monoma - 5. Sep, 12:45

@morgaine:

(das folgende entstammt dieser diskussion; und ich komme damit dem dortigen wunsch des blogautors nach).

"Ich lese die Texte in Ihrem Blog mit Interesse. Sie schreiben, dass Sie selber mit der Diagnose konfrontiert wurden. Ist das der (reichlich belesene) Erfahrungshintergrund, der kollektive Begründungszusammenhänge wie eine dezidierte Kritik am amerikanischen Kapitalismusmodell durchaus berücksichtigt?"

es ist ein teil, der mir allerdings einige horizonte erst eröffnet und mich dazu gebracht hat, etliches aus einer anderen / neuen perspektive zu betrachten.

ich habe allerdings bereits lange davor schon - ohne es zu "wissen" - durch teils enge kontakte mit traumatisierten bzw. sonstigen "auffälligen" menschen mit vielen themen des blogs zu tun gehabt - die theoretische auseinandersetzung kam erst danach.

"Oder sind Sie Praktiker, also Psychologe oder Psychiater?"

nein. ich traue mir allerdings durchaus zu, aus meinen klientenerfahrungen mit verschiedensten therapieformen heraus die benannten disziplinen näher zu beleuchten.

"Ich hörte von einem Praktiker in meiner Umgebung, dass diese Patienten/Klienten die am meisten gefürchteten in den sozialpsychiatrischen Einrichtungen sind. Grund unter anderem: Sie hinterfragen jede Direktive, konterkarieren Entscheidungen, sind also nicht teamfähig."

ich denke, das hat zwei seiten: erstens halte ich - gerade im bl-bereich - selbst betroffene professionelle für bedenklich; aber zweitens spielt imo auch eine rolle, dass diese gruppe natürlich alle techniken und vorgehensweisen in solchen institutionen mehr oder weniger gut kennt - und damit sowohl schneller "kunstfehler" erkennen kann als auch therapiesabotierend tätig werden kann. die benannte furcht ist von daher durchaus berechtigt.

Morgaine (Gast) - 5. Sep, 12:58

"aber zweitens spielt imo auch eine rolle, dass diese gruppe natürlich alle techniken und vorgehensweisen in solchen institutionen mehr oder weniger gut kennt"

Worauf bezieht sich "diese Gruppe"? auf die "betroffene professionelle", was impliziert, dass im Bl-bereich eben auch Borderliner arbeiten?
monoma - 5. Sep, 13:10

ja.

wobei sich das streng genommen natürlich nicht auf bl-diagnostizierte alleine beschränkt, sondern generell zum problem werden kann - aber nach allem, was ich so - auch innerhalb psychiatrischer institutionen - mitbekommen habe, ist diese gruppe sozusagen doppelt gefürchtet.
Morgaine (Gast) - 5. Sep, 13:43

Ja.
Es scheint in diesem Bereich - genau wie in anderen auch - Strukturen zu geben, die der Persönlichkeitsstruktur von Borderlinern sehr entgegenkommen, ja, sie geradezu Voraussetzungen für den Erfolg sind. Sie haben es oft genug in Ihren Beiträgen beschrieben. Simuliertes, mühsam erlerntes und kopiertes Als-Ob-Verhalten ersetzt die Fähigkeit, den anderen wirklich wahrzunehmen, sich in ihn hineinversetzen zu können. Seine Grenzen zu sehen und zu respektieren.

Doch auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen: Grenzgänger zu sein, ja, Grenzen zu verletzen, ist eben andererseits manchmal auch notwendig. Bitter notwendig sogar. Es ist dann eben keine Entscheidung der Masse, die Systeme aufrechterhält, sondern der weniger oder sogar Einzelner, diese Grenzüberschreitungen zu wagen. Darf ich hier mich selbst zitieren:


"Verletzungen. Die eigenen und die, die wir anderen zufügen.
Manchmal bedeutet verletzt zu werden, dass etwas geändert wird.
Eine Verletzung kann Ausdruck von Achtung oder Respekt
vor dem Leben bedeuten.
Dann nämlich, wenn ein Rhythmus mit Hilfe dieser Verletzung
durchbrochen werden will.
Der Rhythmus der Atmung eines sich immer weiter zurückziehenden Menschen etwa.
Oder der Rhythmus eines Systems, der verändert werden muss,
bevor das System in den sicheren Untergang stürzt.

Wer aber bestimmt, was verändert werden muss?
Wer fügt wem welche Verletzungen bei,
begrenzt die Borderliner, die Systeme verändern,
wer beherrscht die Regeln des sinnvollen Grenzüberschreitens?
Ich fürchte, diese Fragen lassen sich letzten Endes nur
auf den Kampfplätzen bisheriger Ordnungen entscheiden.
Und so lautet denn mein ganz persönlicher Wunsch für den heutigen Tag:
Möge das Verletzte seinen Rhythmus wieder finden."
monoma - 5. Sep, 13:58

da...

