assoziation: piercing, tattoos, body modification - ein nachtrag

da meine gedanken zu diesem thema doch so einige kommentare ausgelöst haben, möchte ich das, was ich dazu im sinn habe, kurz präzisieren (mal von der tatsache abgesehen, dass "tatoo" mit doppel-o geschrieben wird - ähem...)

ich stimme etlichen der kommentierenden leserInnen zu - natürlich ist es auch eine modebewegung, die auch den üblichen vermarktungsmechanismen unterworfen ist bzw. sich durch eben diese mechanismen vermutlich erst durchsetzen konnte. aber das betrachte ich nur als einen aspekt - modewellen sind zumindest zum teil immer auch ausdruck kollektiver strömungen in teilen der gesellschaft, und brauchen diese basis schlicht und einfach - sonst könnten sie nicht existieren.

und vor diesem hintergrund gingen meine gedanken eher in die richtung, was für kollektive strömungen - verstanden als inszenierter ausdruck / verarbeitungsversuch weit verbreiteter realer erfahrungen - imstande sein können, ein verlangen nach doch mehr oder weniger schmerzhaften eingriffen am eigenen körper auszulösen. eingriffe zudem, deren jüngere ursprünge in der westlichen kultur in den genannten milieus zu suchen sind. was für zeichen benutzen also der ohrgepiercte banker oder polizist, die dezent tätowierte businessfrau?

es sind schlicht als "rebellisch" codierte zeichen, die aus welten der organisierten schmerzzufügung bzw. hinnahme zwecks lustgewinn (s/m) und der parallelwelt der mehr oder weniger organisierten kriminalität stammen.

rein sachlich also aus banden-strukturen, ohne die moralischen oder sonstigen wertungen bei diesem begriff jetzt zu berücksichtigen... ich halte "subkultur" für eine modernisierte version des wortes bande. wenn Sie sich nun einmal diesen hier schon früher erwähnten tp-artikel und meinen kommentar dazu anschauen, wird vielleicht deutlicher, warum ich die erklärung "modewelle" als zu oberflächlich ansehe. ich tendiere eher dazu, das, was allgemein unter "strukturen der organisierten kriminalität" oder auch mafia läuft, als eine weltweit zu beobachtende und geradezu typische folge von massentraumatisierungen besonders nach politischer/kriegerischer gewalt anzusehen - wie in diesem blog schon mehrfach aufgezeigt, greifen traumatische prozesse vor allem die menschlichen fähigkeiten zum sozialen an -das gesellschaften, in denen massentraumatisierungen vorkommen oder kamen, danach für kriminalität in diversen formen (als ausdruck der durch das kollektive trauma geförderten antisozialität) und, damit einhergehend, bandenbildung (die auch verschiedene formen annehmen kann - vielleicht sogar die form eines sog. multinationalen konzerns...?) anfälliger werden, lässt sich imo sogar statistisch belegen - in meinem kommentar bei tp habe ich ein paar beispiele erwähnt. vielleicht wird es jetzt klarer, warum ich zu meinen gedanken gekommen bin? das heißt jetzt - wie schon gesagt - im umkehrschluß nicht, dass alle gepiercten und tätowierten menschen derart ihre persönlichen traumata zur schau stellen. aber womöglich bestimmte kollektive strömungen ausagieren, die mit den erwähnten prozessen sehr viel zu tun haben.

zweite frage in diesem zusammenhang: ist das "modische" piercing bzw. tattoo gleichzusetzen mit dem extrempiercing bzw. dem, was unter body modification läuft?

"In der jugendlichen Subkultur der USA hat das Interesse an Body Modification in den vergangenen fünf Jahren stark zugenommen. Über „Conventions" und „Netzwerke" breitet sich der Trend derzeit „bis ins letzte Kaff" aus, berichtet der Kölner Kriminalbiologe Mark Benecke, der den bislang vor allem in Amerika grassierenden Verstümmelungskult wissenschaftlich zu ergründen versucht.

Mit Tätowierungen und Piercings haben die planvollen Selbstverletzungen nicht mehr viel gemein. In vielen Bodmod-Studios hängt der Geruch von verbranntem Fleisch in der Luft, weil selbst ernannte Folterknechte die Körper ihrer Klienten mit rot glühenden Eisen traktieren („Branding").

