar jahren deswegen den verlag angeschrieben hatte, um herauszufinden, ob die dort einen überblick zu den bisherigen rezensionen haben - aber sie konnten mir letztlich bis auf drei ausnahmen auch nur vom schweigen im (publizistischen) walde berichten. und das einige jahre nach dem erscheinen - für ein in einem fachverlag erschienenes buch zum thema borderline schlicht erstaunlich.
einen relativ "neuen" text, der sich ausführlicher auf etliches aus dem buch beruft, gibt es unter dem titel Erhöhter Grenzverkehr - Die Symbiose zwischen der Spätmoderne und dem Borderline-Syndrom. bezeichnend aber auch hier, dass der bezug aus einem nicht-psychiatrischen/psychologischen zusammenhang heraus stattfindet. zur bis heute fehlenden reaktion der sog. fachwelt kann ich mich nur nochmal selbst zitieren:
"dieses auffällige schweigen der fachwelt ist für mich - gerade im borderlinebereich, wo an sich jede veröffentlichung sehr bald von anderen professionellen kommentiert und rezensiert wird - inzwischen zwar einerseits verständlicher, stellt andererseits jedoch auch ein recht jämmerliches ausweichen dar - die thesen von mertz haben es wirklich in sich, dazu bringt er eine sehr scharfe kritik an der orthodoxen psychoanalyse sowie inspirierende beobachtungen zum westlich geprägten bewußtsein vor, ebenso einiges ketzerische zum geschlechterverhältnis - von der möglichen rolle der mütter bei psychischen störungen und der bedeutung der pränatalen phase nicht zu reden. viel explosives material also, um sich daran abzuarbeiten - aber stattdessen das erwähnte tiefe schweigen. und es geht dabei nicht um etwas beliebiges, was eigentlich egal ist - das buch kann für betroffene z.b. mit einer borderline-diagnose eine verheerende wirkung haben, und alleine schon deswegen wäre es eine sozusagen berufliche pflicht der überwiegend - in relation - hochbezahlten sog. professionellen, sich dazu zu äußern."(...)
vielleicht hast Du, ubu, mit deinen folgenden gedanken zu den möglichen gründen dieser ignoranz breits einiges benannt:
"Vielleicht ist es einfach zu schonungslos, zu mitleidlos, außerdem von der Sprache her selber etwas technoid wirkend und stellenweise redundant wie ein Zettelkasten, der noch nicht durchgeordnet ist. Und immer die seltsamen Überschriften plus 15 oder 30 Zeilen, dann wieder eine Passage, und so das ganze Buch. Die Thesen über "Hitlerismus" und "plötzlichen Kindstod" sind vielleicht auch etwas schrill geraten."
ich persönlich hatte mich schnell sowohl an die gewöhnungsbedürftige gliederung als auch die sprache (bei der er nebenbei gesagt mit seinem eigenen, im buch formulierten anspruch recht spektakulär gescheitert ist) gewöhnt - in diesem fall waren für mich die inhalte einfach so - hm, umstürzlerisch, dass ich eine primär formale kritik nicht besonders relevant finde.
mit deinem letzten satz hast du dazu zwei bereiche angesprochen, die tatsächlich problematisch sind: die thesen zu hitler sind in der form tatsächlich zu pauschal und zuwenig unterlegt - da hätte er sich zurückhalten oder aber genauer werden müssen. zum plötzlichen kindstod empfehle ich hingegen einmal eine recherche zur entsprechenden arbeit von arno gruen. das, was mir darüber bekannt ist, hat einen eigenen beitrag nötig - es geht dabei u.a. auch um die wirkung von selbsthilfegruppen im medizinischen bereich.
"Schon klar, daß dieses Buch nichts für die Zunft ist, auch weil Mertz so viel Fundamentalkritik übt - an den Manualen wie ICD und DSM, an der Psychoanalsye, an der überall fehlenden Unterscheidung von Authentizität und Simulation, usw. usf. - auch seine Beispiele sind ja nicht ohne - gerade angesichts borderline-artiger Helfer im Range von Psychiatern, Chefs usw."
ja. gerade der letztere punkt ist absolut heikel - ich weiß aus eigener erfahrung, dass seine aussagen diesbezgl. durchaus realitätsgetreu sind.
*
ich komme zum nächsten eintrag:
"Hallo Monoma, das Ganze hat mich nun so interessiert, daß ich noch etwas weiter gestöbert habe und nochmal das Gästebuch für einen Beitrag verwende.
Ich weiß nicht genau, von welchen Daten die Überlegungen zur Als-Ob-Persönlichkeit waren, die im Blog stehen. Jedenfalls interessiert mich dieses Thema auch sehr. Bei Mertz (und anderswo) fällt mir auf, daß er selber die Schwierigkeiten einräumt, Authentizität überhaupt zu beschreiben. Simulation kann man vielleicht noch eher entlarven, besonders über die Zeitschiene bei abrupten Wechseln (Beziehungsabbruch, rücksichtsloser Neuanfang, wie Mertz mal formuliert, Ortswechsel, viele Jobs usw.).
Was Authentizität dagegen ist, bleibt auch etwas diffus. Über den Körper hat man natürlich in gewisser Weise einen nicht hintergehbaren Zugang. Aber der Körper steht ja auch bei Borderlinern durchaus sehr im Zentrum. Man fragt sich also, wo eigentlich Authentisches verortet wird, denn es geht ja um mehr als nur um direktes "Lügen" oder "Schauspielern".
die schwierigkeiten mit dem begreifen dessen, was unter authentizität eigentlich verstanden werden kann / soll / muss, liegen aus meiner perspektive hauptsächlich darin begründet, dass wir uns in einer kultur befinden, deren mainstream aus diversen - und existenziellen - gründen nicht nur kein interesse daran hat, diesen seinszustand näher kennenzulernen sondern ihn sogar aktiv bekämpft - bekämpfen muss, da er die eigenen grundlagen zur implosion bringen könnte.
warum ich das finde, habe ich in vielen beitragen hier im- und explizit schon umrissen. und genaues wahrnehmen fördert eigentlich in so ziemlich allen gesellschaftlichen bereichen diesen zustand ans tageslicht. es reicht dafür bereits, sich mit den täglichen nachrichten zu beschäftigen.
deinen satz oben würde ich anders formulieren: der körper ist der nicht hintergehbare zugang, und er produziert durch seine "teile" gehirn / nervensysteme eben auch sämtliche phänomene der simulativen sphäre. was ja nicht das problem ist, sondern erst dann zum problem wird, wenn die hierarchie zwischen authentizität und simulation auf den kopf gestellt ist. die recht ausführliche theorie dazu bei mertz gehört für mich immer noch zum anregendsten, was ich jemals über das menschliche psychophysische funktionieren gelesen habe.
und das der körper zb. bei borderline-menschen auch "durchaus sehr im Zentrum" steht, widerspricht obigem meiner meinung nach nicht, sondern unterstützt bei genauer betrachtung dessen, wie der körper da im zentrum steht, eher noch die mertzschen aussagen.
ausgangspunkt ist dabei die konstellation "virtuelles ich" (als simuliertes produkt des objektivistischen modus) vs. "eigenem" körper - was dabei in der regel herauskommt, ist intrumentalisierendes und manipulatives verhalten auch sich selbst gegenüber. die exzentrische "körperlichkeit" im bl-kontext ist dabei imo unvermeidbar und auch mehrdimensional - einerseits verweist sie immer wieder auf das problem des wahrnehmungsmäßig "verlorenengegangenen" körpers (und damit auch eines kontinuierlichen sinngefühls), andererseits lässt sie sich in ihren bekanntesten formen - wie svv zb. - sowohl als versuch zur kompensation, zur kontrolle, aber auch zur "wiederaneignung" interpretieren.
beunruhigend finde ich dabei zunehmend, dass die "milderen" formen der obigen konstellation eigentlich den "normalzustand" für die meisten von uns ausmachen - deshalb bin ich der meinung, dass die phänomene, die du selbst ganz oben erwähnt hast, nur die spitze des eisbergs darstellen.
