basis: "jetzt bleiben Sie doch mal *sachlich*" - subjektivität vs. objektivität (und etwas zur folter)

wieder einmal anders als geplant (so wie das leben meistens ist), hat mich ein artikel bei spon zum versuch veranlasst, das in der überschrift erwähnte verhältnis näher zu betrachten. dieses thema wäre sowieso hier irgendwann fällig gewesen, und zieht sich als hintergrund auch durch diverse frühere beiträge. die versprochenen antworten auf die vielfältigen kommentare hier sind dabei nicht vergessen. und in einem gewissen sinne lässt sich der folgende beitrag bereits auch als ergänzung / antwort zu vielen der in den kommentaren aufgeworfenen fragen verstehen.

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nun aber zum erwähnten artikel mit der überschrift Schäuble am Pranger - als ein weiterer (und ebenfalls aufschlußreicher ) beitrag zur sog. folter-debatte - dieser begriff hat allerbeste chancen auf den titel unwort des jahres - gedacht, möchte ich auf eine spezielle argumentationsfigur hinweisen, die nicht nur hier zum einsatz kommt, sondern in dieser gesellschaft an allen ecken und enden bis in die allerpersönlichsten bereiche hinein anzutreffen ist. im artikel taucht sie so auf:

"Mit seinen Äußerungen zu Folter und Rechtsstaatlichkeit hat sich Innenminister Schäuble heftige Kritik eingehandelt. Der Christdemokrat bekommt zu spüren, dass eine sachliche Debatte über das Thema zurzeit kaum möglich ist."(...)

"Die zum Teil hochemotionalen Reaktionen heute zeigen aber, dass der Innenminister trotzdem keinen leichten Job haben wird. Wer heute die Fortsetzung der im Kampf gegen den Terror unverzichtbaren Geheimdienstarbeit fordert, wird von manchen fast in die Ecke von Folter-Fans gestellt. Tragfähige Erkenntnisse über global agierende Terror-Netzwerke lassen sich aber nur global gewinnen, dabei kann man nicht immer die freiheitlich-demokratische Grundordnung der Bundesrepublik anlegen. Eine ernsthafte, ruhige Diskussion zu diesem Thema ist jedoch zurzeit kaum möglich"(...)


ich muss sagen, dass meine spontane reaktion ganz und gar nicht sachlich im sinne des hier seine eigene pervertierung offenbarenden autors gewesen ist, sondern im dringenden und durch und durch subjektiven bedürfnis bestand, dem schreiber einen fetten tritt vors schienbein zu geben. und ich kann hier gleich anmerken, dass ich diese emotionale reaktion angemessen finde. zumal wünsche und / oder phantasien noch lange keine zwangsläufige materielle verwirklichung nach sich ziehen, dafür aber durch ihre jeweilige art und intensität durchaus informationen vermitteln - und zwar sowohl über den auslösenden menschen, den inhaltlichen gegenstand oder die situation, als auch über mich selbst.

diejenigen, die sich nicht ganz darüber im klaren sind, was dieser artikel eigentlich letztlich zur angeblichen "verteidigung" von freedomanddemocracy n i c h t auschließen möchte, seien z.b. hierauf verwiesen:

"Etwas heftiger sind dann die Schläge auf den Bauch. Auch sie werden mit den Absicht geführt, dem Gefangenen Schmerzen zuzufügen. Aber dies soll mit offener Hand, nicht mit der Faust geschehen, um keine inneren Verletzungen zu verursachen. Als eine der effektivsten Techniken wird beschrieben, die Gefangenen Tage lang stehen zu lassen. Sie werden für mehr als 40 Stunden mit Hand- und Fußschellen stehend gefesselt. Erschöpfung und Schlafdeprivation würden dann zu Geständnissen zu führen. Eine andere oder zusätzliche Maßnahme ist die "kalte Zelle". Der Gefangene muss nackt in einer Zelle stehen, in der es nur ein paar Grad warm ist. Dazu wird über die Gefangenen hin und wieder kaltes Wasser geschüttet.

