Sonntag, 28. März 2010

assoziation: zu einigen erstaunlichen aspekten eines popkulturellen urknalls

und nun zu etwas ganz anderem - nein, eher zu einer der anderen seiten der medaille namens "herrschende verhältnisse".

*

wenn bisher hier die rede auf die welten des showbizz kam, dann meist in eindeutigen kontexten - ob sich das bspw. nun auf
heidi klum und ihre anorektischen supermodels bezog, mögliche borderline-tendenzen bei leuten wie angelina jolie oder auch die traumatische biographie eines michael jackson - stets ging es um den versuch der darstellung dessen, wie sich der ganz normale gesellschaftliche wahnsinn in vielfältigen formen gerade auch in (pop-)kulturellen bereichen manifestiert, ausdrückt und ein -teils verwirrendes, weil verzerrtes - spiegelbild seiner selbst liefert. das ist meiner meinung auch letztlich beim gleich folgenden beispiel nicht groß anders; dennoch gibt es ein paar unterschiede, die ich ziemlich interessant finde. auch deshalb, weil es sich - bisher - um ein spezifisch "deutsches" phänomen handelt.

*

"Vergangene Woche ist Lena Meyer-Landrut in Berlin gewesen, da sind sie bei n-tv fast ein bisschen ins Schleudern geraten. Die Nachricht traf den Nachrichtensender offenbar ebenso unvorbereitet wie den Rest der Republik, es folgten hektische Minuten. Die laufende Politikberichterstattung wurde unterbrochen, die Moderatoren im Studio erklärten, Lena Meyer-Landrut sei jetzt in Berlin und schalteten live in die Innenstadt. Eine wackelige Kamera zeigte Lena am Brandenburger Tor, Lena vor Geschäften, Lena auf einer Bank. Am unteren Bildrand lief immer wieder ein Schriftzug entlang, auf dem stand: «Lena auf Visite in Berlin.» Das war auch der Tenor der Berichterstattung eines einigermaßen aufgewühlten Kommentators." (...)

das obige ist die einleitung zu einem presseartikel mit dem titel
Verliebt in die Hoffnung auf ein besseres Morgen , aus dem ich auch im späteren verlauf noch öfter zitieren werde - alleine die überschrift ist bemerkenswert und auch in gewisser hinsicht treffend. lena meyer-landrut also, das "neue deutsche fräulein wunder", in das sich "die republik verliebt" hat (ebenfalls alles pressezitate der letzten tage). eine republik, in der wir es u.a. gerade mit massiven legitimationskrisen zu tun haben - "die politik" insgesamt, banken, kirchen... - überall bröckelt nicht nur der lack ab, sondern es fallen ganze steine aus den tragenden institutionellen mauern heraus. und eine gesellschaft, in der eine eigentümliche apathie herrscht, was ihre eigene gegenwart und zukunft anbelangt. vor diesem hintergrund finde ich das, was da alles rund um eine achtzehnjährige frau passiert, ziemlich spannend.

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persönlich bin ich das erstemal vor ca. zwei wochen in einem zeitungsartikel auf sie aufmerksam geworden, und zwar durch die sinngemässe aussage, "die lena" sei so verdammt authentisch - wen wundert´s, dass mich besonders dieses wort zu ersten recherchen gebracht hat?

können Sie sich meine einigermaßen fassungslose überraschung vorstellen, als ich nach recht kurzer zeit feststellte, dass ich selbst - entgegen jeglicher eigener erwartung und nach ansicht einiger videos von und interviews mit ihr im netz - beeindruckt war? das stürzte mich wirklich in einige verwirrung - ich bin weitgehend tv-abstinent, hasse besonders castingshows (über die sowieso einiges anzumerken wäre; georg seßlen war´s glaube ich, der ende 2008 in einer kleinen reihe in konkret sehr schön herausgearbeitet hat, warum diese art shows perfekt in das zeitalter von hartz-IV und prekären arbeitsverhältnissen passt - und das liegt nicht nur am zugrundeliegenden motiv der selektion) wie die pest; nehme den "grand prix" bzw. "eurovison song contest" seit jahren gar nicht wahr oder nur ausnahmsweise als mehr oder weniger belustigenden trash; höre überwiegend elektronische instrumentalmusik - und da saß ich nun, sah mir im netz mit vergnügen auftritt nach auftritt einer singenden schülerin in einer castingshow für eben diesen contest an - und versuchte dahinterzukommen, was zum teufel mich da so offensichtlich berührt. mittlerweile glaube ich, eine antwort gefunden zu haben - aber dazu später.