Extreme Gewebedehnungen („Stretchings") und Genitalpiercings zeichnen Bodmod-Anhänger bis an ihr Lebensende. Gewebeschnitte („Cuttings"), bei denen die Wunden häufig mit Mineralpulver oder Meersalz eingerieben und wiederholt nachgeschnitten werden, um die Narbenbildung zu verstärken, zaubern bleibende Versehrungen auf die Haut. „Es scheint ein Bedürfnis nach bizarren Körperritualen zu geben", erklärt der Kriminalbiologe, „das in unserer Gesellschaft nicht gestillt wird."

Vieles wird auf Video festgehalten, weil die blutigen Akte nicht beliebig wiederholbar sind. Anders als an der amerikanischen Ostküste finden die Selbstverstümmelungen in den Metropolen im Westen oft als rituelle „Sessions" und „Performances" vor handverlesenem Publikum statt.

Die Kontrolle über den Schmerz ist den Folter-Fans wichtiger als ein möglicher sexueller Reiz. „Mit Sadomasochismus", erläutert Benecke, „haben die meisten in der Szene nichts am Hut." Europäische Betrachter reagieren auf die Verstümmelungspraktiken geschockt. Über ein Jahr lang hat Benecke am Rechtsmedizinischen Institut der Stadt New York gearbeitet. In seiner Freizeit interviewte er Anhänger des Bodmod-Kults. Als er das Ergebnis seiner Recherchen kürzlich auf einer Tagung deutscher Rechtsmediziner in Frankfurt am Main präsentierte, waren selbst abgebrühte Obduktionsexperten über die gezeigten Bilder bestürzt.

Beim Kongress anwesende forensische Psychiater murmelten angesichts der Verstümmelungen ratlos von „Borderline-Persönlichkeiten". Sind die Selbstverstümmler also nur psychisch Kranke? Dann müssten Persönlichkeitsstörungen bei Urvölkem die Regel sein. Denn die Gewohnheit, den menschlichen Körper als Mal-, Brand- und Schneidegrund zu betrachten, ist fast so alt wie der Mensch selbst. Auf ägyptischen Mumien etwa haben Archäologen Spuren von Tätowierungen, Schmucknarben und Nabelpiercings entdeckt. Die mittelamerikanischen Mayas durchbohrten bei rituellen Feiern Penis oder Zunge. Die noch weichen Schädelknochen ihrer Säuglinge und Kleinkinder wurden dem herrschenden Schönheitsideal entsprechend verformt. Nordamerikanische Indianer baumelten beim "Sonnentanz", der so genannten 0-Kee-Pa-Zeremonie, an Fleischerhaken, die sie sich durch Brusthaut und -muskeln trieben. Extreme Gewebedehnungen sind noch heute in vielen afrikanischen Kulturen weit verbreitet. Narbenmuster auf der Haut signalisieren Stammeszugehörigkeit, sozialen Rang, durchlaufene Lebensstadien oder die Intaktheit des Immunsystems. „Wir alle machen etwas mit unserem Körper", sagt Enid Schildkrout, Anthropologe am Amerikanischen Museum für Naturgeschichte in New York, „um anderen zu zeigen, wer wir sind - selbst wenn wir uns nur die Haare kämmen."

Verstümmelungstraditionen sind aber beileibe nicht auf entlegene Regionen und vergangene Kulturen beschränkt. Auch Mitglieder schlagender Verbindungen sind stolz darauf, sich durch die Mensur prachtvolle Narben zuzufügen. Bis heute steht der Schmiss in bestimmten Kreisen für Maskulinität, Unerschrockenheit und gehobenen sozialen Status. Früher waren viele Frauen ganz wild auf die Narbenträger: „Ein Renommier-Schmiss zeigte", so der US-Historiker Kevin McAleer, „dass sein Träger Mut und Ausbildung besitzt - und damit ein guter Bräutigam ist." Einige der Männerbündler tauchen gelegentlich noch heute bei plastischen Chirurgen auf, um sich ihre Narben kunstvoll nachbessern zu lassen. Auch das Nipple-Piercing ist ein alter Brauch, den vermutlich schon die Offiziere der römischen Legionen praktizierten."


