Montag, 15. Dezember 2008

notiz: krisennews und -gedanken (11) [update]

zur situation in griechenland:

(...)"»Das System macht keine Fehler, das System ist der Fehler.« Diese schlichte Tatsache ist in Griechenland weit über die Anarchisten hinaus verinnerlicht bei den Schülern, Studierenden und Arbeitenden, die nicht nur in diesen Tagen gegen die Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen kämpfen. Sie alle setzen sich jeweils mit ihren eigenen Methoden zur Wehr – mit Kundgebungen, Schulbesetzungen, Schweigemärschen, Demonstrationen, mit Streiks, Werksbesetzungen, mit Steinen und Brandsätzen, mit Kerzen und Blumen. Und auch wenn in den eigenen Reihen die Auseinandersetzung über die Wahl der »richtigen« Mitteln oft heftig geführt wird, ist man von der in Deutschland bis zum G-8-Gipfel noch geradezu reflexhaft geleisteten Distanzierung von Gegengewalt weit entfernt.(...)

Die Angriffe auf Banken und Polizeiautos werden in den nächsten Tagen wieder auf das eher gewohnte Maß zurückgehen. Die Chance für Veränderungen im Land liegen in der beharrlichen Arbeit, an der Organisierung einer größtmöglichen Anzahl von Ausgebeuteten. Daran arbeiteten – wenn auch getrennt – die Kommunisten, die Linken, aber auch die Libertären und Anarchisten nicht erst seit den tödlichen Schüssen auf Alexis Grigoropoulos. Nur eben meist nicht im Rampenlicht der internationalen Aufmerksamkeit."


es finden weiterhin täglich in vielen städten und dörfern demonstrationen statt, viele universitäten sind besetzt, die letzten zahlen (per indymedia) sprechen auch von ca. 400 besetzten schulen. für den 20.12. wird aus griechenland zu einem
internationalen aktionstag aufgerufen. und die these von einer sozialen revolte erhärtet sich:

(...)"Laut einer in der Zeitung Kathimerini veröffentlichten Umfrage stuft die Mehrzahl der Griechen die Proteste als „Volksaufstand“ ein. Sechs von zehn sagten demnach, es handle sich um ein „Massenphänomen“ und nicht nur um eine protestierende Minderheit. Der konservative Zeitungsverleger Giorgos Kyrtsos meint, die Proteste seien Ausdruck einer weit verbreiteten Unzufriedenheit. „Wir treten jetzt in eine lange Periode der Wirtschaftskrise ein“, sagt er.

„Aber es gibt auch eine sich vertiefende soziale Krise, in Verbindung mit einem schwachen Staat. Wir befinden uns wirklich an einem Kreuzweg.“ Scharf kritisiert er das Verhalten der Regierung angesichts der Unruhen. „Das ist die einzige Regierung, an die ich mich erinnern kann, die es geschafft hat, nicht nur die rebellische Jugend, sondern auch die ordnungsliebende Menge gegen sich aufzubringen. Sie hat niemandem etwas anzubieten.“(...)


*

während hierzulande das weihnachtsgebimmel und -geklingel für verschärfte sedierung sorgt. manchmal ertappe ich mich bei der vorstellung, ob nicht tatsächlich tranquilizer im trinkwasser - aber nein, es ist dann doch wahrscheinlich "nur" die stinknormale soziale trance. die womöglich immer mehr dafür verantwortlich ist, dass uns der ganze laden bisher noch nicht um die ohren fliegt. beim studium diverser wirtschaftsblogs und -foren durch die letzten monate ist mir aufgefallen, dass die dortigen szenarien im abstand von ein paar wochen dann später auch im mainstream verkündet werden. und während dieser jetzt bei der schweren rezession angelangt ist, wird online schon an vielen orten die
depression als realistisches szenario gehandelt. der unterschied zwischen beidem? nun, ich würde das so überspitzt formulieren: in einer schweren rezession gehen wir in billigklamotten zur tafel, um uns dort mit resten abspeisen zu lassen. in einer depression hingegen finden wir uns womöglich ziemlich zerlumpt vor einer staatlichen suppenküche auf einem öffentlichen platz wieder. schafsmentalität natürlich vorausgesetzt.