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weil die blanken fakten bereits ein wichtiger teil der ganzen geschichte sind (und weil ich vermute, dass nicht wenige leserInnen hier vielleicht zwar schon über den namen gestolpert sind, dann aber müde abgewunken haben), hier noch einmal die geschichte im schnelldurchlauf:

irgendwann vor ein paar monaten fährt eine schülerin kurz vor dem abitur zu den vorcastings für die auswahlshows "unser star für oslo", nach eigener aussage völlig "auf eigene faust" und mit der motivation, sich mal von "professionellen" hinsichtlich ihrer gesanglichen fähigkeiten beurteilen zu lassen. abgesehen von ein paar auftritten in einer schulband hat sie keinerlei erfahrungen. sie wird von tausenden mitausgewählt, tritt irgendwann im februar als letzte in der ersten show auf, hat vorher auf ihrem eigenen gewählten coversong gegen die ratschläge der initiatoren - sinngemäß "zu ungewöhnlich" - bestanden - "sonst fahr´ ich halt wieder" - und - bumm.

Lena Meyer-Landrut - My Same
Found at abmp3 search engine

dieser song war tatsächlich der urknall in dem sinne, dass sie damit und besonders mit der art ihrer performance sofort vielen leuten auffiel - als ich in der letzten woche mal versucht habe, die ganze entwicklung anhand der netzdaten zu rekonstruieren, liess sich das verifizieren. der rest ist heute schon (musik-)geschichte: bis zur finalen show coverte sie primär mehr oder weniger "independent"-material (u.a. the cure, the bird and the bee u.ä.), wurde wieder und wieder gewählt - und beendete die auswahl mit ihrem geradezu zwangsläufigen sieg sowie den ersten songs, die wirklich neu waren und speziell für den contest geschrieben wurden.

was daraus aktuell geworden ist: alle drei finalsongs mit erscheinen sofort unter den top-five der charts, "goldene schallplatte" (150.000 verkäufe) knapp eine woche nach veröffentlichung für das "oslo-lied" satellite, inzwischen drei millionen aufrufe für das entsprechende video alleine auf you tube, über 60.000 fans bei facebook, aufploppende lena-foren und -blogs im netz, aberhunderte von presseartikeln, nach ihrem sieg ein empfang im rathaus mit oberbürgermeister und unter grösserer öffentlicher anteilnahme, rasant ausbreitende tv-präsenz... kurz: ein klassischer hype von allerdings wirklich ungewöhnlichen dimensionen.

*

don´t believe the hype - sicher. und auch ist richtig, was zb. der folgende
kommentar aus der "taz" auf dem punkt bringt:

"Endlich Oslo! Endlich Lena Meyer-Landrut!

Vorbei der Stress am Arbeitsplatz, vorbei die Missbrauchsskandale im TV, die ganze korrupte Politikschose, vorbei das Klimageschimpfe, die nie enden wollende Wirtschaftskrise und ihre drohenden Folgen, vorbei das Elend auf der Welt.
"Endlich mal wieder richtig ABSCHALTEN!"

Vorbei die elende belastende feministische Kritik am Sexismus und extremen Schönheitswahn. An blutjungen, perfekten Dingern, die quirlig auf der Bühne rumstolpern und mit den Wimpern klappern, um dann von Raab angebaggert, Bohlen erniedrigt oder dem schmierigen Stalker verfolgt wird.
"Wir sind modern und sexy - und wir haben Spaß"

Vorbei auch das elende Gefühl in einer kranken Gesellschaft der totalen Konkurrenz leben zu müssen, in der man nicht mal bei besten Freunden weiß ob man ihnen immer richtig vertrauen kann.
Sich wie im Hamsterrad fühlt, um es dem Chef recht zu machen, der dann wegen schnelleren Hamsterrädern anderer pleite geht.
"WIR sind eine große Familie"

Vorbei auch unsere verkackte Geschichte, die logischerweise bis heute andauert. Verdammt all das erzeugte Leid der Alten, über das man lieber nicht mehr sprechen möchte.
"Wir sind wieder wer - und wir sind hier im HEUTE"

Vorbei dieser ganze Hippiekram von Kulturkritik und ewiger Ernsthaftigkeit. Von Menschen, die immer nur vom Elend reden müssen. anstelle auch mal fröhlich zu sein, wenn sie Raab, Bohlen und v.a. Lena Meyer-Landrut sehen.
Es gibt auch schöne Seiten an der Welt.

