> und wenn ich mir die oben beschriebenen wahrnehmungen so anschaue, beschleicht
> mich irgendwie ein mulmiges gefühl - ich frage mich, was die verbreitung von mehr
> oder wenigen rituellen elementen aus knast- und s/m-welten eigentlich tatsächlich
> bedeutet. womit ich nicht nicht sagen will, dass alle heutigen piercing/tatto-trägerInnen
> irgendwie als besonders gestört anzusehen seien. nicht gestörter als der rest der
> gesellschaft jedenfalls.
Ich weiß nicht so recht. Ich glaube, daß jedes Element, daß sich vermarkten lässt, Eingang in die bürgerliche Welt (als Gegensatz zu sog. Unterwelt oder sog. Subkultur) findet, egal aus welcher gräßlichen Ecke es kommt, und wenn es nicht zu alltagsuntauglich ist.
Beispiele, die sich, ich hoffe das bleibt auch so, nicht in die bürgerliche Mode durchgesetzt haben: das Korsett ist heute nur noch vereinzelt als Fetisch anzutreffen, es ist eindeutig ein Folterinstrument, mit welchem Rippen gebrochen und innere Organe verletzt werden können, abgesehen davon, daß es die Bauchatmung verhindert - ich kann mir schwer vorstellen, daß es irgendwann wieder Eingang findet in die bürgerliche Mode (vielleicht auch nur, weil es einfach zu unpraktisch ist); ebenso wenig wie die bis vor kurzem übliche "Tradition", chinesischen Mädchen die Fußknochen zu zertrümmern, um sie anschliessend mittels Schnürung am Wachsen zu hindern, nicht zu reden von Beschneidung an Mädchen; ornamentalen Narbenschmuck kennt man von "primitiven" Völkern, und was es sonst an Verstümmelungen gibt, die der Verschönerung bzw. der Aufnahme in den Kreis der Erwachsenen dienen oder dienen sollten.
In Japan hat sich die Art der Tätowierung, wie sie die dortigen Gangstersyndikate spazieren trugen, ebenfalls aus der Gosse in die bürgerliche Welt durchgesetzt. Die kleinen Jungs wollen gefährlich aussehen. Vielleicht machte es sie auch irgendwie "stark". Dazu fällt mir eine Bekannte ein, sie hat sich vor Jahren ein Intim-Percing verpassen lassen. Sie fand das alles andere als seltsam, wollte niemanden schocken (mich hat sie geschockt, weil ich dachte, das muss irre wehgetan haben, angeblich aber gar nicht) und vertraute das nur ganz wenigen Leuten an; sie wollte was Besonderes haben, was sie von den "Spießern" unterschied, und ihr ein Gefühl großen Mutes und Einzigartigkeit gab. Zumindest beschrieb sie ihren Zustand so.
In einer inzwischen eingegangenen Lifestyle-Zeitung las ich damals über Branding und andere Praktiken, die sich bisher auch nicht durchgesetzt haben; sie sind wohl (noch?) zu abgehoben.
Das Hundehalsbandl, das der gemeine Punk einst trug, erinnert zwar auch an S/M/Fetisch, war aber in meinen Kreisen eine teils politische, teils anti-bürgerliche Botschaft; die S/M-Szene nun wieder ist neben der traditionellen Gothik-Szene (die rechtsradikalen Einflüsse neueren Datums sind dann auch wieder ein Thema für sich) ja vielleicht eine der unpolitischsten Szenen überhaupt.
Vielleicht fehlen normale Riten, und es geht um Ersatzhandlungen, und man braucht ständig neue; ich meine das bitter ernst. Welche Riten lernen Kinder kennen und wenden sie als Erwachsene weiter an, um in der Hierarchie bleiben zu können oder aufsteigen zu dürfen? Rauchen, Saufen, verbale und körperliche Gewalt, Geld "machen", eine seltsam anmutende Besitzanhäufung, etc. Und welche sollten wir statt dessen einführen?
Mir fällt dazu nur noch ein: ein "normales", ein gutes, menschliches, ein nicht-hierarchisches Leben als Subjekt anstatt als /Kunde/Ware/Nummer/Objekt/, im gegenseitigen Respekt und in Freiheit, das kann ich mir schon nicht mehr vorstellen - wie soll das gehen: weil ich fürchte, daß wir schon viel zu kaputt sind und die Ausnahmen im Umfeld den Schmerz und Ekel des Lebens in dieser Gesellschaft kaum wettmachen können, und weil ich (stellvertretend für vielleicht alle Menschen) das: gegenseitiger Respekt, Freiheit bestenfalls in sehr kurzen Lebensphasen oder in reichlich später Lebenszeit erfahre, und das: die ungebrochene Erfahrung, die Hoffnung unzerstört, wäre die Voraussetzung, eine Utopie Wirklichkeit werden zu lassen.
...mein mulmiges gefühl hat eher etwas damit zu tun, dass ich gerade mal wieder den schockwellenreiter gelesen habe, und mich frage, ob wir ernsthaft über das szenario nachdenken müssen, was dort am ende sichtbar wird. es gibt viele, zu viele fakten, die in diese richtung deuten.
ist ein Roman, der mich schon ganz früh beeinflusst hat (wie auch "Morgenwelt"). Ich will ihn grad noch mal lesen, um zu sehen, ob er mich immer noch so beeindrucken kann und mich dabei mit meiner Verfassung von vor 20 Jahren vergleichen.
Mein mulmige Gefühl kommt daher, daß ich den Eindruck habe, daß die Phantasie eines Schriftstellers von der Wirklichkeit übertroffen wird.