(ich bin dabei übrigens auch durchaus redundant, was das herumreiten auf diesen verhältnissen betrifft - aus zwei gründen: einmal, weil ich finde, dass das, was wir uns als "normalität" angewöhnt haben wahrzunehmen, immer am schwersten zu begreifen ist - zum anderen aber finde ich auch, dass diese struktur eine totalitäre realität im schlimmsten sinne hervorbringt, die bei näherer betrachtung an vielen ecken und enden auf ihren wahrscheinlichen ursprung verweist, oder doch zumindest auf ihr vielleicht wichtigstes funktionsprinzip.)
"Ich finde, die eleganteste "Lösung", auf die ich bisher stieß, gibt eigentlich Marsha M. Linehan mit ihrem Ansatz von der "Invalidierung" vor, damit wird im Übrigen auch eine bruchlose Kennzeichnung der Borderline-Traumatisierung möglich, entweder über direkte Gewalt, Traumata in der Biographie bzw., Familiengeschichte, Mißbrauch u.a., aber auch über chronische Invalidierung (deren stärkste Form wohl auch der Mißbrauch ist).
Dann wird auch klar, wie hier immer mehr des "Als-Ob" verstärkt wird, jede einzelne kleine Invalidierung von Tausenden (als Rückmeldung, daß etwas nicht stimmt, übertrieben sei, falsch empfunden ist, falsch geschlußfolgert usw.) gibt wieder einen kleinen Knacks beim Gegenüber in der eigen-gespürten Sphäre. Man ist dann nur auf der Ebene des "objektiven Kontrollbewußtseins" und argumentiert eh dauernd mit "richtig" oder "falsch" - aargh! Da bleib für Empathie wenig Platz, und es ist eigentlich klar, daß jemand diese Muster dann auch immer mehr übernimmt ("Selbstinvalidierung"). So hat man die 25% oder wie auch immer der Borderliner ohne Trauma-Erfahrung auch noch mit drin, als chronisch Invalidierte. Das Rechthaben ist dann Seuche und ständiger Herd für Ärger, Mißverständnisse und Dementis in der Biographie, die "Entfremdung", auch die Probleme, sich selber überhaupt gut einzuschätzen, bestehen ebenfalls."
interessant. wenn ich das richtig verstehe, wäre die chronische invalidisierung als synonym für kumulative traumata aunzusehen? ich habe mich - vielleicht aus ganz persönlich-erfahrungsmäßig herrührenden vorurteilen - bisher mit linehan nur sporadisch beschäftigt. der dbt stehe ich ziemlich skeptisch gegenüber. aber deine obige skizzierung der "als-ob-verstärkung" finde ich gerade recht spannend, weil ich die - meiner meinung nach vorhandenen - zusammenhänge zwischen trauma und simulation bisher noch recht nebulös wahrnehme.
"Wenig einleuchtend ist mir bisher bei Mertz der Gedanke der vorgeburtlichen Traumatisierung. Wie soll das konkret aussehen - daß die Mutter mit dem Embryo nicht spricht?, es über den Bauch streichelt?, oder sich zuviel Streß zumutet, raucht?, in lauten Umgebungen aufhält?, dadruch das Kind dauernd erschrickt, weil die Mutter auch hohes Adrenalin produziert? Hier bleibt Mertz für mich unangenehm vage-überzeugt."
was eher wieder am vorgehen von mertz liegt, teils zuwenig material anzuführen - die pränatalforschung hat handfeste ergebnisse aufzuweisen, und auch die möglichen wege pränataler traumatisierung sind heute zu einem großen teil sichtbar. eine zusammenfassung davon gibt´s bei lloyd deMause in seinem "emotionalen leben der nationen". weiteren lesestoff zb. hier, oder auch - speziell zum thema autismus - eine arbeit unter dem titel Prä- und perinatale Erfahrungen von Menschen mit autistischen Tendenzen (etwas herunterscrollen auf der seite).
"Eine wieder andere Frage wäre, wofür die autistische Ausprägung eigentlich in positiver Weise nützlich ist, ebenso welchen Nutzen die Ausprägung des Psychopathen hat, o.ä. Ich denke mir, evolutionär war beides potentiell für ein Kollektiv von sehr hohem Wert, denn die Autisten waren mit ihrer Hochfokussierung die Meister im Erkennen von Veränderungen, vielleicht auch im Erfinden, im Vertiefen von etwas Bestimmten. Solange nicht zuviele davon im Kollektiv auftraten, sondern nur ein Rand-Prozentsatz, konnte das sehr nützlich sein.
Ebenso nützlich scheint mir evolutionär gesehen auch ein gewisser Prozentsatz an einigermaßen gezähmten "Psychopathen" in der eigenen Gruppe, denn diese waren sicher oft überlebensfördernd für die Gruppe bei all' den Auseinandersetzungen und Gefahren. Sie konnten relativ angstfrei und schnell eingreifen, kämpfen und waren nicht von den Skrupeln der meisten befallen. Durchaus sehr nützlich! Als Vortrupp, als Kämpfer und Durchsetzungskräfte konnten sie sicher auch sehr viel Schutz ausüben. In der heutigen Moderne laufen solche Individuen immer Gefahr, als Auslaufmodell nicht mehr gebraucht zu werden - obwohl, ganz stimmt das ja auch nicht, vgl. auch die vielen Kriege des 20. Jhts., die ohne Psychopathen auch nicht so hätten funktionieren können (gewisse Mitleidlosigkeit, Angriffsschärfe, Gewaltausübung, oft (vermeintlich) zugunsten der eigenen Gruppe)."
hui. hattest du vor dem schreiben des obigen vielleicht schon kenntnis dieses beitrags? das ist ein sehr streitträchtiges thema, finde ich. wenn ich mal als beispiel für einen "positiven psychopathen" oskar schindler heranziehe - genau, den schindler - werden die obigen gedanken vielleicht konkreter. die wertung psychopath stammt dabei aus diesem text (achtung, .rtf-datei zum download) - und sie lässt sich vertreten, wie ich finde. angstfreiheit unter lebensbedrohlichen bedingungen als ein merkmal eines "psychopathischen" hirns ist ebenso vorhanden wie die damit verbundene suche nach dem "kick" emotional starker erlebnisse, den schindler bei seinen lebensrettenden unternehmungen unter täuschung der ss sehr genossen zu haben scheint. und eine identität - als retter - sprang dabei auch noch heraus.
ein problem dabei scheint mir aber darin zu liegen, dass ein solcher mensch - wie es mertz so schön formuliert hat - unter verschiedenen gesellschaftlichen bedingungen sowohl "ein bekannter moraltheologe als auch ein begnadeter folterer" werden könne - oder sogar widerspruchsfrei zwischen beiden rollen wechseln könnte.