365 Tage im Jahr.
24 Stunden am Tag abrufbereit - IM FERNSEHEN!
Schalt dich richtig krass und lange weg!
Für nur 17,10 im Monat die volle Dröhnung frei Haus."


alles durchaus treffend - und trotzdem: gerade die linke - im weitesten sinne - hat in der vergangenheit mehrheitlich speziell auf mainstream-(pop-)kultur mit oft gar nicht mal unberechtigter (im sinne von verständlicher) herablassung reagiert, dafür aber den preis gezahlt, die relevanten informationen über die eigene gesellschaft, die regelmässig in solchen massenphänomenen stecken, nicht wahrzunehmen. meiner erinnerung nach war es che guevara, der sinngemäss sagte, dass es mit die erste pflicht eines revolutionärs sei, wahrzunehmen, was real vorhanden ist. und in diesem fall ist ein teil der realität bspw. die repräsentativität einer aussage wie der folgenden, ebenfalls aus dem entsprechenden kommentarteil der "taz":

"Die junge Dame ist ein Erlebnis und ich hoffe, sie bleibt so. Es macht Spaß ihr zuzuhören und das ist für mich der Faktor, nach dem ich gewählt habe.

Woran das hängt kann ich nicht sagen, aber es scheint vielen so zu gehen."


die frage "woran hängt´s denn" ist dabei für mich die interessante - zunächst ist festzuhalten, dass sich die "bezaubernde wirkung" der lena m-l nicht unbedingt durch das bloße hören ihrer songs einstellt (auch wenn ich persönlich ihre stimme durchaus angenehm finde), sondern besonders dann, wenn dazu ein visueller und bewegter eindruck von ihr vorhanden ist - und der stellte sich bisher oftmals so dar (nochmal ein zitat aus dem anfangs verlinkten "Verliebt in die Hoffnung..."):

(...) "Wenn Lena auftritt und singt, dann sieht sie meist ein bisschen ungelenk aus. Ihre Beine stellen sich hin und wieder kurz zu einem X, ihre Bewegungen sind ein bisschen ruppig, ihre Gestik unbeholfen. In der Summe mag all dies nicht perfekt sein, aber weil Lena keinen Hehl aus ihrer Nicht-Perfektion macht, wirkt sie irgendwie anmutig. Und weil sie versteht, was sie singt, weil sie sich bemüht zu erzählen, was das Lied sagen will, werden ihre Bewegungen zu einer Art Ausdruckstanz ihres Gesangs. Sie ist authentisch, sie ist sie selbst. Das vor allem." (...)

oder wie sie es selbst ausdrückt:

"ich tanze so, wie ich tanze - so tanze ich"

das im besagten artikel eine seite vorher zu lesen ist...

(...) "Wenn die Jugend nicht weiß, wogegen sie rebellieren soll, muss sie sich eben selbst inszenieren. Das gelingt Lena so gut, dass man vor Staunen kaum den Mund geschlossen halten kann." (...)

...mag dabei ausdruck des unausgesprochenen konsens vom (irr-)glauben daran sein, dass authentizität immer nur als inszenierung / simulation daher kommen könne, besonders im öffentlichen raum. auf letzteres bezogen, mag das im regelfall so sein; allgemein aber ist das schlicht unsinn.

nochmal aber zurück auf die visuelle ebene: das es offenbar notwendig ist, sie zu hören und dabei zu sehen, lässt sich durchaus als ersten hinweis darauf betrachten, welche wirkungsebenen hier beteiligt sind. und dabei geht´s noch nicht mal um ihr durchaus hübsches äusseres (damit steht sie unter jungen frauen nicht alleine da), auch nicht um eine primär irgendwie sexuelle ebene (im gegenteil finde ich, dass sie an ausstrahlung verliert, wenn sie - wie bei einigen ihrer letzten tv-auftritte - betont als vamp im hautengen kleid und geschminkt mit roten lippen daherkommt), sondern tatsächlich um ihre art zu sein.