*

der existenz von fehlwahrnehmungen und folgender schönrednerei allerorten wird dabei zugebenermaßen auch dadurch gefördert, dass sowohl die meisten zuständigen "experten" als auch erst recht die politik herzerfrischend wenig ahnung von der derzeitigen ökonomischen prozessen zu haben scheint - was soll man dann noch groß der bevölkerung zuwerfen, außer beruhigungspillen? wenn ich es - mit aller vorsicht - richtig begreife, ist noch nicht einmal die hier und da bereits begrabene finanzkrise des herbstes begriffen worden, geschweige denn beendet - einen blick in die konstruktivistische welt der finanzprodukte und undurchsichtiger bilanzen liefert einmal mehr wirtschaftsquerschuss, heute mit einer weiterbildung zur frage, was eigentlich
level-3-assets sind, und warum sie womöglich auch eine bedeutung für Ihr leben haben.

btw: kann sich eigentlich noch jemand an die zeit so von anfang september bis mitte oktober erinnern, als die lehman bros. den verdienten weg aller kapitalistischen institutionen antraten? ich meine die abermilliarden, die bereits vor den ganzen "rettungsschirmen" woche für woche von diversen zentralbanken rund um den globus in "die märkte" geschüttet worden sind. wer hat dieses geld real, wo ist es geblieben? und wer bezahlt die rechnung? fragen über fragen tun sich auf, und falls es in einigen jahren noch bücher und verlage geben sollte, prognostiziere ich schon mal eine flut von historischen rückblicken, ökonomischen selbstkasteiungen und soziologischen analysen.

*

das wörtchen "falls" oben steht da schon begründet - robert kurz macht sich in der taz gedanken zur
systemkrise, und verteilt am ende noch ein paar dezente watschen nach links:

(...)"Weltweit steht die marktwirtschaftlich befriedete politische Linke mit offenem Mund da. Alle pragmatische Realpolitik in der besten aller Welten erweist sich als Lebenslüge. Der Epochenbruch von 2008 dementiert nicht den von 1989, sondern bildet dessen Fortsetzung. Denn das Ende des östlichen Staatskapitalismus gehörte ebenso wie die asiatischen und lateinamerikanischen Krisenschübe der 90er Jahre und der Dotcom-Crash 2001 zu den Vorboten einer allgemeinen Weltmarkt- und Systemkrise.

Der Kapitalismus scheitert an seinen eigenen Kriterien. Politisches business as usual war gestern. Das wird sich spätestens dann herumsprechen, wenn die Krise in den Alltag der postmodernen Ich-AG-Menschen durchbricht."


yep, yep und yep. wir hatten die metapher hier schon vor ein paar wochen: "revolutionäre situation ohne revolutionäre". (danke dafür an g.)

*

und ich kann nur dazu raten, die metapher tatsächlich ernstzunehmen. denn die basis für eine revolution wird letztlich in unendlich vielen kleinen und gar unscheinbaren alltagssitutionen gelegt, die dann am ende eine art akkumulation der wut ergeben. oder auch "nur" das wachsen der erkenntnis, dass "es" so auf keinen fall weitergehen kann. was "es" dabei meinen kann, zeigt der folgende
artikel:

(...)"Das System ist grausam geworden und funktioniert eigentlich nicht gut - das beunruhigt." Overprocessing, Bürokratie, Arbeitsüberlastung, Stress bis zum Burn-out und Demotivation seien die Namen für diesen großen Frust.(...)

innere kündigung ist letztlich nur ein synonym für die aufkündigung der loyalität. erst zum "eigenen" betrieb, dann irgendwann auf die gesamte art der herrschenden ökonomie, dann folgt ein sprung zum staat - und dann irgendwann vielleicht im besten falle das, was im gestrigen beitrag der text aus griechenland so prägnant-poetisch auf den punkt brachte:

"Eine Loslösung von dem Warten auf andere Tage, zu einem Punkt, an dem so viele gleichzeitig dachten: „Das war es, kein Schritt weiter, alles muss sich ändern, und wir werden es verändern.“

yo!