Häufig angewendet wird wohl auch das sogenannte Water Boarding. Dabei wird der Gefangene auf einem Brett festgebunden. Über das Gesicht wird eine Plastikfolie gelegt und der Gefangene dann kopfüber mit Wasser übergossen. Dadurch entsteht unwillkürlich die Angst zu ertrinken, was angeblich zu einer schnellen Bereitschaft führt, ein Geständnis abzulegen."



warum nun begreife ich die anfangs zitierten sätze als perversion? weil sie das symptom eines gewaltverhältnisses darstellen, welches sich zuerst entweder im autor selbst befindet, oder aber von diesem aus gründen, über die noch zu reden sein wird, zumindest aufgegriffen und als scheinbar richtiges transportiert wird. und letzteres setzt nicht unbedingt einen strukturellen defekt im autor selbst voraus, wohl aber mindestens einen funktionellen. will sagen: um so etwas schreiben zu können, scheinbar ganz rational und objektiv, muss sich der autor mindestens zeitweise in eine innere position der distanzierung, der fiktionalität und vor allem der empathielosigkeit begeben - und das bei einem thema, bei dem es im weitesten sinne um den umgang miteinander innerhalb unserer spezies geht. und wie aus dem vorstehenden satz faktisch schon hervorgeht, lässt sich diese besondere postion nur mittels wahrnehmungsreduktion erreichen. egal, ob diese reduktion defektbedingt (siehe alexithymie oder auch autismus) oder aber aus unreflektierter gewohnheit (bei grundsätzlich intakter persönlichkeit) bezogen wird.

wovon redet der da, zum teufel? ist objektivität nicht etwas erstrebenswertes? und nötig als gegengewicht zur oftmals abscheulichen irrationalität und ungerechtigkeit subjektiver meinungen und einstellungen? stellt die rationale objektivität nicht auch das wirksamste antidot gegen das dar, was so allgemein - und auch psychiatrisch - als wahnsinn begriffen wird? beruht nicht die ganze durchsetzungsfähigkeit der westlichen kultur und ihre wissenschaftlichen erfolge gerade auf dieser art von objektivität?

viele fragen. fragen, auf die bereits ebensoviele verschiedene antworten versucht und gegeben wurden - der "subjektivität-objektivität-komplex" ist ja auch etwas, worüber sich stundenlang philosophieren lässt. aber so schlimm soll´s hier jetzt nicht werden. mir geht es um eine beschreibung dieses scheinbaren gegensatzes, die sich einfach primär an den menschlichen gegebenheiten orientiert - und nicht an den menschlichen fiktionen über diese gegebenheiten. und das ist nicht anmaßend, sondern sowohl möglich als auch dringend nötig.

nötig deswegen, weil sich im obigen sponzitat deutlich erkennen lässt, wie in dieser gesellschaft mittels dieses angeblichen gegensatzes handfest machtpolitik betrieben wird: die sog. objektive (objektivierende, objektivistische) position wird als alleinige "rationale, vernünftige und sachliche" position bezeichnet - "ernsthaft" ist dabei noch eine steigerung - und dieses vorgehen zwingt zum unausgesprochenen schluß, dass alle anderen möglichen positionen also "irrational, unvernünftig, unsachlich und unernst" sind. wenn Sie also der meinung sein sollten, dass es absolut nicht okay ist, wenn irgendwo vom irgendwem gefoltert wird und die dabei erlangten "erkenntnisse" z.b. von behörden dieses staates ohne ganz direkte beteiligung genutzt werden, sind Sie also in den augen dieses autors quasi als ernsthafte/r gesprächspartnerIn disqualifiziert. Sie sind nicht objektiv genug, sprich: Sie lassen sich womöglich zu sehr von Ihren (empathischen) gefühlen leiten.

was wird mit einer solchen logik tatsächlich angerichtet, worauf beruht sie und wie funktioniert sie?

erstens: sie negiert absolut besonders die empathischen menschlichen gefühle, wischt sie quasi als irrelevant vom tisch - als ob sie nicht vorhanden wären. das bezeichne ich als defekt - wer so argumentiert, bei dem muss als voraussetzung ganz zwingend eine wahrnehmungsreduktion vorliegen - ob funktionell (also eine zeitweilige ausblendung / verdrängung) oder strukturell (eine grundsätzliche krankheitswertige störung der wahrnehmungsmöglichkeiten) - anders lässt sich eine solche position nicht erreichen.

ein einwand gegen meine argumentation könnte darin bestehen, dass z.b. in einem fall wie dem, durch den der frankfurter polizeipräsident daschner bekannt geworden ist, ja die sache doch nicht so einfach wäre, wenn es bspw. um ein entführtes kind geht. meine antwort darauf: doch, es ist so einfach. eine emotionale rationalität bei einer möglichen forderung nach einer ausnahme vom folterverbot lässt sich hier sicher bei den eltern und nahen verwandten des kindes finden und auch sogar nachvollziehen (ebenso ist es imo bei der todesstrafe, wo sich mögliche rache- und vergeltungswünsche bei manchen(!) angehörigen und freundInnen der opfer ebenfalls nachvollziehen lassen). bloß: die beiden eben erwähnten und sehr eng begrenzten gruppen sind auch die beiden einzigen, die diese wünsche notfalls in einem positiv rationalen sinne (unter maßgeblicher beteiligung der emotionen) für sich realistisch begründet vortragen können. was noch lange nicht heisst, dass man sie deswegen akzeptieren muss.