"Mir tun manchmal die Leute, die heute als Psychopathen vor Gericht stehen, leid, wenn ich mir denke, was für eine begnadete Rolle sie in einer kriegerischen Horde vor 5000 Jahren vielleich gespielt hätten - eigentlich fungiert hier doch heute nur noch der Sport als Ersatzmöglichkeit zur Abfuhr, ansonsten laufen diese Persönlichkeiten heute bedauerlich leer und enden dann kriminell stigmatisiert, weil sich ihnen auch kein Rahmen für ihre "Fähigkeiten" anbietet."
ein anderes problem hingegen liegt für mich darin, dass derartige menschen heute eben unter umständen existieren, die eigentlich nur mittels kollektiver zusammenarbeit von primär authentizitätsfähigen menschen zu bewältigen sind. und darin können sie sich zum großteil eben nur destruktiv verhalten - die bestimmung des menschen als soziales wesen ist etwas, was einer autistischen und/oder soziopathischen struktur direkt zuwiderläuft. es sei denn, es herrschen eben grundsätzlich antisoziale verhältnisse, die objektivierung und verdinglichung als wahrnehmungsmodi bevorzugen.
also so wie heute. ich denke, dass die schlimmsten soziopathen (oder adäquat funktionierende personen) in ihrer mehrheit eben nicht nur nicht vor gericht landen - was am grundproblem dazu nichts ändern würde - sondern im gegenteil in relativen machtpositionen damit beschäftigt sind, das leben für milliarden von menschen unerträglich zu machen. mein mitleid hält sich also in grenzen.
"Wenn man so "evolutionär" weiterdenkt, lande ich bei der Vermutung, daß der Mensch als Generalist sowieso schon immer leicht in Nischen reinschlüpfen konnte und sich irgendwo anpassen konnte. Das ist keinesfalls nur eine simulativ-negative Wirkung, sondern in gewisser Weise absolut menschheits-konstitutiv. Zum Problem wird es eigentlich erst, wenn dieses Anpassungsphänomen so total ausgeformt ist, daß eine Person ständig hin- und herswitcht. Der Autist, der bei seinem Steckenpferd bleibt, hat ja sogesehen durchaus eine wiedererkennbare Identität qua Spezialhobby. Der Borderliner füllt dann, etwas anders in seiner Funktion, irgendwelche Lücken aus, die ihm die Gesellschaft heute bietet, und ist doch dabei auch ein hoher Gewinn für die schnelllebige Moderne. Schon wieder: wie nützlich, wie funktional! Mertz hat recht, wenn er sagt, daß das Manko sich nur privat-beziehungsmäßig auswirkt, ansonsten ist die völlige Anpassungsfähigkeit, ob in der Arktis oder Sahara, zutiefst menschlich und gerade typisch für die menschliche Entwicklung."
die "völlige anpassungsfähigkeit" wird aber bei dominanz grundsätzlich destruktiver verhältnisse in einer gesellschaft dann doch eher insgesamt zu einem suizidalen eigentor. nützlichkeit und funktionalität sollten nur in einigen, aber gerade nicht in den beziehungsaspekten des menschlichen lebens, eine große rolle spielen.
ich denke schon, dass ich verstehe, worauf Du hinauswillst - aber ich finde die tendenz Deiner aussagen zu - hm, positiv und in einem gewissen sinne auch relativierend.
*
auf zum dritten beitrag:
(...)"Hier noch ein paar Gedanken zu dem Autismus-Thema: ich glaube, daß Mertz sehr viel Wichtiges gesehen hat, an manchen Stellen könnte man seine Gedanken aber noch deutlich weiter ausdifferenzieren. Den Autismus einfach mit "Beziehungslosigkeit" gleichzusetzen, finde ich schon schwierig genug, zumindest auf intelligente Autisten (z.B. in der Definition der "Asperger") bezogen - diese haben zumindest zur Dingwelt oft Beziehungen von einer Bindungstiefe und Begeisterung, von denen der Durchschnitt der Bevölkerung nur träumen kann. Auch sind sie oft sehr "treu" in Bezug auf Standort, in Bezug auf ein paar wenige Freunde oder eben bei einem Spezialhobby."
okay, hier kommt es ganz darauf an, in welchem zusammenhang "beziehungslos" definiert wird. ich persönlich habe ein gewisses unbehagen dabei, bei verhältnisse zu toten(!) dingen von "beziehungen" zu reden - einfach aufgrund der gewaltigen unterschiede, die zu beziehungen unter menschen vorhanden sind. dazu lässt sich mit einigem recht davon reden, dass die von Dir genannten "beziehungen zur dingwelt" ja eher als ausdruck eines mangels als auch zur kompensation zu verstehen sind (ich weigere mich, die verbreitete tendenz mitzumachen, behinderungen hinweg zu definieren bzw. zu konstruieren. klar sind die gesellschaftlichen verhältnisse so zu gestalten, dass sie auch für menschen mit schweren einschränkungen gleich welcher art lebbar sind - aber nichtsdestotrotz gibt es gewisse einschränkungen, die deshalb nicht verschwinden - persönliche verluste, bei denen die betroffenen - wie ich finde - eher die nötigen räume zum trauern bekommen müssten, als darauf zu beharren, dass sie ja "nur anders" seien.)
Noch schwieriger wird es beim Simulationskriterium. Hier ist es gerade bei Autisten (Aspergern) oft genau andersrum als mertz es suggeriert: sie machen eine Mode gerade NICHT mit, oft als einzige sind sie völlig immun gegen solche "Simulations- und Vorzeige-Trends". Auch Hierarchien bedienen sie so gut wie gar nicht, können darin nicht mitsimulieren, sondern stören immer nur einen hierarchischen Betrieb. Wenn sie eine höhere Intelligenz-Ebene erreichen, ist ihr Leben oft viel unverwechselbarer als bei "normalen" Leuten, die sich umstandslos in irgendeine Firma oder irgendeine Berufsrolle einordnen können."
yep, da hast Du auch meiner wahrnehmung nach recht - bis auf den punkt, dass mertz eben das suggerieren würde: er redet beim "klassischen autismus", auch beim asperger-syndrom, ja eben vom simulationsunfähigen autismus. bekannte und gesellschaftlich in einem eingeschränkten sinne etablierte autistische menschen, wie zb. temple grandin, stellen hier in grenzen die ausnahme von der regel dar. es geht aber auch andersherum: je mehr eine gesellschaft insgesamt in ihrer sozialen basis beschädigt ist - also objektivierung/verdinglichung ebenso verbreitet sind wie die kompensatorischen als-ob-zustände - , desto weniger werden autistische menschen auffällig sein, jedenfalls gerade diejenigen, die wie die "intelligenten asperger" fähig sind, in nischen zu funktionieren.
vor dem obigen sehe ich ein problem bei mertz eher darin, dass er ungenügend differenziert: er macht zwar auf strukturelle ähnlichkeiten zwischen borderline, soziopathie und (asperger-)autismus aufmerksam - und zwar zurecht; beschäftigt sich aber nicht mit einigen wichtigen unterschieden, die durchaus vorhanden sind und zu teils sehr unterschiedlichem verhalten führen können.
"Es gibt dann auch Überschneidungen zwischen Aspergern und den wenig erforschten Sonderlingen und Eigenbrötlern, die man auch uner dem Begriff "Exzentriker" fassen könnte. Diese Exzentriker sind gesellschaftlich wahrscheinlich am wenigsten von allen ihren sämtlichen Mitgliedern"simulationsgefährdet" sie machen ja geradezu wesensmäßig alles immer anders als alle anderen, kreiieren einen einzigartigen Stil und lassen sich auch von den Meinungen anderer überhaupt nicht oder nur wenig beeinflussen."
ja, dieser aspekt geht bei ihm zu sehr unter. wobei mir hier folgende möglichkeit plausibel zu sein scheint: eine konstruierte als-ob-identität (ohne einfluß bzw. korrektur durch empathische fähigkeiten zb.) kann von ihren inhalten durchaus völlig konträr zum herrschenden mainstream sein, bleibt aber dennoch eine fake-identität, die dann u.u. wegen ihrer "originalität" und exzentrik sogar sehr erfolgreich werden kann. wesentlich scheinen mir in solchen fällen die sozialen (un-)fähigkeiten zu sein. und in diesem zusammenhang skizziert mertz ja eine variante, über deren mögliche konsequenzen ich mir bis heute noch nicht so recht im klaren bin: nämlich sein modell einer eigentlich psychophysisch sehr gesunden persönlichkeit, die aber aufgrund der gesellschaftlichen verhältnisse dazu gezwungen ist, gegen die als-ob-sozialen normen und gesetze des mainstreams regelmäßig zu verstoßen - eine authentische als-ob-soziopathie sozusagen, bei der die soziopathie erst aufgrund der herrschenden definitionen entstehen würde (tendenzen dazu sind zb. dort sichtbar, wo politische opposition derart psychiatrisiert wird).