was ich damit meine, wird vielleicht besser nachvollziehbar durch den folgenden zusammenschnitt:



kurz: wenn sie aufgeregt ist, ist sie aufgeregt (mit immer wieder interessanten wortfindungsstörungen ;-), wenn sie sich freut, freut sie sich, wenn sie - und so weiter. alles, von der ausdrucksvollen mimik bis zur gestik, spricht einfach nur davon, dass hier jemand ohne sich groß darüber gedanken zu machen, mehr oder weniger situationsangemessen, d.h. ohne grössere, aus der eigenen selbst- und fremdwahrnehmung resultierende verzerrungen, reagiert und agiert. in längeren interviews, in denen sie etwas ruhe hat, verschwinden die benannten wortfindungsstörungen völlig, und dann ist zu sehen, dass sie durchaus reflektiert mit sich und ihrer situation umgehen kann. dazu eine immer wieder durchschimmernde selbstironie - als mir das alles langsam bewusster wurde, war mir auf einmal auch klar, dass meine erwähnte verwirrung zu einem teil daher rührte, weil mir die gefühle, die ich bei der wahrnehmung der lena m-l spüre, nicht unbekannt sind. sehr ähnliche habe und hatte ich immer dann, wenn ich in meinem leben mit menschen zusammen gekommen bin, die ich als im einklang mit sich selbst (ein synonym für authentizität) wahrgenommen habe, mithin also als von der traumatischen matrix um uns herum relativ wenig be- und geschädigt. von solchen menschen gibt es offenbar so wenige hier, dass sie in meiner wahrnehmung regelmässig in form eines peaks auffallen. sie haben eine entspannte (und entspannende) ausstrahlung, vermitteln eine oft untergründige alltagsfreude, können sich einlassen und machen es einem bspw. auch leicht und selbstverständlich, in ihrer anwesenheit ohne angst eigene fehler und defizite einzugestehen.

ein user in einem fanforum bringt das wesentliche in eigenen worten auf den punkt (und nein, ich habe das nicht geschrieben, auch wenn ich es ähnlich formulieren würde):

"wenn ich auch mit recht von lena bezaubert bin, ist mir ihre art nichts fremdes oder gar verrücktes, wie man es oft bezeichnete. so wie sie zb. in dem ard-interview reagierte, verhält man sich unter guten freunden auch. mit ihrem charme macht sie jedes gegenüber zu ihrem freund und ist dabei so unbekümmert und present, das man ihr ihre gedanken, gefühle und worte einfach abnimmt.
ich kann lena auf den kopf zusagen das sie mit sehr viel liebe und nähe aufgewachsen ist und fühle mich da sehr an meine eigene kindheit erinnert. bis zum heutigen tag erlebe ich es immer mal wieder, das man lebens- und menschenliebe für naivität hält, mit der abschottung und ahnungslosigkeit vor der sogenannten realität zu erklären versucht. wer aber die wirkliche kraft von güte, liebe und weisheit erfahren durfte, erkennt das böse als traurige mangelfolge, die bedrohung in der dummheit.

sich selbst so annehmen zu können wie man ist und keine scheu davor zu haben damit bei jedem auch guten gewissens bestehen zu können, stünde uns allen gut zu gesicht. auch ich bin gross-geliebt worden, einfach dafür das es mich gab. das hat jedes kind verdient und jedes menschlein sehnt sich so sehr danach.
authentizität scheint mir in unserer gesellschaft ein rares gut zu sein. viel eher wird versucht sich seiner eigenen maske gerecht zu werden, statt tatsächlich sich selbst.

lena strahlt offensichtlich die liebe aus, die sie auch selbst erfahren durfte und bekommen hat. das sie ein sehr inniges verhältnis mit ihrer mama hat, hat mir das noch mal voll bestätigt." (...)


mehr gibt es dazu eigentlich nicht zu sagen - die vermutung, dass ihre familienverhältnisse im positiven sinne behütet (gewesen) sind, hatte ich ebenfalls bereits recht früh. und das sie diesen raum, wie ihre gesamte privatsphäre, in der öffentlichkeit freundlich, aber sehr bestimmt auf ihre eigene art versucht abzuschotten, ist nachvollziehbar und verständlich. mir würde als äquivalent auf der ebene der sog. stars am ehesten jodie foster einfallen, die mit ihrem privatleben ähnlich behutsam umgeht - und ebenfalls eine sehr warme und authentische ausstrahlung vermittelt.