meine antwort auf die oben gestellte frage: nein. wobei ich das, was hier als body modification beschrieben wird, als quasikern dessen ansehe, was in piercing- und tatoostudios heute in den milderen varianten so abläuft. dabei ist der obige hinweis auf verstümmelungstraditionen älterer kulturen deswegen interessant, weil z.b. lloyd deMause gerade die benannten kulturen als außerwestliche beispiele für weit verbreiteten infantizid - absolut üblen bis mörderischen umgang mit kindern und babys - benennt, und die genannten rituale als re-inszenierung traumatischer erfahrungen begreift.

und die als "initiationsriten" zu verstehenden erwähnten rituale westlicher männerbünde bzw. -banden gerade militärischer bzw. militaristischer prägung lassen sich ebenfalls in den oben erwähnten kontexten begreifen - elemente von re-inszenierungen bzw. simulierten neugeburten - unter bewusster und rigider abgrenzung zum "alten" leben mit seinen vermutlich vielfach schmerzhaften erfahrungen - lassen sich imo ohne große probleme finden. ich sehe sogar zusammenhänge zur existenz virtueller welten - die bewegungen hin zur neukonstruktion des eigenen selbst sowie die vielfältigen manipulationen am eigenen körper ähneln sich imo sehr.

ich hoffe, es ist insgesamt etwas deutlicher geworden, warum ich das sage, was ich sage? ich bin noch etwas angeschlagen von einer schweren erkältung die tage, und möglicherweise durch eine gewisse matschigkeit im kopf nicht ganz in der lage, gedankengänge auf den für mich genauen punkt zu bringen. aber das wird sich hoffentlich bald wieder ändern.
pholos (Gast) - 29. Nov, 18:32

"zusammenhänge zur existenz virtueller welten - die bewegungen hin zur neukonstruktion des eigenen selbst sowie die vielfältigen manipulationen am eigenen körper ähneln sich imo sehr."

----------------------

In diesem Zusammenhang ist eine weitere Form interessant:
"Ein 39-jähriger Deutscher [...] sucht „nach einer Möglichkeit, meine innere Identität als Mensch mit einer Querschnittlähmung zu realisieren und somit psychische Heilung zu erlangen."
http://www.sueddeutsche.de/kultur/artikel/756/64692/

che2001 (Gast) - 25. Sep, 11:36

Was mir fehlt, ist eine zweite Perspektive: Tattoos und Piercings nicht als Form der Selbstverstümmelung, sondern als spielerischer Umgang mit dem eigenen Körper, als die Erwahsenen-Version von Maskenschminken, und ich denke, die wahrheit liegt auf halbem Wege zwischen dem von dir angezeigten Komplex und der Homo-Ludens-Variante.
monoma - 25. Sep, 18:27

@che

nunja, dabei gilt es vermutlich erstmal, zwischen tattoos und piercings zu unterscheiden - bei letzteren ist der schmerzaspekt imo dann doch noch ein anderer.

aber auch, wenn die freude an der kunst am eigenen körper eine rolle spielen mag (wobei mir da eher die körpermalerei aus den hippiezeiten in den sinn kommen würde) - der fakt bleibt, dass es doch eine bemerkenswerte entwicklung in den letzten zwei bis drei jahrzehnten gegeben hat. vielleicht warst du ja auch in 70ern "bravo"-leser *g* und kannst dich an die fast in jeder ausgabe vorhandenen kleinanzeigen erinnern, in denen für die entfernung von tattoos geworben wurde? oder wie ca. 1977 ein typ wie "rocky" aus hamburg, volltätowiert, iroschnitt und nasenpiercing, von der "bravo" als skurrilität gehypt wurde, der heute vermutlich fast kein aufsehen mehr erregen würde?

seefahrer- und knastmilieu, also antibürgerliche welten, waren wie gesagt auch die assoziationen von uns kids damals. und die typische symbolik dieser welten hat sich also als normalität auf faktisch alle gesellschaftlichen bereiche ausgedehnt - und zwar unter verschärften und haarsträubenden sozialen bedingungen. dieser zusammenhang ist es, der mich zum nachdenken bringt.

die ganz offen schmerzerzeugenden und/oder gar verstümmelnden praktiken habe ich dabei noch nicht mal so im blick, weil da die motivationen/hintergründe für mich sehr deutlich zu sein scheinen. aber die modifizierten und milderen formen als mainstreamereignis - darüber wird mir zuwenig geredet.