*

bei weissgarnix fand sich vor ein paar tagen ein beitrag mit dem titel
Die anal-erotische Finanzkrise, den ich in wesentlichen teilen sehr ärgerlich finde. ein ausführlicher kommentar dazu, sobald ich mehr zeit zum schreiben habe. aber den wollte ich Ihnen schon vorher vorstellen, zumal er wenigstens einen versuch darstellt, die ganze geschichte mal aus einer völlig zu kurz kommenden und unterbelichteten perspektive zu betrachten.

*

noch etwas, gerade gefunden. und
ohne kommentar:

"Trotz des starken Wirtschaftswachstums in Indien haben sich im Jahr 2007 erneut mehr als 16 600 verarmte Bauern das Leben genommen. Die Zeitung "The Hindu" berichtete unter Berufung auf offizielle Statistiken, allein im westindischen Maharashtra hätten aus wirtschaftlicher Not über 4000 Bauern den Freitod gewählt. Die Gesamtzahl der Kleinbauern-Selbstmorde liege etwas unter der im Jahr 2006, als sich landesweit mehr als 17 000 Landwirte das Leben genommen hätten. Der Trend sei aber ungebrochen. Seit dem Jahr 1997 hätten sich 180 000 meist hoch verschuldete Bauern in Indien selbst getötet."(...)

*

edit am 16.12.: zwei weitere nachträge, die ich einfach mal mit rein packe.

der eindruck, dass manche mitmenschen nicht von hier bis zur nächsten ecke denken können, überkommt mich derzeitig öfter bei freudenausbrüchen angesichts des niedrigen öl- bzw. benzinpreises. ja hallo? da öl der treib- und schmierstoff der motoren der globalen kapitalistischen ökonomie darstellt, was bedeutet denn dann die tatsache, dass der preis aufgrund niedriger nachfrage so derart eingebrochen ist? und was bedeutet die immer heftiger verleugnete bis bekämpfte realität von
peak oil daher für die zukunft dieser art von ökonomie? richtig: Es reicht einfach nicht:

(...)""Ich bin Pessimist", behauptet Altvater von sich selbst. Entsprechend düster fällt die Zukunftsprognose aus, die er im Jahr 2005 in seinem Buch "Das Ende des Kapitalismus wie wir ihn kennen" aufgestellt hat: Altvater vertritt darin die These, dass das kapitalistische Wirtschaftssystem bald den Exitus erleiden wird, weil ihm seine wichtigsten Ressourcen ausgehen: Öl und Gas. "Unser Zivilisationsmuster ist dann am Ende", sagt Altvater.

Mit dieser Einschätzung steht er nicht alleine da. Im deutschsprachigen Raum haben sich bisher allerdings nur wenige Wissenschaftler mit der Frage beschäftigt, welche Folgen es für Wirtschaft und Gesellschaft haben wird, wenn fossile Energieträger in absehbarer Zeit zur Neige gehen.

Einen von ihnen ist Jörg Schindler, Geschäftsführer des Ludwig-Bölkow-Instituts für Systemtechnik in Ottobrunn, das sich mit umweltfreundlichen Energie- und Verkehrssystemen beschäftigt. Über sich selbst sagt Schindler, er sei Optimist, doch das Ergebnis seiner Studie zur Verfügbarkeit von Öl und Gas ist furchterregend: ,"Es könnte Dinge geschehen, die wir nie zuvor erlebt haben und die wir wahrscheinlich nie wieder erleben werden, wenn die Übergangsphase abgeschlossen ist", schreibt Schindler darin.

Sein zentraler Befund lautet: Die weltweite Ölförderung hat im Jahr 2006 ihren Höhepunkt erreicht und wird bereits im nächsten Jahr zurückgehen - und zwar unwiderruflich. Beim Erdgas sieht die Situation nur unwesentlich besser aus. Selbst neue Funde könnten den Rückgang der Öl-Produktion allenfalls bremsen, aber keinesfalls aufhalten.