*

neben ihrer - altersgemäßen- leichten überdrehtheit mit daraus folgenden komödiantischen momenten halte ich das obige für das zentrale moment beim phänomen "lena". das in dem erwähnten fanforum das jüngste mitglied meines wissens ein neunjähriges mädchen ist, während sich beim empfang in hannover auch 80jährige großmütter getummelt haben und sich in diversen onlineforen besonders häufig männer dies- und jenseits der 40 als "hingerissen" bezeichnen, unterstreicht meiner meinung nach diese these durch die unterschiedlichkeit der von lena m-l begeisterten noch.

(...) "Lena ist eine Art Antipode zur ernsten Biederkeit der 80er Jahre, zum oberflächlichen Hedonismus der 90er, zur Perspektivlosigkeit der 00er-Jahre. Dass Nachrichtensender wegen ihr die laufende Berichterstattung unterbrechen, dass ihr von allen Seiten verliebte Artikel zugetragen werden, dass sich ihre Singles verkaufen als käme nichts mehr nach ihr, hat auch damit zu tun, dass sie, wenigstens in diesem Frühjahr, die Hoffnung auf eine bessere Gesellschaft verkörpert. Insofern ist das, was in sie hineinprojiziert wird, vielleicht am Ende doch politisch.

Wenn heute von «der Jugend» die Rede ist, dann meist im negativen Kontext: Komasaufen, Ausbildungsplatzmangel, Jugendarbeitslosigkeit, Jugendarmut, Jugendkriminalität. Fast ist es, als habe die Gesellschaft die Hoffnung in die Jugend, die sie selbst hervorgebracht hat, etwas verloren. Und dann kommt eine wie Lena.

Eine, die so ist, wie man sich die Gesellschaft von morgen wünscht: gebildet, talentiert, aufrichtig und trotzdem fähig zur Selbstironie. Wahrhaftig. Sie könnte die Gunst der Stunde nutzen und mit Macht eine Karriere als Society-Sternchen vorantreiben. Stattdessen macht sie erst mal Abitur. Überdies ist sie mit einem Selbstvertrauen ausgestattet, das jeder Herausforderung standzuhalten scheint. Man könnte sie sich auch als Ärztin vorstellen, oder als Maybritt Illner." (...)


naja, das letzte würde ich nun nicht gerade als kompliment betrachten - und sicher fungiert sie auch als projektionsfläche. aber ich glaube, zumindest bisher resultiert ihre wirkung tatsächlich vorwiegend aus dem, was ich oben versucht habe zu skizzieren.

und das ist in mindestens zweifacher hinsicht erstaunlich: einmal in regelrecht niederschmetternder weise, weil die eigentlich schlichte selbstverständlichkeit, sich in der welt im einklang mit sich selbst bewegen zu können, offensichtlich in dieser gesellschaft so aufsehenerregend ist, dass dafür nachrichtensender ihr programm unterbrechen und sich diese eigenschaft massenhaft verkaufen lässt. für das zeitalter der fakes und simulationen eigentlich nichts überraschendes, aber dennoch unschön, mitansehen zu müssen, wie weit und tief sich das simulative bereits verbreitet hat.

(...) "In einem Land, dessen Prominenz aus Politik, Sport und Show im Wesentlichen aus Angepassten, Floskelmaschinen und Selbstdarstellern besteht, ist sie eine ziemliche Ausnahmeerscheinung. Es ist, als sehne sich das Land nach Wahrhaftigkeit, und Lena ist so etwas wie die vorübergehende Verkörperung dieser Sehnsucht." (...)

zum anderen aber: im gegensatz zum ganzen - ja, störungskatalog, der sich gerade im showbusiness nicht nur im pathologischen narzissmus, suchtproblemen und diversen anderen diagnostischen kriterien manifestiert, erscheint lena m-l im vergleich dazu von geradezu blühender gesundheit. und das sie trotzdem beliebt werden konnte, könnte vielleicht auf einen paradigmenwechsel in teilen der öffentlichen wahrnehmung hindeuten, den ich erstmal als unbestimmt positiv empfinden würde.