diejenigen schreibtischtäter jedoch, die wie neulich in der welt und jetzt bei spon ihre faktischen forderungen nach einer staatstragenden aufweichung des folterverbotes u.a. mittels der objektivitätskeule medial verbraten, können die eben skizzierte position für sich keinesfalls in anspuch nehmen. bei ihnen läuft es daraus hinaus, dass sie mittels abstraktionen und fiktionen eine angebliche notwendigkeit dafür konstruieren, dass sich staatliche institutionen bereits einfach bei behaupteten angeblichen "gefahrenlagen" in einem ebenso angeblichen "öffentlichen interesse" über die angeblich vorhandenen zivilisatorischen standards der westlichen (schein-)demokratien hinwegsetzen können. und das bedeutet real nichts anderes, als den abstraktionen den vorrang vor den realen menschen zu geben. damit bekommt die sog. objektivität als notwendige wahrnehmungsmäßige basis der abstraktionen den status eines terrorinstrumentes, und damit wird auch sichtbar, wie pervers (=verdreht) das verhältnis subjektivität - objektivität hier tatsächlich ist.

zweitens: wie schon erwähnt, ist es eine der übelsten hiesigen kulturellen angewohnheiten, die sog. objektivität als einzig richtiges gelten lassen zu wollen - auch wenn das aus gründen, die gleich noch näher beschrieben werden, nur nach hinten los gehen kann und ein im schlimmsten sinne des wortes wahnsinniges vorhaben darstellt, so ist dieses primat der objektivität doch bis heute hartnäckig in uns allen verankert. klaus theweleit schrieb dazu 1977 zwar in einem speziellen zusammenhang (besonders an "die linke" gerichtet), aber dennoch imo auch allgemeingültig:

"Geradezu gewalttätig wird die Verwendung des rational/irrational-Gegensatzes, wennn sie mit dem subjektiv/objektiv-Gegensatz gekoppelt wird. (...) In seiner vulgärsten (und verbreitetsten) Form nennt dieses Denken objektiv/rational/real alles, was mit der gesellschaftlichen Produktion zusammenhängt und subjektiv/irrational/irreal alles, was bloß beim Menschen, im `Psychischen´ erscheint und den Sieg der Rationalität des `objektiven´ Prozesses behindert (...)"

"In Wahrheit sind diese Gegensatzpaare auf das Paar negativ/positiv bezogen, auf die Unterscheidung richtig/falsch. Es sind wertende Begriffe, vor allem verurteilende. Sie stützen Systeme, nicht Erkenntnisse, und die Systeme, aus denen sie stammen, sind überlebt.(...)"

(der nächste satz bezieht sich vor allem auf eine bestimmte orthodox-kommunistische position, anmerk. mo)

"Sie streiten sich z.b. immer noch darüber, was `richtiges´ oder `falsches´ Bewußtsein ist. Dabei ist `Bewußtsein´ immer falsch, wenn es in Gegensatz zum `Unbewußten´, zur Emotionalität, zur menschlichen Affektivität gesetzt wird, und das wird es in der Regel. `Richtig´ und `falsch´ ist eine Unterscheidungsmöglichkeit innerhalb axiomatischer Systeme."

(klaus theweleit "männerphantasien" bd. 1; hier zitiert nach einer ausgabe von 1977, s. 273/274)


wobei ich denke, dass sich die verwirrung zum begriff "bewusstsein" auch daraus ergibt, dass unsere sprache hier unpräzise ist (wahrscheinlich nicht zufällig): "ich bin mir bewusst" steht i.d.r. für eine position der scheinbaren objektiven erkenntnis, während "bewusstsein" als ganzes gesehen je nach kontext sowohl für die gesamten kognitiven und psychischen prozesse gesetzt wird, als auch gerne alleine mit den kognitiven fähigkeiten (und hier primär mit den objektiven und abstrakten) gleichgesetzt wird. und gerade die letztere position wird von theweleit imo berechtigt kritisiert, auch wenn in seinen worten nicht ganz herauskommt, dass es hier auch und gerade um die körperliche (psychophysische) basis der emotionen und der menschlichen affektivität geht. "klassisch" linke positionen neigen bis heute dazu, letztlich ideologien als "falsche gedanken", die dann sekundär auch "falsche gefühle" produzieren sollen, für die soziale passivität bis hin zum offen reaktionären handeln "der massen" verantwortlich zu machen. und das ist absolut unhaltbar, ignoriert alles heutige wissen um die menschliche struktur und führt zwangsläufig in die irre. sowie in der folge zur politischen bedeutungslosigkeit.