ich kann zum thema auch die schilderungen von solschenyzin im "archipel gulag" empfehlen, in denen er die welt der erklärt kriminellen häftlinge beschreibt. ebenfalls greift ein aktueller tp-artikel das gangwesen und seine ausbreitung auf den amerikanischen kontinenten auf, zu dem die erwähnten maras gezählt werden müssen.

mir geht es dabei keinesfalls um die sorge für die bürgerlich-kapitalistische gesellschaft, die sich eh bereits in der sackgasse befindet (zombienation...). aber ich kann in der verbreitung von praktiken (nicht nur) aus dem gangwesen auch nicht unbedingt eine emanzipatorische tendenz erkennen, sondern sehe eher die im ausgangsbeitrag geschilderten zusammenhänge, die bei mir ziemlich ungute gefühle wecken.
che2001 (Gast) - 26. Sep, 09:15

Gut erinnere ich mich noch an die erste nasengepiercte Frau, die mir über den Weg lief, das war eine Waffenhändlerin. Damals war ein Nasenpiercing untrügliches In-Zeichen der Koks-User, heutzutage trägt das jede Friseurin oder Arzthelferin. Wer in den 70er Jahren in den Dschungel gegangen ist und käme heute wieder würde sich schon sehr wundern. Trotzdem, auch bei der Bedeutung von Piercing als tribaler Initiationsritus sehe ich diesen Archaismus noch nicht zwangsläufig als etwas Negatives; die Brücke zu Dingen wie Frauenbeschneidung und anderen Verstümmlungen muss nicht zwingend geschlagen werden. Was Anderes erscheint mir in diesem Zusammenhang interessant. In weiten Bereichen der Szene, die so in den 70ern/frühen 80ern hip war, nicht nur bei Linken, galt eine promiskuitive Sexualität mit häufigem PartnerInnenwechsel, offenen Beziehungen und erlaubten Seitensprüngen durchaus als etwas Positives und mit emanzipatorischen Vorstellungen zumindest partiell vereinbar, wenn nicht sogar verbunden. Ich habe dies auch positiv erlebt. Als bei uns ein Bewusstsein zur Aidsproblematik entstand - bis 1982 galt das ja als exotische New Yorker Schwulenkrankheit - kamen "alte Laster" wie BDSM und Fetischismus relativ schnell in Mode. Wie, wenn dies zunächst eine Reaktion von Menschen war, die auf eine ausschweifende, wilde Art, ihre Sexualität zu leben nicht verzichten wollten, aber damit konfrontiert waren, dass ihre gewohnte Promiskuität plötzlich lebensgefährlich war, also eher eine Art Ausweichen auf eine neue Spielwiese? In der zeitlichen Abfolge kam dann zunächst die Debatte über Vergewaltigungen in der linken Szene und dann die von Alice Schwarzer und Ingrid Strobl mit abweichenden Intentionen getragene Porno-Kampagne, kurz darauf die Debatte um "Neue Sinnlichkeit" mit der ästhetischen Inszenierung von BDSM, Fetischismus, aber auch New Romantic und sublimierter Nekrophilie (Gruftietum) in Verbindung mit dem Yuppietum als Zeitgeistbewegung, damals mit George Bataille und dem eigentlich sehr schwierigen, damals aber als Popautor gelesenen Philosophen Jean Baudrillard als Modeliteratur. Im "Wiener" wurde die Ästhetisierung von SM-Lesbentum als Gegenschlag gegen Schwarzer gefeiert, es steht also zu vermuten, dass es wirklich einen Zusammenhang zwischen Backlash in den Geschlechterbeziehungen, Yuppietum als soziokulturelle Bewegung und Neoliberalismus gibt. Vielleicht fällt Dir an dieser Stelle etwas ein, was weiterführt; mit der Dechiffrierung kultureller Codes kenne ich mich nämlich nicht so gut aus, und irgendwie habe ich das Gefühl, es wartet hier ein Aha-Erlebnis, auf das ich noch nicht gekommen bin. Ich würde diese Debatte auch gerne parallel auf meinem Blog weiterführen, da kippt die Debatte nämlich gerade ins Alberne.

mo (Gast) - 26. Sep, 20:32

debatte weiterführen,...

