notiz: betreff alexithymie (update)

ich habe mich gestern schon über die große zahl derjenigen gewundert, die hier über eine der bekannten suchmaschinen mittels der recherche nach dem begriff alexithymie gelandet sind - das hat mich nun neugierig gemacht, und mir scheint wieder mal, dass meine tv-abstinenz in seltenen fällen auch negative folgen haben kann - so entgehen mir bspw. reportagen wie diese:

(...)Sie ist blind für Gefühle, für die anderer, besonders aber für die eigenen. Wut, Trauer, Freude, Ekel, Angst sind ihr fremd. Statt zu fühlen, wird sie körperlich krank. Ein Phänomen, das keineswegs selten ist. Nach Schätzungen von Experten, die sich mit dieser Krankheit befassen, sind etwa zehn Prozent der deutschen Bevölkerung davon betroffen. Arme und Reiche, Frauen und Männer. Meist Menschen, die nüchtern betrachtet, perfekt "funktionieren."

"Ich will es immer allen recht machen", berichtet Frank. Ein groß gewachsener, gut aussehender, weit gereister Geschäftsmann. "Meine langjährige Lebensgefährtin hat mir zum Vorwurf gemacht, dass ich nichts fühle", sagt er. Frank erinnert sich konkret an den Tod eines Freundes, einer Situation, in der er keine Traurigkeit empfand. Anders äußert sich das Phänomen bei dem 22-jährigen Istvan. Er ist ehrgeizig und hart gegen sich selbst, geht aus Ungarn in die Fremde nach Deutschland, will immer nur der Beste sein. Er hat sein Leben voll im Griff, bis er einmal zuschlägt und wegen Körperverletzung verurteilt wird. Hinzu kommt der Unfalltod seines Bruders, der löst Chaos im Leben von ihm aus. Der junge Mann wird wegen eines epileptischen Anfalls in die Klinik eingeliefert. Hier, in der Abteilung für psychosomatische Medizin, finden die Ärzte heraus: Er ist körperlich gesund, doch auch er ist alexithym.(...)

Der Ursprung für diese Störungen liegt meist in einer traumatisierenden Kindheit. Alexithymie, Gefühlsblindheit, ist quasi über Nacht zu einem sehr aktuellen Thema der Hirnforschung geworden."(...)


im blog war die alexithymie bereits zweimal thema: eins und zwei. und immer noch ist zumindest mir die genaue abgrenzung zu anderen hier besprochenenen psychophysischen zuständen etwas unklar - neurophysiologisch begründete gefühlsblindheit findet sich als merkmal bei einer ganzen palette von diagnosen.

nichtsdestotrotz möchte ich die interessierten besucher und besucherInnen hier begrüßen - Sie werden hier zwar keine leichte lektüre vorfinden, dafür aber vielleicht im besten fall ein paar anregungen mitnehmen können, unser aller gemeinsame realität anders als bisher zu begreifen.

*

edit am 30.03.: der originaltext vom zdf, auf dem das oben zitierte beruht, enthält zusätzlich einige aufschlußreiche informationen:

(...)"In den 40er Jahren des vergangenen Jahrhunderts wurde das Phänomen in Amerika an Menschen festgestellt, die den Holocaust überlebt hatten. Jahrzehntelang blieb es ein Rätsel, wie diese psychologische Störung entsteht."(...)

wobei ich mich frage, ob es sich hier nicht im weitesten sinne um ein mögliches posttraumatisches symptom handelt, und eben nicht um eine eigenständige diagnose.

(...)"Der Ursprung für diese Störungen liegt meist in einer traumatisierenden Kindheit. Neueste Studien zeigen eindeutig, dass der Zugang zu der eigenen Gefühlswelt wie auch zu der anderer Menschen grundlegend durch die Beziehung von Mutter und Kind geprägt wird."(...)

und zwar bereits vorgeburtlich.

in einem interview mit einem auf alexithymie spezialisierten mediziner gibt´s dann einiges zu lesen, was regelmäßigen besucherInnen hier bekannt vorkommen dürfte:

(...)"ZDF: Spüren alexithyme Menschen, dass Ihnen sozusagen eine Ebene fehlt?

