Sonntag, 29. März 2009

notiz: krisennews und -gedanken (31)

heute aus zeitbedingten gründen nur in einer kurzversion. mehr mit einem schwerpunkt auf die laufenden weltweiten proteste in der nächsten woche.

*

bis dahin empfehle ich erstens einen
artikel von nils minkmar...

(...)„Die Leute sind sauer, aber noch lange nicht sauer genug“, schreibt Matt Taibbi, der politische Kolumnist des amerikanischen Rolling Stone: „Es ist vorbei. Kein Imperium übersteht es, dauerhaft lächerlich gemacht zu werden.“ Und er rechnet vor: Der Versicherungskonzern AIG hat in den letzten drei Monaten des vergangenen Jahres 27 Millionen Dollar pro Stunde verloren, 465 000 Dollar in der Minute. Und braucht noch mehr Geld. Und wollte noch vorletzte Woche seinen so empfindlichen Genies weitere Boni zahlen, und Privatflugzeuge und die Maniküre. In Deutschland haben wir bei der Dresdner Bank und der Hypo Real Estate Vergleichbares. Ein Staat, der hier weiter Geld rausrückt, setzt seine Legitimität aufs Spiel. Nichts untergräbt Regierungssysteme so schnell und wirksam wie die Lächerlichkeit.

Darum ist die Krise nun eine Krise der symbolischen Repräsentation und damit eine Machtfrage geworden."(...)


*

...zweitens einen
beitrag von tomasz konicz, der aus einer ganz anderen perspektive zu einem ähnlichen fazit gelangt und spezielle schlüsse hinsichtlich des agierens der linken zieht...

(...)"Wollte man das Wesen dieser nun alle Weltregionen erfassenden Krise auf einen kurzen, prägnanten Nenner bringen, so wäre es wohl dieser: Die Produktivkräfte sprengen gerade die Fesseln der kapitalistischen Produktionsverhältnisse. Es ist dies die klassische revolutionäre Situation, wie sie Marx im Vorwort „Zur Kritik der politischen Ökonomie“ vor 150 Jahren dargelegt hat: „Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen. (…) Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolutionen ein. Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Überbau langsamer oder rascher um.“ (MEW 13, S. 9)

Die Tragik unserer Epoche besteht nur darin, dass weit und breit keine revolutionäre Klasse, kein revolutionäres Subjekt auszumachen ist. Der ideologische Sieg des Kapitalismus scheint gerade in seiner Niederlage absolut zu sein, für breiteste Bevölkerungsschichten sind Alternativen zur kapitalistischen Vergesellschaftung schlicht undenkbar. Sollte keine breite, progressive, antikapitalistische Bewegung innerhalb des einsetzenden Krisenprozesses entstehen, droht uns der zivilisatorische Zusammenbruch. Die Aufgabe der revolutionären, antikapitalistischen Linken besteht zuvorderst darin, das öffentliche Bewusstsein über diese höchst gefährliche Situation – die jederzeit in Barbarei umschlagen kann – zu verbreitern und postkapitalistische, jenseits der uferlosen, fetischisierten Kapitalreproduktion angesiedelte gesellschaftliche Alternativen zu diesem autodestruktiven, spätkapitalistischen System zu diskutieren und aufzuzeigen.

Wir müssen – in den konkreten Kämpfen vor Ort – zuerst revolutionäres Bewusstsein schaffen; also das Bewusstsein darüber, dass wir uns in einer revolutionären Situation befinden, dass das kapitalistische System an seine Entwicklungsgrenzen gestoßen ist. Die konkrete Aktion, der Abwehrkampf vor Ort, der Streik, die Betriebsbesetzung, die Straßenblockade, die Demonstration – diese vor uns liegenden Kämpfe müssen bereits als Teil des Ringens um eine postkapitalistische Gesellschaft aufgefasst und propagiert werden. Wir müssten ja an konkreten Kämpfen ansetzen − mit den Menschen streiten, die in dieser Krise unterzugehen drohen, diese konkreten Kämpfe zusammenführen zu ihrem gemeinsamen, objektiven, um des Überlebens der menschlichen Zivilisation willen absolut notwendigen, scheinbar so „abstrakten“ Ziel: der Überwindung dieses über uns zusammenbrechenden kapitalistischen Systems."(...)


*

...drittens eine
meldung , die einerseits beispielhaft illustriert, was für situationen konicz im letzten zietierten absatz oben u.a. meint, und andererseits eben auch in der zwiespältigkeit sowohl der ziele als auch der aktionsform "hungerstreik" überhaupt die ganze schwierigkeit dessen deutlich macht, was mit "schaffung eines revolutionären bewusstseins" umschrieben wird (in letzter konsequenz ist das letztlich nichts anderes als eine qualitative änderung der eigenen neuronalen konfiguration - ein anderes fühlen und denken, teils bereits in räumen jenseits des bisher gewohnten und "normalen" angesiedelt):

(...)"Sie sind entschlossen, für ihre Jobs zu kämpfen, sie wollen arbeiten. Dafür treten sie jetzt sogar in den Hungerstreik: Drei Leiharbeiter von VW Nutzfahrzeuge in Hannover haben ein Zelt auf dem Parkplatz vor dem Werkstor 3 des Unternehmens aufgebaut. Ihre Verträge laufen zum 31. März aus und wurden nicht verlängert. "Wir bleiben hier, bis man auf unsere Forderungen eingeht", sagt Oguzhan Batur. Seine beiden Kollegen Tufan Cicek und Isa Güner nicken zustimmend. Die drei Männer drängen sich um einen kleinen Gas-Heizstrahler, doch der eisige Wind, der über den Platz fegt, dringt durch die Ritzen der Planen.