...stimme ich Ihnen zu, wenn auch mit einschränkungen:

"Grenzgänger zu sein, ja, Grenzen zu verletzen, ist eben andererseits manchmal auch notwendig. Bitter notwendig sogar. Es ist dann eben keine Entscheidung der Masse, die Systeme aufrechterhält, sondern der weniger oder sogar Einzelner, diese Grenzüberschreitungen zu wagen."

es gibt von temple grandin, die hier im zusammenhang mit dem asperger-syndrom als betroffene an anderer stelle zitiert worden ist, ein zitat, welches sinngemäß lautet, dass, "wenn alle menschen nt´s (neurologisch typisch, asperger-slang für "normale") wären, wir heute noch in höhlen sitzen und nur miteinander reden würden".

manchmal frage ich mich aber, ob das nicht vorziehenswerter wäre als die heutige situation. irgendwo habe ich hier im blog auch die aussage eines psychiaters, "psychopathen sind das salz der erde", zitiert - als ferment /katalysatoren für notwendige grenzverletzungen, die erst weiterentwicklungen möglich machen würden, seien sie für alle gesellschaften unverzichtbar. und wenn ich mir dann so die verschiedenen bereiche der kunst betrachte, mit all ihren freakigen protagonistInnen...

und trotzdem: die logik hinter solchen aussagen wie oben finde ich schon nachvollziehbar - aber gleichzeitig finde ich das auch eine implizite glorifizierung von menschlichem leid, die ich nicht vertreten kann und auch nicht möchte.

meiner meinung nach sind - qualitativ! - andere formen von entwicklung auch möglich ohne die vorbedingung, dass gesellschaften dafür erst eine mehr oder weniger große zahl ihrer mitglieder in den wahnsinn treiben müssen. allerdings meine ich damit entwicklungen, die den heutigen gesellschaftlichen normen dessen, was als wünschenswert erachtet wird, in den meisten punkten scharf zuwiderlaufen.
Morgaine - 5. Sep, 14:36

Nun, ich kenne Temple Gradin nicht. Wohl aber habe ich beispielsweise Mary Daly gelesen, die als Feministin Grenzverletzungen von Systemen wie dem des patriachal orientierten Christentums nicht nur empfiehlt, sondern sie mit der Veröffentlichung von "Gyn/Ökologie" oder "Jenseits von Gottvater" sogar selber wagt.
Und was ist mit den mutigen Männern und Frauen, die sich gegen die große sanktionsbreite Masse der fundamentalistischen Koran-Exegeten auflehnen? Es mag sein, dass gerade Frauen sich hier besonders hervortun. Das liegt aber meines Erachtens weder an einem Asperger-Syndrom noch einer Borderliner-Erkrankung, sondern schlicht an einer besonderen Sensitivität für Rassismus und Sexismus. Wenn Sensitivität zur Grenzverletzung oder gar Zerstörung dieser Systeme führt, dann sollte sie unterstützt werden. Und nicht etwa als krankhaft diagnostiziert werden. Ansonsten muss wohl von einem - wie auch immer gearteten - Eigeninteresse ausgegangen werden.
monoma - 5. Sep, 14:46

hm, eventuell reden wir gerade einander vorbei?

"Wenn Sensitivität zur Grenzverletzung oder gar Zerstörung dieser Systeme führt, dann sollte sie unterstützt werden. Und nicht etwa als krankhaft diagnostiziert werden."

klar. und ich meine, dass teile der geschichte der etablierten psychiatrie bspw. auch genügend aufzeigen, das hier die kritik an einer pathologisierung eigentlich sehr angemessener verhaltensweisen absolut berechtigt ist.

aber ich hatte - und habe - hier andere im sinn: so lässt sich bspw. auch ein adolf hitler als grenzverletzer in diversen und größten dimensionen ansehen.
Morgaine - 5. Sep, 15:11

Ja, das haben wir anscheinend. Vielleicht noch einmal diese vier Zeilen aus meinem o.g. Zitat:

"Wer aber bestimmt, was verändert werden muss?
Wer fügt wem welche Verletzungen bei,
begrenzt die Borderliner, die Systeme verändern,
wer beherrscht die Regeln des sinnvollen Grenzüberschreitens?"