Denn von den 48 wichtigsten Förderländern haben 33 ihr Fördermaximum bereits hinter sich. Nur ein Beispiel: Das Ölfeld Cantarell vor der mexikanischen Küste zählt zu den größten der Welt, seine Förderleistung bricht jedoch so stark ein, dass Mexiko voraussichtlich in fünf Jahren kein Öl mehr exportieren kann."(...)


die nicht mehr allzu gewagte prognose, die sich daraus zwangsläufig ergibt: die aktuelle krise wird kein ende mehr finden. jedenfalls solange nicht, wie nicht qualitative und grundsätzliche veränderungen nicht nur unserer art der ökonomie, sondern des gesamten lebensstils, mit absoluter priorität auf die agenda gesetzt werden. und gerade daran werden die "eliten" zum größten teil keinerlei interesse haben.

*

und was krise bedeutet, ist in den usa
immer offener zu beobachten:

(...)"Nahe dem Pentagon am südlichen Ufer des Potomac in einem grossen Einkaufszentrum stehen die Dinge entsprechend; nicht einmal unerhörte Discounts - «70 Prozent!» - animieren die Käufer. «Alle Schnäppchen, deren Preise mit 99 Cents enden, sind nochmals 30 Prozent verbilligt!», lockt die Managerin einer Bekleidungskette, ohne dass sich ihr Laden deshalb mit Kunden füllte.

Schon möglich, dass auch sie im Frühjahr, wenn die Zahl der Pleiten explodieren dürfte, auf der Strasse stehen wird. Nahezu 60'000 Betriebe und Firmen sind 2008 im Schlepptau der Krise in die Insolvenz geschlittert, darunter grosse Banken wie Lehman Brothers und kleine Klitschen, die ihren Inhabern gleichwohl den amerikanischen Traum garantierten. In Detroit hoffen die Autowerker unterdessen auf ein weihnachtliches Wunder, derweil Autohändler Verkäufer und Mechaniker feuern.

So steil sind die Anträge auf Arbeitslosenunterstützung angestiegen, dass 30 Bundesstaaten das Arbeitslosengeld auszugehen droht, während die Kassen zweier Staaten - Michigan und Indiana - bereits leer sind. Kalifornien steht vor einem Budgetloch von über 40 Milliarden Dollar, andere Staaten haben längst begonnen, Bedienstete zu entlassen und Projekte einzufrieren.(...)

Millionen Amerikaner haben ihre Wohnungen und Häuser bereits verloren, weitere Millionen werden sich 2009 dazugesellen - und Wohnviertel hinterlassen, deren unheimliche Leere sich nicht dem Einsatz einer Neutronenbombe verdankt, sondern dem Untergang des Turbokapitalismus. Mittlerweile wächst die Zahl der Hungernden und zehrt jeder Zehnte bereits von staatlichen Lebensmittelmarken.

«Mehr und mehr arbeitende Arme schliessen sich den Reihen arbeitsloser, verarmter und obdachloser Familien an», berichtete Carolyn Duff, die Vorsitzende der Vereinigung der Krankenschwestern in amerikanischen Schulen, vorige Woche bei einer Anhörung über die Lebensmittelkrise vor dem Landwirtschaftsausschuss des Senats. Das Land, lautete danach das Fazit des demokratischen Senators Patrick Leahy, befinde sich in einer «signifikanten Wirtschaftskrise, und Hunger ist eines der ersten Anzeichen, das wir in dieser reichsten Nation der Erde sehen».(...)


sollte man jetzt zynisch werden und gerade auch im angesicht einer meldung wie weiter oben stehend aus indien sagen, dass es ja mal wenigstens "die richtigen" trifft, nämlich die bewohnerInnen ausgerechnet des landes, welches wie kein zweites den kapitalismus global durchgesetzt hat? oder eher berücksichtigen, dass es auch in den usa größtenteils wieder diejenigen treffen wird, die eh die arschkarte gezogen haben? und hoffen, dass sich auch dort endlich etwas zu rühren anfängt?

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