Montag, 28. Februar 2011

kontext 72: "wahnsinnige liebe" und die borderline-gesellschaft

ein presseartikel, über den ich eher zufällig gestolpert bin: Wahnsinnige Liebe - droht eine Borderline-Gesellschaft? ich sehe da einerseits ein paar rote fäden zu den themen des gestrigen beitrags zum "freiherrn"; aber natürlich wissen stammleserInnen, dass der begriff der "borderline-gesellschaft" sich schon seit einigen jahren, wenn nicht jahrzehnten, immer mal wieder unheilverkündend irgendwo manifestiert. der artikel bietet nun einmal anhand einer fallgeschichte den versuch, einige der bekannteren symtome der bps nachvollziehbar zu machen, zum anderen werden begleitend einige der aktuelleren forschungsergebnisse und ansätze zum umgang (nicht nur) mit borderline dargestellt. und da findet sich nun ein absatz, der mich gestern hellwach gemacht hat, als ich ihn das erstemal las:

(...) "Nach neuesten Erkenntnissen verschwimmen die Grenzen zwischen den bisher bekannten Persönlichkeitsstörungen. "Dies liegt daran, dass wir inzwischen sehr viel differenziertere Diagnosen stellen können", sagt der Hamburger Psychiater Dr. Birger Dulz, 58 Jahre, Chefarzt der Fachabteilung für Persönlichkeitsstörungen in der Asklepios-Klinik Nord in Ochsenzoll. "Wir stellen immer häufiger fest, dass praktisch kein Betroffener jeweils nur eine einzige Störung aufweist, sondern dass es zwischen Soziopathen, Narzissten oder Borderlinern eine Vielzahl von Überschneidungen in den signifikanten Verhaltensmustern gibt."

na endlich, bin ich geneigt auszurufen - schon immer war die "reine le(e)hre" der diagnostischen kataloge icd und dsm - letzteres als primär psychiatrische klassifikation mehr als erstere in ihrer betonung der strengen trennung zwischen den verschiedenen diagnosen gerade aus dem bereich der persönlichkeitsstörungen mehr oder weniger realitätswidrig, weil kaum jemand bspw. irgendwann irgendwo jemanden gesehen hätte, der / die als "borderline in reinform" hätte gelten können. nein, gerade im psychiatrischen bereich sind differenzierungen nicht grundlos und zufällig so schwierig vorzunehmen, und kaum jemand der betroffenen rennt mit nur einer einzigen diagnose durch die welt. was aber bemerkenswert ist, auch wenn sich die tendenz bereits vor jahren abzeichnete - nicht nur das borderline-buch von mertz, sondern auch das "handbuch der bl-störungen", an dem dulz übrigens als einer der bekanntesten hiesigen theoretiker und praktiker beteiligt war, beschäftigten sich jeweils speziell mit dem komplex "antisozialität" (beide siehe literaturliste) - , was also bemerkenswert ist, ist das eingeständnis, dass sich in der realität narzisstische und borderline-ps tatsächlich in vielen (nicht allen!) fällen in ihren symptomen und ihrer jeweiligen individuellen prägung kaum bis gar nicht von der antisozialen ps unterscheiden lassen, bzw. teils fließend ineinander übergehen zu scheinen.

"Daher hat sich seit einiger Zeit der übergeordnete Begriff der "Antisozialen Persönlichkeitsstörung" (APS) durchgesetzt. Die am häufigsten vorkommenden Symptome sind eine enorme Wandlungsfähigkeit, pathologisches Lügen sowie fehlendes Mitgefühl und Reue. Antisoziale Menschen sind zumeist sehr impulsiv, gelten sogar als "gerissen" und sind häufig nicht in der Lage, aus Fehlern zu lernen. Das APS-Syndrom ist durch die Missachtung sozialer Verpflichtungen gekennzeichnet. Oft weisen die Erkrankten auch eine geringe Frustrationstoleranz sowie eine niedrige Schwelle für aggressives und gewalttätiges Verhalten auf."

ich frage mich beim ersten satz nur, ob der autor dieses artikels da etwas falsch verstanden hat, oder ob das tatsächlich eine neue praxis darstellen sollte? die antisoziale ps ist in den katalogen schon lange enthalten, und - klar ich bin hier aus gründen redundant - nicht automatisch gleichzusetzen mit der "echten", strukturellen soziopathie, auch wenn die oben geschilderten symptome bei letzterer überwiegend auch zu finden sind. aber wenn hier jemand aktuell im psychiatrischen bereich beschäftigte/r mitliest, würde mich eine antwort auf die frage sehr interessieren. werden borderline und narzisstische ps aktuelle wirklich öfter als antisoziale ps geführt?