Deswegen informiere ich mich zum Beispiel in diesem Blog und möchte, dass mit Hilfe von Blogs oder anderen Medien viel mehr ORIGINAL-Stimmen derjenigen gehört werden, die unter Systemen leiden, und die bereit sind, Grenzen zu überschreiten oder gar zu zerstören.
Wednesday - 5. Sep, 16:44

Here I come an' here I go

Zitat: irgendwo habe ich hier im blog auch die aussage eines psychiaters, "psychopathen sind das salz der erde"

Prima, zuallererst haben sie sich mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Götterboten, Priestern erklärt, um es den Normalos zu richtig zu geben, und was sich sonst an Spezialisierungen ergab: Häuptling, Soldat, sonstige FetischistInnen; die menschliche Gesellschaft hat den Sonderlingen Nischen angeboten, oder sie hineingezwungen (beschwichtigend, auf Ruhe hoffend?)... Im Gegesatz zu früher haben wir alle (naja, nicht alle, wenn man von der gesamten Menschheit auf der Erde ausgeht) eine höhere Lebenserwartung und somit noch mehr Zeit und Muse, uns gegenseitig fertigzumachen. Danke, Salz der Erde, danke!
Morgaine - 5. Sep, 17:11

Ich verstehe den Kommentar nicht so richtig. Sind Psychopathen Priester, Soldaten, Häuptlinge, FetischistInnen? Was ist ein Sonderling? Wer verteilt hier wem Etiketten? Ich glaube, dass manche/r sich gerne mit einem dieser Etiketten schmückt. Sonst wäre er nackt. Und das traut sich halt auch nicht jeder.
monoma - 5. Sep, 19:00

ich möchte mich mal kurz einmischen...

...und erstens auf diesen beitrag verweisen, der die gedanken von w-day - aus meiner sicht - vielleicht etwas deutlicher machen kann.

ich persönlich gehe aber - auch das habe ich hier an verschiedenen stellen, wenn auch vielleicht unzureichend, schon umrissen - quasi von zwei qualitativ verschiedenen wegen grundsätzlich psychotischer wahrnehmung aus - siehe dazu sowohl bspw. arno gruen und auch mertz. die "traditionelle" art wird dabei von dem repräsentiert, was als klassische schizophrenie bekannt ist - und das waren und sind bis heute die "sonderlinge", die unter bestimmten kulturellen umständen vielleicht zum schamanen bestimmt wurden, im mittelalter zur volksbelustigung vorgeführt oder aber auch in holzkisten gesperrt wurden, und heute als alleinige trägerInnen des psychosebegriffs mit neuroleptika traktiert werden (und zwischenzeitlich bevorzugt e-geschockt wurden).

die andere art hingegen - nun, u.a. die ist ein thema im blog.
Morgaine - 5. Sep, 22:30

Habe ich das richtig verstanden? Religiöses und spirituelles Erleben ist wahnhaft und muss medikamentös behandelt werden?
Wednesday - 6. Sep, 09:04

An die armen Schizos hab ich nicht gedacht, denn sie sehe ich als Opfer der Leitkultur - sondern an unsere liebenswerten "als-ob"-Männchen und -Weibchen.

Priester, Häuptlinge, Soldaten, sonstige FetischistInnen sind all jene, die nicht wie die nt's, wie Grandin sie nennt, brav in den Höhen blieben, sondern die Welt veränderten. Natürlich zu unser aller Besten. :-) Und nein, mit FetischistInnen meine ich nicht harmlose Fuß- oder KorsettfetischistInnen. Es gibt lebensgefährliche Fetische: Waffen, Geld, Lohnarbeit.

Religiöses, spirituelles Erleben ist tatsächlich wahnhaft, und medikamentös wird es ja durchaus zu Recht behandelt, sei es mittels Schamanenkräuter, sei es mittels moderner Medizin: um den Wahnbehafteten zu helfen, oder um seine Umgebung vor ihm zu schützen.
Morgaine - 6. Sep, 10:10

Aha. Dann wäre die Einteilung also wie folgt:

ALLE WAHNHAFT ...
http://www.tanenbaum.org/resources/memorial_lectures.aspx
ER beispielsweise hat die Schamanenkräuter nicht inhaliert. Sondern nur

ALLE ANDEREN: Nicht wahnhaft

Und wieso erinnert mich diese Einteilung jetzt verdammt an wahnhaft religiöses gnostisches Denken ...?
Wednesday - 6. Sep, 10:25

United World Goes Bananas

Genau so hab ich das nicht beschrieben. Daß "alle anderen", die Opfer, ebenfalls wahnhaft bzw. Co- werden, das, dachte ich, wäre eh klar. (Ich kann nicht mit Ihnen, M. Ich lass es dabei.)
Morgaine - 6. Sep, 11:01

Das habe ich jetzt nicht verstanden. Das kommt wohl von den vielen Spielinterpretationen, die ich leisten muss. Nun gut, lassen wir es.
monoma - 8. Sep, 21:02

teils-teils

"Habe ich das richtig verstanden? Religiöses und spirituelles Erleben ist wahnhaft und muss medikamentös behandelt werden?"

ein paar meiner meinungen zu den von Ihnen angesprochenen wahrnehmungsarten werde ich in den nächsten wochen noch nachreichen, u.a. in einem update bzw. einer fortsetzung zum islamischen fundamentalismus. tja, und dann dürfte es hier auch höchste zeit sein für eine ausführliche beschäftigung mit dem ganzen komplex der dissoziation. das ist für das thema religion/spiritualität imo sehr aufschlußreich.

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