*

natürlich gibt es bei ihren öffentlichen auftritten auch schon unübersehbare ansätze einer maske für eben diese öffentlichkeit, und gerade bei auf die sekunde durchgeplanten events aller art kommt ihre persönlichkeit auch bereits unter die räder der verwertungsmaschinerie - umso erstaunlicher, dass sie´s - bisher - immer noch schafft, sich ihre räume, wenn auch teils nur noch fragmentarisch, irgendwie zurückzuholen. zu befürchten ist leider, dass sie gerade in ihrer rolle der quasi "nationalen delegierten" für den songcontest, ausgepresst wird wie eine zitrone bis zum letzten - nutzbaren - tropfen. entgegen aller vernunft würde ich mir wünschen, dass ihre geschichte in diesem fall ein echtes happy end bekommen würde.

*

bei alldem kein wunder, dass sie durchaus polarisierend wirkt und quasi als gegenpol zu aller bewunderung regelrecht hass hervorruft, bis hin zu wünschen, sie zu entführen und in einen keller zu sperren - den link zu diesem nicht zufällig an natascha kampusch erinnernden szenario spare ich mir an dieser stelle; wer will, kommt durch entsprechende recherche selbst drauf. ob das nur neid auf ihren - vergänglichen - kommerziellen erfolg ist (für den sie womöglich selbst einen zu hohen preis bezahlen muss), bezweifle ich; eher halte ich tiefere ebenen für beteiligt, bei denen primär auf ihre authentizität reagiert wird - die kann nicht nur im positiven extreme reaktionen auslösen.

noch ein anderes fass machte besonders die "welt" auf, das fachblatt für den gehobenen bürgerlichen sozialdarwinisten, in dem in den vergangenen monaten figuren wie westerwelle, sarrazin und gunnar heinsohn ihren ganz eigenen contest unter dem motto "wer ist deutschlands dümmster sozialrassist?" veranstalteten. dort wurde teils alle zwei tage ein artikel nach dem anderen über lena m-l herausgehauen, mit zwar verschwurbelt vorgetragenen, aber doch klaren
tendenzen:

(...) "Man könnte sagen: Lena Meyer-Landrut hat die Deutschen, ihre sogenannte bürgerliche Mitte, von der heute alle reden, ausgesöhnt mit Pop und Fernsehen. In der ARD und auf ProSieben. Nicht dass die verunsicherte Mitte sich nicht gern an „Deutschland sucht den Superstar“ ergötzte, an verzweifelt singenden Verlierern. „Unser Star für Oslo“ allerdings verbreitete die frohe Botschaft des gehobenen Milieus.

Das war zwar weniger unterhaltsam, aber ungemein beruhigend für kultiviertere Adressaten. „DSDS“ treibt die armen Schweine durchs mediale Dorf. „USFO“ zeigte, dass mit den Kindern alles stimmt, solange sie behütet aufwachsen, gefördert werden und geliebt wie Lena Meyer-Landhut. Trotz Privatfernsehen und Stefan Raab, trotz MySpace oder Facebook." (...)


einmal ist der aufgemachte gegensatz zwischen dem "proll-tv" ála "dsds" typisch; nicht, dass denen das nicht gefallen würde, aber es gleichzeitig auch irgendwie schmutzig, weil unkultiviert. schaut sie euch nur an, diese loser, wie sie sich erniedrigen - das ist perfide im quadrat und hat strukturell etwas vom gleichen herrenmenschenblick, mit denen im wk2 die nazis auf die kriegsgefangenen der roten armee schauten - "das sind unkultivierte schweine", und zwar nicht deswegen, weil sie unter erbärmlichen umständen zu hunderttausenden in die lager gepfercht wurden und buchstäblich vor hunger das gras fraßen, sondern weil die so sind. in anderen artikeln der gleichen zeitung kommt das noch etwas deutlicher zum vorschein.