dann kommt so ein satz, wo ich einfach nur mal wieder mit dem kopf schütteln kann, weil ich mich frage, wie autor und verantwortliche redaktion die einen direkt anspringende sinnwidrigkeit der folgenden aussage kommentarlos durchgehen lassen können:

"Sie sind in der Regel zwar bindungsunfähig, aber dennoch in der Lage, ständig neue Beziehungen einzugehen." (...)

wenn der erste teil stimmt - wofür es viele gründe gibt, das als realität anzunehmen, muss der zweite teil in der form falsch sein. meine korrektur dürfte nicht groß überraschen:

"...aber dennoch in der lage, ständig neue beziehungssimulationen einzugehen."

bekanntlich einer der themenschwerpunkte hier im blog von beginn an, interessierte stöbern bitte im
index (ja, der muss dringend aktualisiert werden, aber es lässt sich zu den fraglichen themen trotzdem etliches finden).

ist´s nur wieder die übliche zu beobachtende scheu, ausdruck von nichtwissen oder zurückschrecken vor den gewaltigen konsequenzen, die es hätte, sich die existenz von großen oder gar allen teilen ihres lebens simulierenden menschen einzugestehen, die zu solchen sätzen wie dem zitierten führt? mertz war bisher der einzige mir bekannte autor, der zumindest fragmentarisch den versuch unternahm, diesen komplex mal näher zu untersuchen. und er erntete bekanntlich bis heute dröhnendes schweigen von der scientific community.

es folgt im artikel weiter eine zwangsweise grob verkürzte charakterisierung der jeweiligen ätiologie der drei persönlichkeitsstörungen, wobei sich da dann bei der antisozialen ps ein deutlicher sachlicher fehler finden lässt:

(...) "Bei Patienten mit klassischen APS-Symptomen vermutet man dagegen inzwischen auch biopsychologische Gründe für die Erkrankung, denn die Betroffenen weisen überproportional oft einen erhöhten Anteil langsamer Gehirnwellen (Alpha-Wellen) auf. Darüber hinaus besitzen sie stärkere Hautwiderstände sowie eine geringere zentral- und periphernervöse Erregung. Das "antisoziale Verhaltensmuster" könnte daher Ausdruck ihrer Suche nach Aufregung sein, um die Aktivität im zentralen und vegetativen Nervensystem zu stimulieren." (...)

der fehler liegt darin, bezgl. narzisstischer und borderline-ps "biopsychologische" (etwas unglückliche wortwahl) gründe nicht zu erwähnen - tatsächlich sind alle beziehungskrankheiten, von denen die drei hier thematisierten zu den fatalsten gehören, nur psychophysisch zu verstehen. auch nix neues, aber in - eigentlich ganz brauchbaren - populistischen artikeln wie diesem ärgern mich solche fehler sehr.

es geht weiter mit der richtigen schilderung der mangelhaften versorgung in den zuständigen psychiatrischen bereichen, um dann am ende tatsächlich die täter-opfer-dialektik zwar nicht direkt zu benennen, aber immerhin zu umkreisen:

(...) "Doch können kranke Menschen (...) wirklich "Täter" sein?" (...)

die frage gehört vom kopf auf die füsse gestellt: gibt es bei verbrechen innerhalb der menschlichen sozialität (und auch bei destruktiven aktionen gewisser art gegen nichtmenschliches leben) wie z.b. vertrauensbrüchen, ausbeutung, mobbing bis hin zu angriffen direkt gegen körperliche gesundheit und leben täter, die überwiegend nicht als krank gelten müssen? meine persönliche antwort ist an vielen stellen im blog nachzulesen.

am ende dann noch eine frage, die wie angedeutet in den 1990ern und in der ersten hälfte des vergangenen jahrzehnts öfter als heute gestellt wurde:

(...) "Leben wir im Bewusstsein von rund zehn Millionen psychisch Kranken in Deutschland bereits in einer "Borderline-Gesellschaft"? Spiegelt das "bruchstückhafte Gefühl der Borderline-Persönlichkeit von Identität und Stabilität" (Jerold J. Kreisman) möglicherweise die Zerschlagung beständiger Werte in unserer Gesellschaft wider?" (...)

wer darauf eine antwort haben will, setzt sich am besten einfach mal in irgendeiner einkaufszone in einer großstadt ein paar stunden hin und beobachtet nur die mitmenschen - wie sie sich bewegen, was sie für mimiken zeigen, etc.

und stellt sich danach die frage, was er oder sie denn als "beständige werte" ansieht. denn deren defintion ist mit entscheidend dafür, was für antworten am ende herauskommen.

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