gleichfalls ist zu bedenken, dass die simulationen von sozialem leben innerhalb großer bereiche der gesellschaft ebenfalls für authentizitätsfähige menschen eher belanglos und abstoßend sein können, mit der folge eines sozialen rückzuges bis hin zu symptomen von isolation - ein als-ob-autistisches verhalten.
ich hoffe, es wird deutlich, worauf ich hinauswill: eine konfusion allererster qualität nämlich, die sich eigentlich nur mit klaren und handfesten definitionen von authentizität und simulation lösen lässt
"Insofern ist im autistischen Kontinuum keinesfalls nur ein "Imitieren" auf niederem Niveau zu sehen. Es ist sicher kein Zufall, daß so viele Künstler und Wissenschaftler durchaus autistische Züge haben, das heißt auch: sie sind sehr auf sich selber konzentriert, und sie können über lange Zeit einen Gedanken fokussieren, der sie interessiert. Sie sind in gewisser Weise autark. Bezüge sehe ich dann auch im Übergang zum schizoiden Typus, von dem schon Riemann sagte: "sie feiern innere Feste, bei unbewegter äußerer Fassade!"
wobei ich nicht finde, dass diese autarkie in einem realen sinne vorhanden ist. sie ist fiktiv, und vielleicht wäre die menscheit insgesamt besser dran, wenn es nicht soviel derartige genialität geben würde.
"Diese unverwechselbaren Seiten der autistischen Lebensverfaßtheit betont Mertz viel zu wenig, weil er den Autismus in erster Linie als unterste psychopathologische Ebene sieht, auf der er dann den "Borderline-Autisten" als nächsthöhere Ebene setzt. Borderline funktioniert aber - trotz vieler Berührungspunkte zum Autismus - in wesentlichen Bereichen gänzlich anders.
Bei Borderline könnten letztendlich sogar schwächere "Ich's" wirksam sein als bei einem stabilen Autisten, der auf Asperger-Niveau agieren kann. Einige der Borderline-Probleme hat dieser Autist ja gar nicht. Er schlägt z.B. nicht im Nähe- und Distanzbereich wie eine "Flipperkugel" hin und her, dies ist aber das Schicksal des Borderliners. Der Autist ruht in vielen Fällen sehr selbstgenügsam, vielleicht sogar asketisch zufrieden, in sich selbst, ausgelastet mit seinem reichen Innenleben. Dagegen fühlt der Borderliner, wenn er allein ist, oft nur Leere, ist eigentlich für sich als primär "symbiotisches Individuum" gar nicht lebensfähig - der Autist auf höherem Niveau kann aber genau das gerade besonders gut und wünscht es oft auch gar nicht anders."
von der beschreibung her zutreffend, wie ich finde. allerdings führt mertz nach meinem verständnis die typischen positivistischen bl-symptome ja zu einem großteil auf die probleme zurück, die sich durch sozusagen ungenügende bzw. unangepasste simulationen ergeben - wer gemäß der herrschenden normen simulieren kann, fällt nach dem orthodoxem verständnis eben aus dem raster "krank" heraus - obwohl oder gerade weil eine solche person völlig beziehungsunfähig sein kann.
"Hier finde ich Mertz deswegen nicht sorgfältig genug in der Binnendifferenzierung. Freilich hat Mertz gerade, was Borderline betrifft, unglaublich viele hochzutreffende Feststellungen in seinem Buch, ja vielleicht ist es sogar neben Linehan und einigen anderen Quellen eine der besten theoretischen Grundlagen zum Verständnis überhaupt. Was ich nicht ganz verstehe, ist höchstens, wieso sich das Buch von Mertz für mich so stark nach einer "Abrechnung" mit dem Borderline-Komplex anfühlt."
naja, hier lässt sich nur spekulieren: als therapeut dürfte er vielleicht ähnliche erfahrungen wie viele andere therapeutInnen auch mit borderline gemacht haben - nur spricht er seine gedanken dazu aus und lässt auch seine schlechten emotionen zu, während das andere aus gründen einer in diesem fall nicht hilfreichen therapeutischen "neutralität" und einer quasi "political correctness" eben nicht tun.
das lässt sich auch kritisieren, während vielleicht die bei ihm thematisierte mögliche gesellschaftliche bedeutung von borderline und deren weitgehende ignoranz seitens vieler "professioneller" es eher nötig erscheinen lassen, auf rücksichtnahme zu verzichten. ich habe das buch selbst während einer phase kennengelernt, in der ich die noch "offiziell" als borderline klassifiziert gewesen bin - angenehm war das nicht, aber letztlich hat mich das zu einer qualitativ ganz anderen auseinandersetzung mit dem thema und auch mir selbst gezwungen.
"Beim Lesen hatte ich oft das Gefühl, daß Mertz das Leid der Borderliner merkwürdig weg-erklärt. Daß bis zu 10 % aller Borderliner sich schließlich suizidieren, erwähnt er angesichts seiner sonstigen Redundanz kaum, daß viele Borderliner ihr Leben dauernd als "unerträglich" wahrnehmen, scheint ihn nicht so sehr zu berühren, wie es z.B. bei Linehan ersichtlich ist, die von Individuen "ohne gefühlsmäßige Haut" spricht, analog zu Verbrennungsopfern - was ich viel realistischer finde schon angesichts der vielen Suizidanwandlungen von Borderlinern (= höchste Verzweiflungsstufe überhaupt). Hat Mertz sich durch irgendeinen Trick, hier vielleicht durch seinen eigenen sehr sezierenden, dadurch fast autismus-typischen Blick vom Mitgefühl absentiert, also zurückgezogen und abgewendet?"
erwähnen tut er beides ja schon, warnt aber vor zuviel authentischem mitgefühl - suizide bzw. deren androhungen zb. können (!) eben auch durchaus in erpresserischer / manipulativer absicht eingesetzt werden. es ist und bleibt ein eiertanz bei diesen themen.
ein paar kritikpunkte meinerseits noch hinterher: was mir völlig fehlt, ist das thema der dissoziation, die meiner meinung nach theoretisch immerhin eine alternative zum "als-ob-modell" bilden könnte (darauf werde ich in der traumareihe hier noch zu sprechen kommen). und überhaupt, das wissen der psychotraumatologie und gerade die diesbezgl. auseinandersetzungen mit und in der borderline-forschung tauchen bei ihm fast nicht auf - so fehlt auch der aspekt der "vertuschungsdiagnose", den ich persönlich in vielen mir bekannten bl-"fällen" im hintergrund sehe.
"So viel wieder ein paar Gedanken, spontan runtergetippt. Viele Grüße und vielleicht noch weitere spannende Gedanken-Austäusche später! Ubu"
dito, dito und dito ;-)
finde deine beiträge sehr inspirierend, und vielleicht haben ja noch andere mertz-leserInnen (und nicht nur die) lust, sich hier einzuklinken.
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"Mich hat ein Themenbündel interessiert, das man mit Begriffen wie Autismus, Als-Ob, Maschinenmensch, Psychopathen, Borderline, Simulation und ähnlichem kennzeichnen könnte, oder Stichwörter wie z.B. Komorbidität, Beziehungsstörungen, Traumata, hochstrittige Trennungen usw. Alles in allem sozialpsychologische Themen, etwas Persönlichkeitspsychologie oder differentielle Psychologie, auch philosophische Ansätze.