Franz: Manche spüren ein Stück weit, dass ihnen eine Ebene fehlt, die anderen Menschen zur Verfügung steht. So ähnlich wie Farbenblinde, die mit der Zeit lernen können, "Rotes Ampelmännchen ist oben und grünes Ampelmännchen ist unten", so können sehr aufmerksam registrierende alexithyme Menschen im Laufe des Lebens sekundär über den Umweg der Reaktion ihrer Umgebung lernen: "Aha, hier fehlt mir etwas, und ich werde versuchen, nach außen zu simulieren, dass es so wirkt als ob." Aber eine innerliche, authentische, eigene Emotionalität empfinden diese Menschen häufig trotzdem nicht."(...)


womit deutliche bezüge zu einigen, unter anderen namen bekannten psychophysischen zuständen bzw. diagnostischen modellen hergestellt wären. und das wird durch die folgenden aussagen untermauert:

(...)"Darüber hinaus wissen wir aus EEG-Untersuchungen, aber auch aus Wahrnehmungsexperimenten, dass es alexithymen Menschen beispielsweise schwerer fällt als Nichtalexithymen, schnell und sicher Gesichtsausdrücke zu definieren. Die schnelle Sicherheit - wie werde ich angeschaut, und wie verhalte ich mich dazu - dies ist bei Alexithymen nicht voll ausgeprägt. Es ist auch so, dass der eigene Affektausdruck - also wie fühle ich mich - gehemmt oder zumindest beeinträchtig ist. Überspitzt könnte man vielleicht sagen: Alexithyme Menschen betrachten ein menschliches Gesicht eher wie ein Ding."(...)

mir fiel dabei ein älterer beitrag wieder ein, den ich Ihnen vor den obigen hintergründen dringend empfehlen möchte - da ist zb. dieses zitat zu lesen:

(...)"Menschen mit Autismus und dem verwandten Asperger Syndrom nehmen Gesichter quasi wie unbelebte Objekte wahr. Das berichten Forscher der Universität Yale aufgrund von funktionellen Kernspinuntersuchungen (fMRI) des Gehirns. "Diese Ergebnis ist sehr überzeugend, da es mit unseren klinischen Erfahrungen mit Autismus zusammenpasst", erklärte Studienleiter Robert Schultz."(...)

tja. nur eine zufällige übereinstimmung oder doch eher eine strukturelle verwandtschaft?

sicher: die schweren formen des klassischen autismus ziehen i.d.r. so massive einschränkungen/behinderungen für die betroffenen nach sich, dass sich die beschriebene parallelität eher nicht als begründung eignet, um eine strukturelle verwandtschaft zwingend anzunehmen. anders sieht es da schon mit dem asperger-autismus aus. ich persönlich finde die beschreibungen von alexithymie und dem "realitätstüchtigen asperger-syndrom" teils so auffällig deckungsgleich, dass ich mich frage, warum das nicht breiter thematisiert wird. da mittlerweile bei beiden phänomenen auch einiges über beeinträchtigte bzw. anders funktionierende neurophysiologische strukturen bekannt ist, ließen sich unterschiede ebenso wie gemeinsamkeiten vermutlich am ehesten über diesen weg feststellen.

und dazu kommen noch einige oberflächliche bezüge zur klassischen soziopathie:

(...)"In den letzten Jahren meiner Tätigkeit als Business – Coach zeigte sich bei einigen meiner Klienten das Phänomen : Die Entwicklung alexithymischer Züge. Dieses Verhalten und die zugrundeliegende Denkstruktur ist gekennzeichnet durch nahezu absolut kalkulierendes, kühles Verhalten und einen daraus resultierenden schleichenden Verlust sozialer Kompetenzen und emphatischer Fähigkeiten, also einem Ungleichgewicht zwischen kühlem Intellekt und emotionaler Intelligenz."(...)