Seit rund zwei Jahren arbeiten die Männer in der Montage des Unternehmens. "Wir haben unsere Kraft investiert, auch am Samstag gearbeitet, Krankheitstage hat sich keiner erlaubt", schildert Batur. Immer mit der Hoffnung, übernommen zu werden. Doch die Verträge von rund 900 Leiharbeitern bei VW Nutzfahrzeuge sollen nicht verlängert werden, hatte Vorstandschef Stephan Schaller am Mittwoch mitgeteilt. Ziel sei es, die Beschäftigung der Stammbelegschaft mit etwa 18.000 Jobs zu sichern. Das Unternehmen erwartet einen drastischen Umsatzrückgang. Weltweit will der Konzern in diesem Jahr alle noch verbliebenen 16.500 Leiharbeiter-Stellen streichen."(...)


"krankheitstage hat sich keiner erlaubt", und die sich u.a. in eben solcher selbstgefährdung ausdrückende bereitwilligkeit, sich selbst von den kapitalisten vernutzen zu lassen, "zahlt sich nun noch nicht mal aus" - so dürfte spekulativ einer der gedankengänge bei den hungerstreikenden sinngemäß lauten. was wäre hier revolutionäres bewusstsein? vielleicht erkenntnisse darüber, dass die leiharbeit nur das i-tüpfelchen auf dem täglichen skandal der kapitalistischen zwangslohnarbeit darstellt, dazu noch die autoindustrie gesamtgesellschaftlich ein auslaufmodell darstellt und noch so bereitwillige verwandlung in arbeitswillige nichts an den benannten fakten und auch nichts daran ändern wird, dass die "arbeitgeber" die leiharbeiter eben nur als kalkulierbare und am leichtesten handhabbare größe in ihren kalkulationen betrachten, die in einer situation wie jetzt eben auch so behandelt werden? vielleicht aber auch ganz praktikable alternativen zur frage, wie diese männer sich selbst und ihre familien zukünftig ernähren können - ohne strukturen, die dazu führen, dass sie selbst, aber auch andere menschen in ganz anderen regionen unter ihrer arbeit bzw. den arbeitsbedingungen und den von ihnen hergestellten produkten zu leiden haben?

der hungerstreik als aktionsform scheint mir jedenfalls mehr als alles andere ein sehr passender ausdruck des eben nicht vorhandenen revolutionären bewusstseins bei den leiharbeitern zu sein - und das zu ändern, dürfte für eine sich als umwälzend begreifende linke tatsächlich in der kommenden zeit - in der mit mehr solcher aktionen zu rechnen ist - eine hauptaufgabe darstellen.

*

und viertens müssen geschichten wie die folgende, welche die inzwischen in den heulenden wahnsinn driftenden systeminternen
widersprüche deutlich machen, breit bekannt gemacht und entsprechend kommentiert werden:

(...)"F. ist arbeitslos und Hartz-IV-Empfänger. 351 Euro vom Staat und der Zuschuss zur Miete reichen kaum zum Leben. F. setzt sich in der Fußgängerzone auf den Boden, stellt Blechdose und Pappschild auf und hofft, dass Passanten ein paar Münzen übrig haben. Er bettelt.

Im Behördendeutsch handelt es sich bei den Almosen allerdings um "zusätzliche Einkünfte von Leistungsempfängern". Der Mann hatte Pech: Ein Sachbearbeiter vom Sozialamt passierte in der Mittagspause die Stelle, an der Klaus F. bettelte, erkannte den Mann und schaute dann - nicht nur einmal - ganz genau hin.

In einem Brief vom Fachbereich Soziales der Stadt Göttingen konnte F. später lesen: "In den letzten Tagen habe ich Sie mehrfach gesehen, wie Sie vor dem Rewe-Supermarkt (...) gebettelt haben. Zuletzt lagen am 3.1. 2009 in der Mittagszeit circa sechs Euro und heute gegen 13 Uhr etwa 1,40 Euro in einer Blechdose."

Der pflichtgetreue Staatsdiener rechnete die Beträge hoch und kündigte an: "Ich beabsichtige daher, (...) einen Betrag von 120 Euro als Einkommen durch Betteln anzurechnen." Künftig werde Herr K. nur noch 231 Euro Unterstützung aus Hartz IV monatlich erhalten.

Noch nie hat das Sozialthermometer in Deutschland eisigere Temperaturen angezeigt. "Uns ist bundesweit kein ähnlicher Fall bekannt", sagt Martin Grönig vom Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband, "so weit unten waren wir noch nie".(...)

Die Göttinger Vorgehensweise, sagt Manfred Grönig vom Paritätischen Wohlfahrtsverband, verdeutliche aber einen Trend: "In der Sozialpolitik wird an allen Hebeln gedreht." Dass ein Sachbearbeiter sich überhaupt legitimiert fühle, in solch einer Sache aktiv zu werden und nicht einfach weitergehe zeige, "dass die Koordinaten verrutscht sind".

Die Stadt Göttingen hat Klaus F. inzwischen zu seinen Einkünften befragt und den "vorläufigen Bescheid wegen der vorgesehenen Kürzung der Leistungen korrigiert"; zurückgenommen hat sie ihn nicht."


in ihrer exemplarischen weise zeigt diese geschichte in zeiten gleichzeitiger milliardengeschenke an bankster und manager auf, was all das gerede von "sozialer marktwirtschaft" und dem "bestmöglichen system" tatsächlich für einen platz verdient - nur noch den in der mülltonne.

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