Habe zum Beispiel das Buch von Mertz auch sehr intensiv gelesen. So bin ich auch zuerst auf Deinen Blog gestoßen, wollte mal wissen, was er überhaupt für eine Rezeptionsgeschichte bekommen hat. Letztendlich aber offenbar so gut wie gar nichts angesichts eines solchen Buches."
yep, das "so gut wie gar nichts" teile ich. ich hatte früher schon mal kurz hier geschrieben, dass ich vor ein paar jahren deswegen den verlag angeschrieben hatte, um herauszufinden, ob die dort einen überblick zu den bisherigen rezensionen haben - aber sie konnten mir letztlich bis auf drei ausnahmen auch nur vom schweigen im (publizistischen) walde berichten. und das einige jahre nach dem erscheinen - für ein in einem fachverlag erschienenes buch zum thema borderline schlicht erstaunlich.
einen relativ "neuen" text, der sich ausführlicher auf etliches aus dem buch beruft, gibt es unter dem titel Erhöhter Grenzverkehr - Die Symbiose zwischen der Spätmoderne und dem Borderline-Syndrom. bezeichnend aber auch hier, dass der bezug aus einem nicht-psychiatrischen/psychologischen zusammenhang heraus stattfindet. zur bis heute fehlenden reaktion der sog. fachwelt kann ich mich nur nochmal selbst zitieren:
"dieses auffällige schweigen der fachwelt ist für mich - gerade im borderlinebereich, wo an sich jede veröffentlichung sehr bald von anderen professionellen kommentiert und rezensiert wird - inzwischen zwar einerseits verständlicher, stellt andererseits jedoch auch ein recht jämmerliches ausweichen dar - die thesen von mertz haben es wirklich in sich, dazu bringt er eine sehr scharfe kritik an der orthodoxen psychoanalyse sowie inspirierende beobachtungen zum westlich geprägten bewußtsein vor, ebenso einiges ketzerische zum geschlechterverhältnis - von der möglichen rolle der mütter bei psychischen störungen und der bedeutung der pränatalen phase nicht zu reden. viel explosives material also, um sich daran abzuarbeiten - aber stattdessen das erwähnte tiefe schweigen. und es geht dabei nicht um etwas beliebiges, was eigentlich egal ist - das buch kann für betroffene z.b. mit einer borderline-diagnose eine verheerende wirkung haben, und alleine schon deswegen wäre es eine sozusagen berufliche pflicht der überwiegend - in relation - hochbezahlten sog. professionellen, sich dazu zu äußern."(...)
vielleicht hast Du, ubu, mit deinen folgenden gedanken zu den möglichen gründen dieser ignoranz breits einiges benannt:
"Vielleicht ist es einfach zu schonungslos, zu mitleidlos, außerdem von der Sprache her selber etwas technoid wirkend und stellenweise redundant wie ein Zettelkasten, der noch nicht durchgeordnet ist. Und immer die seltsamen Überschriften plus 15 oder 30 Zeilen, dann wieder eine Passage, und so das ganze Buch. Die Thesen über "Hitlerismus" und "plötzlichen Kindstod" sind vielleicht auch etwas schrill geraten."
ich persönlich hatte mich schnell sowohl an die gewöhnungsbedürftige gliederung als auch die sprache (bei der er nebenbei gesagt mit seinem eigenen, im buch formulierten anspruch recht spektakulär gescheitert ist) gewöhnt - in diesem fall waren für mich die inhalte einfach so - hm, umstürzlerisch, dass ich eine primär formale kritik nicht besonders relevant finde.
mit deinem letzten satz hast du dazu zwei bereiche angesprochen, die tatsächlich problematisch sind: die thesen zu hitler sind in der form tatsächlich zu pauschal und zuwenig unterlegt - da hätte er sich zurückhalten oder aber genauer werden müssen. zum plötzlichen kindstod empfehle ich hingegen einmal eine recherche zur entsprechenden arbeit von arno gruen. das, was mir darüber bekannt ist, hat einen eigenen beitrag nötig - es geht dabei u.a. auch um die wirkung von selbsthilfegruppen im medizinischen bereich.
"Schon klar, daß dieses Buch nichts für die Zunft ist, auch weil Mertz so viel Fundamentalkritik übt - an den Manualen wie ICD und DSM, an der Psychoanalsye, an der überall fehlenden Unterscheidung von Authentizität und Simulation, usw. usf. - auch seine Beispiele sind ja nicht ohne - gerade angesichts borderline-artiger Helfer im Range von Psychiatern, Chefs usw."
ja. gerade der letztere punkt ist absolut heikel - ich weiß aus eigener erfahrung, dass seine aussagen diesbezgl. durchaus realitätsgetreu sind.
*
ich komme zum nächsten eintrag:
"Hallo Monoma, das Ganze hat mich nun so interessiert, daß ich noch etwas weiter gestöbert habe und nochmal das Gästebuch für einen Beitrag verwende.
Ich weiß nicht genau, von welchen Daten die Überlegungen zur Als-Ob-Persönlichkeit waren, die im Blog stehen. Jedenfalls interessiert mich dieses Thema auch sehr. Bei Mertz (und anderswo) fällt mir auf, daß er selber die Schwierigkeiten einräumt, Authentizität überhaupt zu beschreiben. Simulation kann man vielleicht noch eher entlarven, besonders über die Zeitschiene bei abrupten Wechseln (Beziehungsabbruch, rücksichtsloser Neuanfang, wie Mertz mal formuliert, Ortswechsel, viele Jobs usw.).
Was Authentizität dagegen ist, bleibt auch etwas diffus. Über den Körper hat man natürlich in gewisser Weise einen nicht hintergehbaren Zugang. Aber der Körper steht ja auch bei Borderlinern durchaus sehr im Zentrum. Man fragt sich also, wo eigentlich Authentisches verortet wird, denn es geht ja um mehr als nur um direktes "Lügen" oder "Schauspielern".
die schwierigkeiten mit dem begreifen dessen, was unter authentizität eigentlich verstanden werden kann / soll / muss, liegen aus meiner perspektive hauptsächlich darin begründet, dass wir uns in einer kultur befinden, deren mainstream aus diversen - und existenziellen - gründen nicht nur kein interesse daran hat, diesen seinszustand näher kennenzulernen sondern ihn sogar aktiv bekämpft - bekämpfen muss, da er die eigenen grundlagen zur implosion bringen könnte.
warum ich das finde, habe ich in vielen beitragen hier im- und explizit schon umrissen. und genaues wahrnehmen fördert eigentlich in so ziemlich allen gesellschaftlichen bereichen diesen zustand ans tageslicht. es reicht dafür bereits, sich mit den täglichen nachrichten zu beschäftigen.
deinen satz oben würde ich anders formulieren: der körper ist der nicht hintergehbare zugang, und er produziert durch seine "teile" gehirn / nervensysteme eben auch sämtliche phänomene der simulativen sphäre. was ja nicht das problem ist, sondern erst dann zum problem wird, wenn die hierarchie zwischen authentizität und simulation auf den kopf gestellt ist. die recht ausführliche theorie dazu bei mertz gehört für mich immer noch zum anregendsten, was ich jemals über das menschliche psychophysische funktionieren gelesen habe.
und das der körper zb. bei borderline-menschen auch "durchaus sehr im Zentrum" steht, widerspricht obigem meiner meinung nach nicht, sondern unterstützt bei genauer betrachtung dessen, wie der körper da im zentrum steht, eher noch die mertzschen aussagen.
ausgangspunkt ist dabei die konstellation "virtuelles ich" (als simuliertes produkt des objektivistischen modus) vs. "eigenem" körper - was dabei in der regel herauskommt, ist intrumentalisierendes und manipulatives verhalten auch sich selbst gegenüber. die exzentrische "körperlichkeit" im bl-kontext ist dabei imo unvermeidbar und auch mehrdimensional - einerseits verweist sie immer wieder auf das problem des wahrnehmungsmäßig "verlorenengegangenen" körpers (und damit auch eines kontinuierlichen sinngefühls), andererseits lässt sie sich in ihren bekanntesten formen - wie svv zb. - sowohl als versuch zur kompensation, zur kontrolle, aber auch zur "wiederaneignung" interpretieren.
beunruhigend finde ich dabei zunehmend, dass die "milderen" formen der obigen konstellation eigentlich den "normalzustand" für die meisten von uns ausmachen - deshalb bin ich der meinung, dass die phänomene, die du selbst ganz oben erwähnt hast, nur die spitze des eisbergs darstellen.