zum anderen aber wird dort lena m-l konsequent alle authentizität als inszeniert ausgelegt. und das macht durchaus aus einer machtperspektive sinn - obwohl ständig als rhetorische forderung medial herausgeblasen - "eigenverantwortung", "mach dein eigenes ding", "tritt selbstbewusst auf" etc. - , ist eine natürliche selbstbewusstheit mit der entsprechenden fähigkeit zur verantwortlichkeit für sich selbst und andere, wie sie lena m-l in ihrem alter bereits ansatzweise verkörpert, doch zutiefst unerwünscht und suspekt - menschen mit dieser eigenschaft lassen sich nämlich unter umständen weder leicht in allgemein prekäre verhältnisse zwingen noch widerstandslos dazu abrichten, all die elitären verbrechen einfach so hinzunehmen. ihnen fehlen die minderwertigkeitsgefühle und elementaren selbstzweifel, mittels der so viele so gut manipuliert werden können. sie werden bei solchen zumutungen einfach schneller bereit und fähig sein, sich zu wehren.

lena m-l hatte dank ihrer herkunft offensichtlich noch keinen größeren kontakt zu dieser seite auch ihrer welt, wird die jetzt aber durch die vermarktungsmaschinerie, in der sie sich befindet, auf eine sehr spezielle art und weise kennenlernen. und fängt bereits an, grenzen zu setzen. das dürfte von etlichen leuten durchaus als unerwünschtes vorbild empfunden werden.

insofern: auch, wenn von lena m-l zukünftig nicht die kleinste "politische" äusserung zu vernehmen sein wird, so ist doch bereits die art und weise ihrer öffentlichen existenz per se tatsächlich im weiteren sinne politisch.

darum: viel erfolg auf Deine art, lena!

notiz: blanke inkompetenz bei gerichtsgutachten

aus österreich kommt die folgende meldung:

"Misshandeltes Baby: 20 Monate Haft für Vater
Am Freitag ist erneut jener Vater vor Gericht gestanden, der seiner sieben Woche alten Tochter 24 Knochen gebrochen haben soll. Das nicht rechtskräftige Urteil: 20 Monate unbedingte Haft. (...)

Das Baby wurde Anfang Dezember 2008 mehrmals untersucht. Am Freitag waren die beiden medizinischen Gutachter Regina Gatternig und Karl Fritz am Wort. Sie hatten sich die Befunde von Anfang Dezember genau angeschaut.

Der Mann gab zu, dem Säugling den Kopf verdreht zu haben, weil er nicht trinken wollte. Zudem gestand er, dem Mädchen den Brustkorb zusammengedrückt zu haben, und rechtfertigte sich mit Überforderung." (...)


so weit, so schlecht und trostlos - aber nicht um zustand und mögliche motivationen des täters soll es gerade gehen, sondern um eine bodenlose ignoranz von "professioneller" seite:

"Dass der Mann das Kind so stark geschüttelt hatte, dass es ein Schädel-Hirn-Trauma davontrug, schlossen die Mediziner aus, ebenso psychische Folgeschäden. Das Kind könne das noch nicht realisieren, sagte Gatternig."

bitte wie?!? "Das Kind könne das noch nicht realisieren". so ein satz von einer medizinerin und gerichtsgutachterin ist im jahr 2010 nichts weiter als eine persönliche bankrotterklärung und die öffentliche zurschaustellung eines katastrophalen informations- und wissensdefizites. jahrzehnte der pränatal- und säuglingsforschung sowie der psychotraumatologischen arbeit sollten eigentlich so eine absurde äusserung schlicht undenkbar gemacht haben - offensichtlich gibt es aber "professionelle", die sich ungefähr auf dem stand der 1950er jahre befinden.

das schlimme daran ist, dass sie damit nicht unbedingt alleine stehen könnte, sondern es womöglich eine kluft gibt zwischen der allgemein "erwachsenenmedizin" einerseits sowie der pädiatrie und den bereichen von psychiatrie und psychologie, die sich mit babys und (klein-)kindern beschäftigen, andererseits. während bei den letzteren i.d.r. der stand so ist, wie zb.
hier zwar sehr "populär", aber durchaus brauchbar, zusammengefasst:

(...) "Dachte man noch Anfang der fünfziger Jahre, ein Neugeborenes könne keinen Schmerz empfinden, so weiß man heute, daß der Schmerzsinn schon lange vor der Geburt ausgebildet ist. Bereits ab dem dritten Schwangerschaftsmonat reagieren Föten empfindlich auf Berührungsreize am Mund. Nicht viel später verfügen sie über eine differenzierte Geruchs- und Geschmackswahrnehmung. So kann man bei Neugeborenen feststellen, daß sie den Geschmack süßer gegenüber saurer Flüssigkeiten bevorzugen. Auch scheinen sie den Geruch des eigenen Fruchtwassers oder des Schweißes der eigenen Mutter gegenüber dem Geruch von fremdem Fruchtwasser bzw. Schweiß zu präferieren.

Die Hörfähigkeiten sind zum Zeitpunkt der Geburt ebenfalls gut entwickelt. Säuglinge interessieren sich für Geräusche und Musik, besonders aber für die menschliche Sprache." (...)


oder auch
hier:

(...) "Es ist ein Mythos, dass Früh- und Neugeborene keine Schmerzen haben oder sich nicht mehr an die Schmerzen erinnern können", sagt Professor Franz-Josef Kretz, Anästhesist am Klinikum Stuttgart. "Diese Märchen sind schuld daran, dass die Schmerztherapie in der Kinderheilkunde noch immer ein Stiefkind ist", klagt der Intensivmediziner.

Stattdessen ist bewiesen, dass Kinder bereits ab der 22. Schwangerschaftswoche im Mutterleib - also dann auch Frühchen - Schmerzen empfinden. Erfahrungen von Kinderärzten zeigen, dass Babys bei einer schmerzhaften Behandlung mit Schreien, Abwehr und Blaufärbung (Zyanose) reagieren. Studien belegen außerdem, dass Kinder ein Schmerzgedächtnis haben. Denn wer in den ersten Lebenswochen Schmerzen ausgesetzt war, zeigt später eine größere Schmerzempfindlichkeit." (...)


- , braucht es anscheinend für die ersteren und offensichtlich auch teile der pädiatrie sowie perinatalen medizin immer noch mehr beweise, um sich vom oben angesprochenen unheilvollen mythos zu verabschieden - anders lässt sich eine meldung wie
diese aus dem jahr 2008 nicht interpretieren:

(...) "Für Ärztinnen und Ärzte, die Frühgeborene, Säuglinge und Kleinkinder betreuen, ist nur annäherungsweise einschätzbar, ob und wie viel Schmerz die kleinen Patienten empfinden. Britische Wissenschafterinnen zweifeln nun im Fachjournal "PLoS Medicine" an, dass die gegenwärtig zur Anwendung kommenden Beurteilungskriterien ausreichend sind. Wie die Forscherinnen schreiben, wird der Schmerz derzeit hauptsächlich anhand von körperlichen Reaktionen und Verhaltensmerkmalen eingeschätzt – wie etwa einer Veränderung des Gesichtsausdrucks.

Das Team um Rebeccah Slater führte Messungen der Gehirnaktivität durch, um auf diesem Weg Aufschlüsse über das Auftreten von Schmerzen zu erhalten. Diese Messungen verglichen die Wissenschafterinnen mit den aktuellen Kriterien der Schmerzerfassung, also Hinweisen auf körperlicher und Verhaltensebene. Dabei kamen Slater und Kolleginnen zu dem Schluss, dass die Schmerzen von Säuglingen gegenwärtig möglicherweise unterschätzt werden." (...)


die gründe dafür genauer zu betrachten, wäre einmal ein lohnendes unterfangen - auch wenn ich fürchte, dass die ergebnisse alles andere als positiv für teile der "professionellen" zunft wären. für den moment aber bleibt mir nur, das angesprochene gutachten als das zu bezeichnen, was es real ist: ein ganz professionelles stabbrechen über ein kaum begonnenes leben - egal ob (bestenfalls) aus unwissenheit oder aber anderen, versteckten und destruktiven motiven.

das baby könnte mit entsprechender unterstützung wahrscheinlich selbst noch einiges von der massiv traumatischen gewalt zukünftig bewältigen - aber dazu müsste diese überhaupt erst einmal gesehen und anerkannt werden.

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