bei der in diesem link skizzierten beispieltherapie und ihrer erfolge bleibt jedoch die frage offen, ob es sich hier um wiedererlangte authentische oder aber gelernte simulierte fähigkeiten handelt. ich glaube durchaus, dass aufgrund der vorherrschenden verdinglichenden und objektivistischen kulturellen strömungen auch psychophysisch leidlich gesunde menschen gerade in bereichen wie zb. der wirtschaft verschärft in gefahr sind, entsprechende "anpassungsleistungen" zu entwickeln, die allerdings auch reversibel erscheinen. andererseits ließe sich auch sagen, dass derartig betroffene wie im beispiel sich als "als-ob-soziopathen" verstehen lassen, deren objektivistischer modus funktionell die dominanz übernommen hat - und die sich dann nur schwer von strukturellen soziopathen unterscheiden lassen, die nichts anderes als eine dingwelt kennen.

wenn diese ganzen bereiche beginnen, jetzt zu öffentlichen themen zu werden, lässt das jedenfalls durchaus vorsichtigen optimismus zu, was das bewußtsein über die konsequenzen verschiedener menschlicher psychophysischer zustände anbelangt. das finde ich zumindest.
guru - 27. Jun, 16:33

unendlich ist gleich Null

Alexithyme Menschen können sehr wohl lernen, ihre Gefühle wahrzunehmen.
Handelt es sich um Trauma- Opfer, so ist ein Abstand vom Gefühl etwas sehr notwendiges, die Person könnte sonst nicht überleben.
Sie empfindet sich in schmerzhaften Situationen wie neben sich stehend.
Da Autisten es in der Gesellschaft vor allem in der Kindheit, nicht leicht haben und als Prügelknabe vom Dienst bevorzugt ausgewählt werden, kommt eine leichte Traumatisierung fast immer zu einem Asperger- Syndrom dazu. Diese löst sich aber im Laufe des weiteren Lebens wieder, denn es ist ja eher unüblich, Erwachsene jeden Tag zusammenzuschlagen, weil sie irgendwie nerdig kucken.

Bei Asperger Autisten ist es abgrenzend zur "echten" Alexithymie auch eher so, dass ein Gefühl zwar gefühlt wird, aber nicht bezeichnet werden kann. Nach außen kommuniziert wird es so weder nonverbal noch verbal. Keine Mutter schlägt ein Kind ins Gesicht und sagt dann: "Siehst du? Das ist Schmerz."
Da Autisten sich schwer tun, Gefühle zu lesen, fehlt ihnen sozusagen die Rückkopplung. Wenn sie einen Gesichtsausdruck bemerken, müssen sie das dazugehörige Gefühl bezeichnet bekommen und das geschieht oft nicht.
Wenn sie selbst etwas fühlen, haben sie keine Möglichkeit der Bezeichnung.

Das Körperempfinden von Autisten ist etwas anders, ebenso die Wahrnehmung und die nonverbale Widerspiegelung des Innen nach außen.
Autisten bekommen gesagt "Du siehst traurig aus." oder "Du bist gefühlskalt." oder "Du wirkst müde." obwohl das alles mit dem tatsächlichen emotionalen Zustand nichts zu tun hat. Autisten übernehmen aber diese Bezeichnungen. Sie sagen "Ich fühle nichts." wenn sie in einem Zustand der Zufriedenheit oder Melancholie sind und einen "leeren" Gesichtsausdruck dazu zeigen.
Sie denken, ihre Zufriedenheit sei "nichts".
Diese Dinge muss man berücksichtigen.

Mit dem Tod haben viele Autisten Probleme. Sie fühlen "nichts", weil sie schlicht überfordert sind. Es ist eine Art schützender Schockzustand, ein neben sich stehen, das Monate anhalten kann. Autisten sind in vielerlei Hinsicht extrem sensibel.
Hier haben wir eine Parallele zur Alexithymie von Traumatisierten. Verdrängung aus Selbstschutz.

Das alles sind aber keine pathologischen Zustände, sondern gesunde Reaktionen der Psyche auf emotionale Überlastungen, die sich bei einem Autisten schon bei einer einfachen Busfahrt einstellen können.

Ich hoffe, ich konnte das Thema etwas erhellen.
Gruß, Guru

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