(ich bin dabei übrigens auch durchaus redundant, was das herumreiten auf diesen verhältnissen betrifft - aus zwei gründen: einmal, weil ich finde, dass das, was wir uns als "normalität" angewöhnt haben wahrzunehmen, immer am schwersten zu begreifen ist - zum anderen aber finde ich auch, dass diese struktur eine totalitäre realität im schlimmsten sinne hervorbringt, die bei näherer betrachtung an vielen ecken und enden auf ihren wahrscheinlichen ursprung verweist, oder doch zumindest auf ihr vielleicht wichtigstes funktionsprinzip.)
"Ich finde, die eleganteste "Lösung", auf die ich bisher stieß, gibt eigentlich Marsha M. Linehan mit ihrem Ansatz von der "Invalidierung" vor, damit wird im Übrigen auch eine bruchlose Kennzeichnung der Borderline-Traumatisierung möglich, entweder über direkte Gewalt, Traumata in der Biographie bzw., Familiengeschichte, Mißbrauch u.a., aber auch über chronische Invalidierung (deren stärkste Form wohl auch der Mißbrauch ist).
Dann wird auch klar, wie hier immer mehr des "Als-Ob" verstärkt wird, jede einzelne kleine Invalidierung von Tausenden (als Rückmeldung, daß etwas nicht stimmt, übertrieben sei, falsch empfunden ist, falsch geschlußfolgert usw.) gibt wieder einen kleinen Knacks beim Gegenüber in der eigen-gespürten Sphäre. Man ist dann nur auf der Ebene des "objektiven Kontrollbewußtseins" und argumentiert eh dauernd mit "richtig" oder "falsch" - aargh! Da bleib für Empathie wenig Platz, und es ist eigentlich klar, daß jemand diese Muster dann auch immer mehr übernimmt ("Selbstinvalidierung"). So hat man die 25% oder wie auch immer der Borderliner ohne Trauma-Erfahrung auch noch mit drin, als chronisch Invalidierte. Das Rechthaben ist dann Seuche und ständiger Herd für Ärger, Mißverständnisse und Dementis in der Biographie, die "Entfremdung", auch die Probleme, sich selber überhaupt gut einzuschätzen, bestehen ebenfalls."
interessant. wenn ich das richtig verstehe, wäre die chronische invalidisierung als synonym für kumulative traumata aunzusehen? ich habe mich - vielleicht aus ganz persönlich-erfahrungsmäßig herrührenden vorurteilen - bisher mit linehan nur sporadisch beschäftigt. der dbt stehe ich ziemlich skeptisch gegenüber. aber deine obige skizzierung der "als-ob-verstärkung" finde ich gerade recht spannend, weil ich die - meiner meinung nach vorhandenen - zusammenhänge zwischen trauma und simulation bisher noch recht nebulös wahrnehme.
"Wenig einleuchtend ist mir bisher bei Mertz der Gedanke der vorgeburtlichen Traumatisierung. Wie soll das konkret aussehen - daß die Mutter mit dem Embryo nicht spricht?, es über den Bauch streichelt?, oder sich zuviel Streß zumutet, raucht?, in lauten Umgebungen aufhält?, dadruch das Kind dauernd erschrickt, weil die Mutter auch hohes Adrenalin produziert? Hier bleibt Mertz für mich unangenehm vage-überzeugt."
was eher wieder am vorgehen von mertz liegt, teils zuwenig material anzuführen - die pränatalforschung hat handfeste ergebnisse aufzuweisen, und auch die möglichen wege pränataler traumatisierung sind heute zu einem großen teil sichtbar. eine zusammenfassung davon gibt´s bei lloyd deMause in seinem "emotionalen leben der nationen". weiteren lesestoff zb. hier, oder auch - speziell zum thema autismus - eine arbeit unter dem titel Prä- und perinatale Erfahrungen von Menschen mit autistischen Tendenzen (etwas herunterscrollen auf der seite).
"Eine wieder andere Frage wäre, wofür die autistische Ausprägung eigentlich in positiver Weise nützlich ist, ebenso welchen Nutzen die Ausprägung des Psychopathen hat, o.ä. Ich denke mir, evolutionär war beides potentiell für ein Kollektiv von sehr hohem Wert, denn die Autisten waren mit ihrer Hochfokussierung die Meister im Erkennen von Veränderungen, vielleicht auch im Erfinden, im Vertiefen von etwas Bestimmten. Solange nicht zuviele davon im Kollektiv auftraten, sondern nur ein Rand-Prozentsatz, konnte das sehr nützlich sein.
Ebenso nützlich scheint mir evolutionär gesehen auch ein gewisser Prozentsatz an einigermaßen gezähmten "Psychopathen" in der eigenen Gruppe, denn diese waren sicher oft überlebensfördernd für die Gruppe bei all' den Auseinandersetzungen und Gefahren. Sie konnten relativ angstfrei und schnell eingreifen, kämpfen und waren nicht von den Skrupeln der meisten befallen. Durchaus sehr nützlich! Als Vortrupp, als Kämpfer und Durchsetzungskräfte konnten sie sicher auch sehr viel Schutz ausüben. In der heutigen Moderne laufen solche Individuen immer Gefahr, als Auslaufmodell nicht mehr gebraucht zu werden - obwohl, ganz stimmt das ja auch nicht, vgl. auch die vielen Kriege des 20. Jhts., die ohne Psychopathen auch nicht so hätten funktionieren können (gewisse Mitleidlosigkeit, Angriffsschärfe, Gewaltausübung, oft (vermeintlich) zugunsten der eigenen Gruppe)."
hui. hattest du vor dem schreiben des obigen vielleicht schon kenntnis dieses beitrags? das ist ein sehr streitträchtiges thema, finde ich. wenn ich mal als beispiel für einen "positiven psychopathen" oskar schindler heranziehe - genau, den schindler - werden die obigen gedanken vielleicht konkreter. die wertung psychopath stammt dabei aus diesem text (achtung, .rtf-datei zum download) - und sie lässt sich vertreten, wie ich finde. angstfreiheit unter lebensbedrohlichen bedingungen als ein merkmal eines "psychopathischen" hirns ist ebenso vorhanden wie die damit verbundene suche nach dem "kick" emotional starker erlebnisse, den schindler bei seinen lebensrettenden unternehmungen unter täuschung der ss sehr genossen zu haben scheint. und eine identität - als retter - sprang dabei auch noch heraus.
ein problem dabei scheint mir aber darin zu liegen, dass ein solcher mensch - wie es mertz so schön formuliert hat - unter verschiedenen gesellschaftlichen bedingungen sowohl "ein bekannter moraltheologe als auch ein begnadeter folterer" werden könne - oder sogar widerspruchsfrei zwischen beiden rollen wechseln könnte.