...gerne - ich weiß bloß noch nicht so recht, wann :-(

diese woche wird´s definitiv nix mehr, ich sage mal vorsichtig für die zwei folgenden wochen zu.
che2001 (Gast) - 6. Okt, 12:18

Ich hoffe zumindest, dass es Dir gelingt!
che2001 (Gast) - 21. Okt, 19:32

Das ist jetzt aber schon mehrere Wochen her!
mo (Gast) - 22. Okt, 21:47

@che (und auch andere)

yo, ich komme z.zt. nicht hinterher, was u.a. an zuwenig zeit liegt, die ich für das schreiben habe - das wird sich vermutlich in den nächsten zwei wochen auch leider nicht ändern. sorry.

was speziell die in deinem beitrag angesprochenen themen betrifft, werde ich einiges davon ebenfalls im traumaschwerpunkt aufnehmen. besonders aber bestimmte feministische und (de-)konstruktivistische strömungen, s/m und kulturelle trends im zusammenhang mit verschärften soziökonomischen bedingungen sind nochmal ein eigenes thema, und zu s/m möchte ich schon länger im kontext "sex im strudel der verdinglichung" mal etwas längeres schreiben.

aber vorläufig bleibt der angekündigte schwerpunkt meine priorität. und ich vermute, das die oben angerissene diskussion von meiner seite aus dann sogar etwas verständlicher geführt werden kann, weil ich hier traumatische strukturen bekanntlich für als im hintergrund verantwortlich mitwirkend halte.
che2001 (Gast) - 24. Okt, 13:14

Eine Überlegung in diesem Kontext: Jüngere Frauen, die etwas auf sich halten, rasieren sich heutzutage nicht nur die Beine, sondern auch die Achselhöhlen, öfter auch die Schamhaare. Vor etwa 20 Jahren gab es das eigentlich nur im SM-und im Rotlichtmilieu, heutzutage ist es eine Modeerscheinung in ganz spießigen Normalo-Kreisen geworden. Immer verbreitet war diese Sitte hingegen in islamischen Ländern und Südamerika. Das würde ich als zeitgeistmäßige Veränderung der Körperkultur betrachten, die ich im gleichen Kontext ansiedle wie Tattoo und piercing, ohne dasss das etwas mit Traumatisierungen oder Selbstverstümmelung zu tun haben muss.
mo (Gast) - 24. Okt, 18:49

das sehe ich etwas anders

die genannten rasuren, gerade von bein- und achselhaaren, würde ich zum einen als symptom eines konformitätsdrucks hinsichtlich der mainstreamschönheitsideale ansehen. ich finde es seit ca. zehn jahren extrem auffällig, wie modellhaft gestylt - und dabei geradezu uniform - sehr viele frauen unter 30 herumrennen. für mich ein geradezu klassisches backlashsymptom (mir fallen da auch ein paar frauen ein, die ich eher als feministisch orientiert bezeichnen würde, und die am ende der 90er jahre selbst begonnen haben, sich derart zu rasieren - und für mich wurde bei diskussionen darüber schon der erwähnte konformitätsdruck sichtbar).

andererseits, und nicht unbedingt als gegensatz, sondern eher als hintergrund, sehe ich dabei eine tiefere symbolik: körperbehaarung als metapher für eine zunehmend als irgendwie und unausgesprochen unangenehm empfundene eigene biologie, incl. aller daraus erwachsenen grenzen und beschränktheiten - die tabuisierung von alter, krankheit und tod spielt da imo eine sehr große rolle, und diese glattgestylten puppengestalten entsprechen gleichzeitig dem damit einhergehenden diktum von möglichst ewiger jugend. ich schätze, in naher zukunft werden wir die ersten voll virtuellen stars haben, avatare mit entsprechender ki, die dann diese träume in ihrem als-ob-dasein perfekt "verkörpern", und genau daraus ihre anziehungskraft beziehen werden.

und warum ich diese ganze tendenz, diese bewegung weg von der eigenen körperlichkeit und hin zu durchkonstruierten identitätsentwürfen, durchaus nicht für begreifbar halte ohne berücksichtigung der wirkungen von gewaltstrukturen - das dürfte bei ansicht vieler beiträge hier dann deutlich sein.

vielleicht sollte ich anfügen, dass ich mir selbst ganz gerne eine glatze rasiere - heute hat das eher etwas mit praktischen erwägungen im vordergrund zu tun, aber es gab viele zeiten früher, da habe ich das bewusst gemacht, um bestimmte innere teile von mir auszudrücken - siehe zb. hier.
Wednesday - 25. Okt, 06:52