Sie sprachen über Korsetts als Folterinstrument. Nun, auch dieses weibliche Kleidungsstück wurde pervertiert zu einem patriarchalen Züchtigungs- und Kontrollinstrument.
Ich spüre mich und die Welt zum Glück auch ohne Korsett. Das Matriarchat begreife ich im übrigen nur als eine weitere Herrschaftsform, kein Thema also, Frau H.
Gruß aus dem Atelier ;-)
> mich irgendwie ein mulmiges gefühl - ich frage mich, was die verbreitung von mehr
> oder wenigen rituellen elementen aus knast- und s/m-welten eigentlich tatsächlich
> bedeutet. womit ich nicht nicht sagen will, dass alle heutigen piercing/tatto-trägerInnen
> irgendwie als besonders gestört anzusehen seien. nicht gestörter als der rest der
> gesellschaft jedenfalls.
Ich weiß nicht so recht. Ich glaube, daß jedes Element, daß sich vermarkten lässt, Eingang in die bürgerliche Welt (als Gegensatz zu sog. Unterwelt oder sog. Subkultur) findet, egal aus welcher gräßlichen Ecke es kommt, und wenn es nicht zu alltagsuntauglich ist.
Beispiele, die sich, ich hoffe das bleibt auch so, nicht in die bürgerliche Mode durchgesetzt haben: das Korsett ist heute nur noch vereinzelt als Fetisch anzutreffen, es ist eindeutig ein Folterinstrument, mit welchem Rippen gebrochen und innere Organe verletzt werden können, abgesehen davon, daß es die Bauchatmung verhindert - ich kann mir schwer vorstellen, daß es irgendwann wieder Eingang findet in die bürgerliche Mode (vielleicht auch nur, weil es einfach zu unpraktisch ist); ebenso wenig wie die bis vor kurzem übliche "Tradition", chinesischen Mädchen die Fußknochen zu zertrümmern, um sie anschliessend mittels Schnürung am Wachsen zu hindern, nicht zu reden von Beschneidung an Mädchen; ornamentalen Narbenschmuck kennt man von "primitiven" Völkern, und was es sonst an Verstümmelungen gibt, die der Verschönerung bzw. der Aufnahme in den Kreis der Erwachsenen dienen oder dienen sollten.
In Japan hat sich die Art der Tätowierung, wie sie die dortigen Gangstersyndikate spazieren trugen, ebenfalls aus der Gosse in die bürgerliche Welt durchgesetzt. Die kleinen Jungs wollen gefährlich aussehen. Vielleicht machte es sie auch irgendwie "stark". Dazu fällt mir eine Bekannte ein, sie hat sich vor Jahren ein Intim-Percing verpassen lassen. Sie fand das alles andere als seltsam, wollte niemanden schocken (mich hat sie geschockt, weil ich dachte, das muss irre wehgetan haben, angeblich aber gar nicht) und vertraute das nur ganz wenigen Leuten an; sie wollte was Besonderes haben, was sie von den "Spießern" unterschied, und ihr ein Gefühl großen Mutes und Einzigartigkeit gab. Zumindest beschrieb sie ihren Zustand so.
In einer inzwischen eingegangenen Lifestyle-Zeitung las ich damals über Branding und andere Praktiken, die sich bisher auch nicht durchgesetzt haben; sie sind wohl (noch?) zu abgehoben.
Das Hundehalsbandl, das der gemeine Punk einst trug, erinnert zwar auch an S/M/Fetisch, war aber in meinen Kreisen eine teils politische, teils anti-bürgerliche Botschaft; die S/M-Szene nun wieder ist neben der traditionellen Gothik-Szene (die rechtsradikalen Einflüsse neueren Datums sind dann auch wieder ein Thema für sich) ja vielleicht eine der unpolitischsten Szenen überhaupt.
Vielleicht fehlen normale Riten, und es geht um Ersatzhandlungen, und man braucht ständig neue; ich meine das bitter ernst. Welche Riten lernen Kinder kennen und wenden sie als Erwachsene weiter an, um in der Hierarchie bleiben zu können oder aufsteigen zu dürfen? Rauchen, Saufen, verbale und körperliche Gewalt, Geld "machen", eine seltsam anmutende Besitzanhäufung, etc. Und welche sollten wir statt dessen einführen?
Mir fällt dazu nur noch ein: ein "normales", ein gutes, menschliches, ein nicht-hierarchisches Leben als Subjekt anstatt als /Kunde/Ware/Nummer/Objekt/, im gegenseitigen Respekt und in Freiheit, das kann ich mir schon nicht mehr vorstellen - wie soll das gehen: weil ich fürchte, daß wir schon viel zu kaputt sind und die Ausnahmen im Umfeld den Schmerz und Ekel des Lebens in dieser Gesellschaft kaum wettmachen können, und weil ich (stellvertretend für vielleicht alle Menschen) das: gegenseitiger Respekt, Freiheit bestenfalls in sehr kurzen Lebensphasen oder in reichlich später Lebenszeit erfahre, und das: die ungebrochene Erfahrung, die Hoffnung unzerstört, wäre die Voraussetzung, eine Utopie Wirklichkeit werden zu lassen.
Lieben Gruß,
W.
ich glaube,
lieben gruß zurück
mo
Der Schockwellenreiter
Mein mulmige Gefühl kommt daher, daß ich den Eindruck habe, daß die Phantasie eines Schriftstellers von der Wirklichkeit übertroffen wird.
W.
Korsetts aus matriarchaler Sicht:
http://morgaine.twoday.net/stories/1123907/