kontext 66: wenn die selbstwahrnehmung fremdelt...

... dann können sich u.a. so interessante phänomene manifestieren, wie sie hier leicht herablassend unter dem begriff "hirngespinste" thematisiert werden:

(...) "Wohin sie auch die Augen wendet, es ist schon da: ein Gesicht halb durchsichtig. Es schwebt vor ihr in der Luft, drängt sich beim Blick in die Handtasche dazwischen. Es äfft ihre Miene nach, denn es ist ihr eigenes Gesicht, das sie verfolgt.

Die junge Frau, die seit einem Schlaganfall von ihrem eigenem Gesicht verfolgt wurde, ist nur eines von Dutzenden Fallbeispielen für sogenannte Selbstwahrnehmungsstörungen, die der Wahrnehmungsforscher Olaf Blanke an der ETH Lausanne gesammelt hat. Er sagt: "Man muss nicht verrückt sein, um Dubletten des eigenen Körpers zu sehen." (...)


aber ich will nicht zu nörgelig sein; der artikel ist wirklich spannend und wirft ein weiteres mal aus der perspektive der neuroforschung auch schlaglichter der erkenntnis auf phänomene, die früher im allgemeinen verständnis eher der religiösen, mystischen oder auch parapsychologischen schiene zugeordnet wurden - alleine die "out-of-body"-erfahrungen haben bspw. generationen lang in den genannten bereichen für wildeste erklärungsversuche gesorgt, was immerhin ob ihrer oftmals spektakulären wirkung auf betroffene menschen nachvollziehbar erscheint.

(...) "Ich löse mich auf. Mein Bauch zerfließt, meine Arme und Beine verschwinden. Ich möchte schreien, aber da ist nichts mehr, was dem Willen gehorcht. Einsamer kann man nicht sein.

"Ein epileptischer Patient berichtete mir, dass sein Körper während der Anfälle verschwindet", sagt Heydrich. Die Epilepsie ging von dem Bereich aus, der von Singer als möglicher Sitz des Selbst verdächtigt wird, vom frontalen Cortex. Und sie weist auf ein damit verbundenes System, welches das Gefühl fürs Selbst mit der Analyse von Bewegungen verknüpft. Um uns zu versichern, dass wir existieren, beobachten wir offenbar sorgfältig unsere Bewegungen."


das wort "beobachten" führt in diesem zusammenhang auf eine falsche fährte, weil es implizit eine "bewusste" aktion nahelegt - dem ist durchaus nicht so. grundsätzlich passt das aber zu dem, was über eine ganz fundamentale menschliche wahrnehmungsart, die
propriozeption, inzwischen bekannt ist. und das bringt überfälligerweise den ganzen körper ins spiel und führt mich darüber zum letzten absatz, an dem ich dann doch kritik üben möchte:

"Bei allem, was man heute über den Weg weiß, auf dem das Gehirn die verschiedenen Aspekte unseres Selbstgefühls konstruiert, drängt sich der Verdacht auf, dass unser Eindruck, ein einziges und eindeutiges Ich zu besitzen, vielleicht im wahrsten Sinne des Wortes ein Hirngespinst ist. Aber es ist offenbar nötig, um uns Sicherheit zu geben." (...)

um es kurz zu machen: natürlich stoße ich mich an dem wort "konstruiert", auch wenn das als ein beschreibendes attribut in diesem fall nicht unbedingt falsch ist. aber erstens ist das gehirn ein körperorgan, und eine hierarchiesetzung zu anderen organen ist weder hilfreich noch zwingend, selbst wenn man die spezifischen fähigkeiten des gehirns berücksichtigt. zweitens folgt daraus, dass das beschriebene "konstruieren" die vorgesehene art und weise des körpers ist, realität wahrzunehmen. auch, wenn diese art drittens eine durchaus breiter fließendes, wenn auch begrenztes spektrum an wahrnehmungen zulässt (die offen pathologischen wahrnehmungsarten zähle ich ebenfalls dazu). und viertens verweise ich hinsichtlich des "konstruierens" sowie die probleme, die dieses modell mit sich bringt, auf
diesen beitrag, in dem sich zusammenfassend meine grundsätzlichen kritikpunkte an konstruktivistischen weltbildern (und die werden in spezifischer ausprägung auch in großen teilen der hirnforschung benutzt) bzw. ihren implikationen finden lassen. wie gesagt: nicht, dass unser gehirn nicht auch im funktionalen sinne tatsächlich konstruiert. aber das kann eben keinesfalls als stütze für das gerede "jeder-konstruiert-sich-seine-eigene-realität" etc. herhalten.

dass die heute in der westlichen kultur verbreiteten ego-formen allerdings tatsächlich relativ sind, also auch qualitativ andere vorstellbar und möglich erscheinen, wird aus meiner sicht durch das eben skizzierte übrigens nicht negiert.

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