"Mir tun manchmal die Leute, die heute als Psychopathen vor Gericht stehen, leid, wenn ich mir denke, was für eine begnadete Rolle sie in einer kriegerischen Horde vor 5000 Jahren vielleich gespielt hätten - eigentlich fungiert hier doch heute nur noch der Sport als Ersatzmöglichkeit zur Abfuhr, ansonsten laufen diese Persönlichkeiten heute bedauerlich leer und enden dann kriminell stigmatisiert, weil sich ihnen auch kein Rahmen für ihre "Fähigkeiten" anbietet."
ein anderes problem hingegen liegt für mich darin, dass derartige menschen heute eben unter umständen existieren, die eigentlich nur mittels kollektiver zusammenarbeit von primär authentizitätsfähigen menschen zu bewältigen sind. und darin können sie sich zum großteil eben nur destruktiv verhalten - die bestimmung des menschen als soziales wesen ist etwas, was einer autistischen und/oder soziopathischen struktur direkt zuwiderläuft. es sei denn, es herrschen eben grundsätzlich antisoziale verhältnisse, die objektivierung und verdinglichung als wahrnehmungsmodi bevorzugen.
also so wie heute. ich denke, dass die schlimmsten soziopathen (oder adäquat funktionierende personen) in ihrer mehrheit eben nicht nur nicht vor gericht landen - was am grundproblem dazu nichts ändern würde - sondern im gegenteil in relativen machtpositionen damit beschäftigt sind, das leben für milliarden von menschen unerträglich zu machen. mein mitleid hält sich also in grenzen.
"Wenn man so "evolutionär" weiterdenkt, lande ich bei der Vermutung, daß der Mensch als Generalist sowieso schon immer leicht in Nischen reinschlüpfen konnte und sich irgendwo anpassen konnte. Das ist keinesfalls nur eine simulativ-negative Wirkung, sondern in gewisser Weise absolut menschheits-konstitutiv. Zum Problem wird es eigentlich erst, wenn dieses Anpassungsphänomen so total ausgeformt ist, daß eine Person ständig hin- und herswitcht. Der Autist, der bei seinem Steckenpferd bleibt, hat ja sogesehen durchaus eine wiedererkennbare Identität qua Spezialhobby. Der Borderliner füllt dann, etwas anders in seiner Funktion, irgendwelche Lücken aus, die ihm die Gesellschaft heute bietet, und ist doch dabei auch ein hoher Gewinn für die schnelllebige Moderne. Schon wieder: wie nützlich, wie funktional! Mertz hat recht, wenn er sagt, daß das Manko sich nur privat-beziehungsmäßig auswirkt, ansonsten ist die völlige Anpassungsfähigkeit, ob in der Arktis oder Sahara, zutiefst menschlich und gerade typisch für die menschliche Entwicklung."
die "völlige anpassungsfähigkeit" wird aber bei dominanz grundsätzlich destruktiver verhältnisse in einer gesellschaft dann doch eher insgesamt zu einem suizidalen eigentor. nützlichkeit und funktionalität sollten nur in einigen, aber gerade nicht in den beziehungsaspekten des menschlichen lebens, eine große rolle spielen.
ich denke schon, dass ich verstehe, worauf Du hinauswillst - aber ich finde die tendenz Deiner aussagen zu - hm, positiv und in einem gewissen sinne auch relativierend.
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auf zum dritten beitrag:
(...)"Hier noch ein paar Gedanken zu dem Autismus-Thema: ich glaube, daß Mertz sehr viel Wichtiges gesehen hat, an manchen Stellen könnte man seine Gedanken aber noch deutlich weiter ausdifferenzieren. Den Autismus einfach mit "Beziehungslosigkeit" gleichzusetzen, finde ich schon schwierig genug, zumindest auf intelligente Autisten (z.B. in der Definition der "Asperger") bezogen - diese haben zumindest zur Dingwelt oft Beziehungen von einer Bindungstiefe und Begeisterung, von denen der Durchschnitt der Bevölkerung nur träumen kann. Auch sind sie oft sehr "treu" in Bezug auf Standort, in Bezug auf ein paar wenige Freunde oder eben bei einem Spezialhobby."
okay, hier kommt es ganz darauf an, in welchem zusammenhang "beziehungslos" definiert wird. ich persönlich habe ein gewisses unbehagen dabei, bei verhältnisse zu toten(!) dingen von "beziehungen" zu reden - einfach aufgrund der gewaltigen unterschiede, die zu beziehungen unter menschen vorhanden sind. dazu lässt sich mit einigem recht davon reden, dass die von Dir genannten "beziehungen zur dingwelt" ja eher als ausdruck eines mangels als auch zur kompensation zu verstehen sind (ich weigere mich, die verbreitete tendenz mitzumachen, behinderungen hinweg zu definieren bzw. zu konstruieren. klar sind die gesellschaftlichen verhältnisse so zu gestalten, dass sie auch für menschen mit schweren einschränkungen gleich welcher art lebbar sind - aber nichtsdestotrotz gibt es gewisse einschränkungen, die deshalb nicht verschwinden - persönliche verluste, bei denen die betroffenen - wie ich finde - eher die nötigen räume zum trauern bekommen müssten, als darauf zu beharren, dass sie ja "nur anders" seien.)
Noch schwieriger wird es beim Simulationskriterium. Hier ist es gerade bei Autisten (Aspergern) oft genau andersrum als mertz es suggeriert: sie machen eine Mode gerade NICHT mit, oft als einzige sind sie völlig immun gegen solche "Simulations- und Vorzeige-Trends". Auch Hierarchien bedienen sie so gut wie gar nicht, können darin nicht mitsimulieren, sondern stören immer nur einen hierarchischen Betrieb. Wenn sie eine höhere Intelligenz-Ebene erreichen, ist ihr Leben oft viel unverwechselbarer als bei "normalen" Leuten, die sich umstandslos in irgendeine Firma oder irgendeine Berufsrolle einordnen können."
yep, da hast Du auch meiner wahrnehmung nach recht - bis auf den punkt, dass mertz eben das suggerieren würde: er redet beim "klassischen autismus", auch beim asperger-syndrom, ja eben vom simulationsunfähigen autismus. bekannte und gesellschaftlich in einem eingeschränkten sinne etablierte autistische menschen, wie zb. temple grandin, stellen hier in grenzen die ausnahme von der regel dar. es geht aber auch andersherum: je mehr eine gesellschaft insgesamt in ihrer sozialen basis beschädigt ist - also objektivierung/verdinglichung ebenso verbreitet sind wie die kompensatorischen als-ob-zustände - , desto weniger werden autistische menschen auffällig sein, jedenfalls gerade diejenigen, die wie die "intelligenten asperger" fähig sind, in nischen zu funktionieren.
vor dem obigen sehe ich ein problem bei mertz eher darin, dass er ungenügend differenziert: er macht zwar auf strukturelle ähnlichkeiten zwischen borderline, soziopathie und (asperger-)autismus aufmerksam - und zwar zurecht; beschäftigt sich aber nicht mit einigen wichtigen unterschieden, die durchaus vorhanden sind und zu teils sehr unterschiedlichem verhalten führen können.