Oh nein, bitte - Rasuren haben nicht unbedingt ein Schönheitsideal im Sinn, sie können durchaus auch einfach nur nützlich sein. Im Haar halten sich zB (un)erwünschte Düfte besser als auf nackter Haut. Weisse Beine ohne schwarzem Haar drauf sehen zu kurzen Röcken wirklich besser aus. :-D Und nasses Achselhaar ist für viele höchstwahrscheinlich viel unangenehmer als die feuchte nackte Achselhöhle.

Ich hab auch was dagegen, daß Frauen, die sich irgendwie schön machen, als irgendwie nicht emanzipiert zu betrachten... das erinnert mich an das blöde Vorurteil, Lesben seien immer hässlich, sonst wären sie nicht lesbisch....
che2001 - 25. Okt, 11:52

Monoma, ich gebe zu, dass es eine Tendenz in dieser Richtung gibt, aber auch nicht mehr. Klar, diese Britney-Spears-Verschnitte, die in den späten 90ern plötzlich rumrannten sind im Vergleich zu früherer Otfit-Pluralität schon auffallend. Ansonsten gebe ich auch Wednesday recht. So fragte ich einmal eine Frau, die sich sowohl Achsel- als auch Schamhaar rasierte, warum sie das täte, und als Antwort bekam ich: "Rasiertes Schamhaar ist für Oralverkehr praktischer", und das Achselhaar rasiere sie, weil wenn schon denn schon, darauf gekommen, beides zu tun, sei sie aber durch eine Zeitschrift. Der Konformitätsdruck, den Du beschreibst, existiert einschließlich der zugrundeliegenden psychophysischen Strukturen als Matrix im Hintergrund, ich würde das Problem nur nicht zu sehr verabsolutieren. Insofern geht es Dir mit Deinem Blog öfter wie mit der "Dialektik der Aufklärung": Sehr erhellend, ich würde nur Vieles als Richtungsweiser oder "Im Prinzip ist es so" sehen, aber nicht als ausschließliche Erklärung der beobachteten Phänomene, eher als Komponente in einem multikausalen Zusammenhang.
mo (Gast) - 25. Okt, 16:24

@w-day und che:

sicher, ich habe ja selbst oben von praktischen erwägungen geschrieben, die bei rasuren eine rolle spielen können - aber die hatte ich hier nicht unbedingt im sinn, wie ihr euch vielleicht vorstellen könnt.

die möglichen motivationen sehe ich daher ebenfalls vielschichtig, und einige davon sind natürlich ganz und gar kein problem. mir ging und geht es eher um die grenzbereiche, in denen zb. jemand vielleicht eher die nützlichen und/oder schönheitsaspekte als eine art rationalisierung benutzt (womöglich auch, ohne es selbst so zu sehen). ich finde, dass es durchaus ein zwanghaftes schön-sein-wollen gerade bei frauen gibt - schönheit hier im mainstreamsinne begriffen -, für das viel geld und zeit aufgewendet wird. und da sehe ich dann fließende grenzen zu einigen punkten, die ich im obigen posting angesprochen habe. nicht mehr und nicht weniger wollte ich dazu sagen - von multikausalen zusammenhängen gehe ich ebenfalls meistens aus, auch wenn ich mich hier auf bestimmte strukturen konzentriere (ach was ;-)

einen schönen herbsttag noch.
che2001 - 26. Okt, 16:18

Ebenso :-).

Klar, in diesem Blog geht es um Traumatisierungen und gesellschaftliche Pathologien. Dass aus diesen nicht die ganze Welt besteht, ist eine Binsenweisheit, ebenso wie die Tatsache, dass diese aber große Teile unserer Realität bestimmen. Nur, von Zeit zu Zeit finde ich es nützlich, auf die Relationen hinzuweisen, um nicht das Maß zu verlieren.
monoma - 29. Okt, 18:02

nunja - ich frage mich aber z.zt. immer mehr, wie groß die entsprechenden teile der realität eigentlich wirklich sind. und neben der gefahr des "maß verlierens" sehe ich auch die gefahr des relativierens - zumal gerade letzteres noch an allen ecken und enden gefördert wird.

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