"Es gibt dann auch Überschneidungen zwischen Aspergern und den wenig erforschten Sonderlingen und Eigenbrötlern, die man auch uner dem Begriff "Exzentriker" fassen könnte. Diese Exzentriker sind gesellschaftlich wahrscheinlich am wenigsten von allen ihren sämtlichen Mitgliedern"simulationsgefährdet" sie machen ja geradezu wesensmäßig alles immer anders als alle anderen, kreiieren einen einzigartigen Stil und lassen sich auch von den Meinungen anderer überhaupt nicht oder nur wenig beeinflussen."
ja, dieser aspekt geht bei ihm zu sehr unter. wobei mir hier folgende möglichkeit plausibel zu sein scheint: eine konstruierte als-ob-identität (ohne einfluß bzw. korrektur durch empathische fähigkeiten zb.) kann von ihren inhalten durchaus völlig konträr zum herrschenden mainstream sein, bleibt aber dennoch eine fake-identität, die dann u.u. wegen ihrer "originalität" und exzentrik sogar sehr erfolgreich werden kann. wesentlich scheinen mir in solchen fällen die sozialen (un-)fähigkeiten zu sein. und in diesem zusammenhang skizziert mertz ja eine variante, über deren mögliche konsequenzen ich mir bis heute noch nicht so recht im klaren bin: nämlich sein modell einer eigentlich psychophysisch sehr gesunden persönlichkeit, die aber aufgrund der gesellschaftlichen verhältnisse dazu gezwungen ist, gegen die als-ob-sozialen normen und gesetze des mainstreams regelmäßig zu verstoßen - eine authentische als-ob-soziopathie sozusagen, bei der die soziopathie erst aufgrund der herrschenden definitionen entstehen würde (tendenzen dazu sind zb. dort sichtbar, wo politische opposition derart psychiatrisiert wird).
gleichfalls ist zu bedenken, dass die simulationen von sozialem leben innerhalb großer bereiche der gesellschaft ebenfalls für authentizitätsfähige menschen eher belanglos und abstoßend sein können, mit der folge eines sozialen rückzuges bis hin zu symptomen von isolation - ein als-ob-autistisches verhalten.
ich hoffe, es wird deutlich, worauf ich hinauswill: eine konfusion allererster qualität nämlich, die sich eigentlich nur mit klaren und handfesten definitionen von authentizität und simulation lösen lässt
"Insofern ist im autistischen Kontinuum keinesfalls nur ein "Imitieren" auf niederem Niveau zu sehen. Es ist sicher kein Zufall, daß so viele Künstler und Wissenschaftler durchaus autistische Züge haben, das heißt auch: sie sind sehr auf sich selber konzentriert, und sie können über lange Zeit einen Gedanken fokussieren, der sie interessiert. Sie sind in gewisser Weise autark. Bezüge sehe ich dann auch im Übergang zum schizoiden Typus, von dem schon Riemann sagte: "sie feiern innere Feste, bei unbewegter äußerer Fassade!"
wobei ich nicht finde, dass diese autarkie in einem realen sinne vorhanden ist. sie ist fiktiv, und vielleicht wäre die menscheit insgesamt besser dran, wenn es nicht soviel derartige genialität geben würde.
"Diese unverwechselbaren Seiten der autistischen Lebensverfaßtheit betont Mertz viel zu wenig, weil er den Autismus in erster Linie als unterste psychopathologische Ebene sieht, auf der er dann den "Borderline-Autisten" als nächsthöhere Ebene setzt. Borderline funktioniert aber - trotz vieler Berührungspunkte zum Autismus - in wesentlichen Bereichen gänzlich anders.
Bei Borderline könnten letztendlich sogar schwächere "Ich's" wirksam sein als bei einem stabilen Autisten, der auf Asperger-Niveau agieren kann. Einige der Borderline-Probleme hat dieser Autist ja gar nicht. Er schlägt z.B. nicht im Nähe- und Distanzbereich wie eine "Flipperkugel" hin und her, dies ist aber das Schicksal des Borderliners. Der Autist ruht in vielen Fällen sehr selbstgenügsam, vielleicht sogar asketisch zufrieden, in sich selbst, ausgelastet mit seinem reichen Innenleben. Dagegen fühlt der Borderliner, wenn er allein ist, oft nur Leere, ist eigentlich für sich als primär "symbiotisches Individuum" gar nicht lebensfähig - der Autist auf höherem Niveau kann aber genau das gerade besonders gut und wünscht es oft auch gar nicht anders."
von der beschreibung her zutreffend, wie ich finde. allerdings führt mertz nach meinem verständnis die typischen positivistischen bl-symptome ja zu einem großteil auf die probleme zurück, die sich durch sozusagen ungenügende bzw. unangepasste simulationen ergeben - wer gemäß der herrschenden normen simulieren kann, fällt nach dem orthodoxem verständnis eben aus dem raster "krank" heraus - obwohl oder gerade weil eine solche person völlig beziehungsunfähig sein kann.
"Hier finde ich Mertz deswegen nicht sorgfältig genug in der Binnendifferenzierung. Freilich hat Mertz gerade, was Borderline betrifft, unglaublich viele hochzutreffende Feststellungen in seinem Buch, ja vielleicht ist es sogar neben Linehan und einigen anderen Quellen eine der besten theoretischen Grundlagen zum Verständnis überhaupt. Was ich nicht ganz verstehe, ist höchstens, wieso sich das Buch von Mertz für mich so stark nach einer "Abrechnung" mit dem Borderline-Komplex anfühlt."
naja, hier lässt sich nur spekulieren: als therapeut dürfte er vielleicht ähnliche erfahrungen wie viele andere therapeutInnen auch mit borderline gemacht haben - nur spricht er seine gedanken dazu aus und lässt auch seine schlechten emotionen zu, während das andere aus gründen einer in diesem fall nicht hilfreichen therapeutischen "neutralität" und einer quasi "political correctness" eben nicht tun.
das lässt sich auch kritisieren, während vielleicht die bei ihm thematisierte mögliche gesellschaftliche bedeutung von borderline und deren weitgehende ignoranz seitens vieler "professioneller" es eher nötig erscheinen lassen, auf rücksichtnahme zu verzichten. ich habe das buch selbst während einer phase kennengelernt, in der ich die noch "offiziell" als borderline klassifiziert gewesen bin - angenehm war das nicht, aber letztlich hat mich das zu einer qualitativ ganz anderen auseinandersetzung mit dem thema und auch mir selbst gezwungen.
"Beim Lesen hatte ich oft das Gefühl, daß Mertz das Leid der Borderliner merkwürdig weg-erklärt. Daß bis zu 10 % aller Borderliner sich schließlich suizidieren, erwähnt er angesichts seiner sonstigen Redundanz kaum, daß viele Borderliner ihr Leben dauernd als "unerträglich" wahrnehmen, scheint ihn nicht so sehr zu berühren, wie es z.B. bei Linehan ersichtlich ist, die von Individuen "ohne gefühlsmäßige Haut" spricht, analog zu Verbrennungsopfern - was ich viel realistischer finde schon angesichts der vielen Suizidanwandlungen von Borderlinern (= höchste Verzweiflungsstufe überhaupt). Hat Mertz sich durch irgendeinen Trick, hier vielleicht durch seinen eigenen sehr sezierenden, dadurch fast autismus-typischen Blick vom Mitgefühl absentiert, also zurückgezogen und abgewendet?"
erwähnen tut er beides ja schon, warnt aber vor zuviel authentischem mitgefühl - suizide bzw. deren androhungen zb. können (!) eben auch durchaus in erpresserischer / manipulativer absicht eingesetzt werden. es ist und bleibt ein eiertanz bei diesen themen.
ein paar kritikpunkte meinerseits noch hinterher: was mir völlig fehlt, ist das thema der dissoziation, die meiner meinung nach theoretisch immerhin eine alternative zum "als-ob-modell" bilden könnte (darauf werde ich in der traumareihe hier noch zu sprechen kommen). und überhaupt, das wissen der psychotraumatologie und gerade die diesbezgl. auseinandersetzungen mit und in der borderline-forschung tauchen bei ihm fast nicht auf - so fehlt auch der aspekt der "vertuschungsdiagnose", den ich persönlich in vielen mir bekannten bl-"fällen" im hintergrund sehe.
"So viel wieder ein paar Gedanken, spontan runtergetippt. Viele Grüße und vielleicht noch weitere spannende Gedanken-Austäusche später! Ubu"
dito, dito und dito ;-)
finde deine beiträge sehr inspirierend, und vielleicht haben ja noch andere mertz-leserInnen (und nicht nur die) lust, sich hier einzuklinken.
monoma - 26. Feb, 14:57