ohne direkten bezug zu dieser speziellen auseinandersetzung, aber mit sehr viel bezug zum allgemeinen thema, hat der hier bereits oft zitierte j.e. mertz (siehe literaturliste) in seinem buch einen meiner meinung nach sehr interessanten versuch gemacht, das verhältnis zwischen objektivität und subjektivität als ausdruck psychophysischer funktionen zu begreifen. ich kann das hier natürlich leider nur umreißen. in den grundzügen läuft seine analyse darauf hinaus, das das, was er als "konstruktivistisches ich" benennt (und was ich hier öfter "objektivistisches bewusstsein" nenne, gleichbedeutend mit der instrumentellen vernunft und dem westlichen begriff von rationalität), eine funktion, ein werkzeug darstellt (er geht sogar soweit, das als "nützlichen defekt" zu bezeichnen) - und zwar ein werkzeug der subjektivität, wobei letztere als primärer menschlicher zustand begriffen wird. das bedeutet nichts anderes als die aufhebung des scheingegensatzes - in diesem sinne ist die objektive position niemals ausserhalb der subjektivität zu finden, sondern - überraschung - ihr immanent! unsere subjektivität können wir ohne größere schwierigkeiten (wenn wir denn einigermaßen gesund sind) in all ihren gefühlen, intuitionen, erfahrungen, lüsten und schmerzen mit unserer körperlichkeit assoziieren, d.h. uns ihrer körperlichen basis bewusst sein. die objektive position hingegen beruht auf der gleichen basis - welche sollte sie auch sonst besitzen? -, ist daher also eigentlich immer ebenso subjektiv wie alles andere, wird aber quasi durch einen trick von dieser subjektivität scheinbar getrennt und gewinnt dadurch etwas, was sich als eine als-ob-eigenrealität bezeichnen lässt:

"Die wichtigste Besonderheit dieses Körpervorgangs vom psychischen Typus liegt wohl darin, daß er subjektive Erfahrungen generiert, die selbst ganz und gar körperliche Vorgänge sind, auch wenn sie niemals als solche erlebt werden, sondern immer nur als nicht-körperliche, als ob sie nicht körperlicher Art wären. Die subjektive Erfahrung täuscht: Als fundamentalste und folgenreichste Täuschung imponiert die erfahrungsmäßige Entkörperung des `Psychischen´, `Mentalen´, `Geistigen´. Diese Entkörperung ist reine Fiktion, sie ist real nicht möglich. Bei diesem fest eingebauten Programmfehler des Psychischen scheint es sich um einen nützlichen, kreativen Defekt zu handeln: Auf der Basis dieses scheinbar entkörperten Prozesses entsteht nämlich die ganze Welt der menschlichen Fiktion mit ihren schier unbegrenzten Möglichkeiten. Auch das Bewußtsein ist ein Teil dieses scheinbar entkörperten fiktiven Gesamtprozesses."

(j. e. mertz, "borderline..."; s.78)


wenn Sie oder ich heute nacht also träumen, wenn Sie sich zufällig gerade mit matheaufgaben herumschlagen oder pläne machen, wie Sie weihnachten verbringen wollen und dafür eine einkaufsliste im kopf zusammenstellen; wenn Sie sich eine phantastische geschichte ausdenken oder aber mit einer grippe flachliegen und im fieber halluzinieren - dann sind das zwar alles anscheinend körperlose vorgänge, sozusagen virtuelle realitäten und teils auch deutliche simulationen - bloß: all diese vorgänge sind real und konkret untrennbar an Ihren körper, besonders Ihr gehirn, Ihre nervensysteme und wahrnehmungsfähigkeiten, gebunden. sie existieren nicht irgendwo "außerhalb" in einer fiktiven imaginären sphäre. das klingt zwar beim nachdenken zunächst banal, ist aber eine realität, die nicht nur die westliche kultur - und da besonders etliche philosophische und auch psychologische strömungen - seit jahrhunderten nicht zur kenntnis nehmen will und in ihren modellen vom menschlichen leben meistens ignoriert. was auch an folgendem liegen dürfte:

"Entstehungsgeschichte und Funktionsmerkmale dieses fiktiven Arbeitsmodus haben womöglich etwas damit zu tun, daß das Gehirn selbst als Organ, das an der Produktion der subjektiven Erfahrung wesentlich beteiligt ist, dem Zugriff eben dieser subjektiven Erfahrung weitgehend entzogen ist: Als subjektive Erfahrungswesen können wir die ureigene körperliche Arbeitsbasis unserer Erfahrunng nicht vollständig wahrnehmen und bleiben diesbezüglich, also beim Versuch einer Selbstreflexion oder Selbstdefinition, immer auf Fiktionen angewiesen. Ein Vorgang, dessen materielle Grundlage nicht unmittelbar erkennbar ist, bekommt in der subjektiven Erfahrung immer eine (zumindest zusätzliche) gespenstische Qualität: Subjektive Erfahrung, die keinen unmittelbaren, d.h. sinnlichen Zugang zu ihrer eigenen körperlichen Arbeitsbasis hat, erfährt sich selbst ganz unvermeidlich als körperlosen Vorgang und muß sich selbst zunächst in solchen Kategorien reflektieren. Das fiktive, d.h. psychische bzw. bewußte Ich erlebt sich immer nur als vollkommen entkörpertes Gespenst, das sich als scheinbar Nicht-Körperliches in Opposition zum scheinbar Nur-Körperlichen (dem entseelten Körper) befindet: Das Psychische als illusionäres Artefakt erzeugt zwangsläufig das illusionäre Artefakt des Nur-Körperlichen. Beides, reine Psyche und bloßer Körper sind realitätswidrige Fiktionen aus der Werkstatt des fiktiven Arbeitsprozesses selbst.

Das Psychische wäre also ein Fabrikat, das keinen direkten Einblick in die Fabrikationsstätte hat, von der es unaufhörlich fabriziert wird. Bildlich: Ein Flugpassagier, der das Flugzeug, in dem er sitzt und das ihn trägt, nicht wahrnehmen kann, muß sich selbst als eine ganz besondere Art von Flugwesen wahrnehmen, als Flugwesen eben, das ohne Flugzeug fliegen kann und nunmehr mit den richtigen Flugzeugen um die Wette fliegt. Jede bewußtseinsorientierte Psychologie sitzt dieser kapitalen, ziemlich verrückten Illusion auf und vervielfältigt nur diesen immanenten Irrtum des Bewußtseins selbst."

(mertz, "borderline..."; s.78)


ich finde diese argumentation ersteinmal plausibel, besonders vor dem hintergrund der bisherigen ergebnisse der neurowissenschaften, aber auch aufgrund meiner eigenen persönlichen erfahrungen gerade mit körpertherapeutischen prozessen. beim näheren nachdenken zwingen sich jedoch unzählige fragen und konsequenzen regelrecht auf, von denen einige auch wieder zurück zum eingangsthema - folter, ihre mediale propagierung und die voraussetzungen dafür - führen werden.

zunächst aber noch dieses: mertz begreift psychotische prozesse - die er in zwei strukturell unerschiedliche formen teilt: eine grundsätzlich autistische form, die unter bestimmten bedingungen durchaus kompatibel mit den jeweiligen, gesellschaftlich produzierten normen der sog. objektiven realität ist, sowie eine schizophrene form, die von der heutigen zuständigen psychiatrie meist alleine als psychotisch gewertet wird, und zwar hauptsächlich deshalb, weil sie ganz offensichtlich bspw. durch halluzinationen nicht kompatibel mit der herrschenden aktuellen realitätsnorm ist (mit dieser postulierung von zwei qualitativ unterschiedlichen psychotischen wegen ähnelt sein modell übrigens auch ähnlichen gedanken bei arno gruen und theweleit) - grundsätzlich als ausdruck einer aus dem gleichgewicht geratenen und sich verselbstständigen objektiven position innerhalb des "menschlichen funktionsganzen". in seinen worten:

"Die Psychose beginnt in der Regel nicht erst mit dem offensichtlichen Wahnsinn, der auffällig störenden Verrücktheit, sondern lange, lange vorher, die Psychose beginnt haargenau als beliebig rationales, im objektiven Sinne beliebig realitätstüchtiges Kontrollbewußtsein, das allerdings in einer funktionalen Monopolposition operiert. Kurzum, der psychotische Prozeß wäre weitgehend identisch mit dem an sich gesunden Prozeß des objektiven Kontrollbewußtseins, das jedoch im Falle einer Psychose aus dem Funktionsganzen ausbricht, sich verselbstständigt und auf das vollständige Subjekt, dem es entstammt und von dem es sich funktional quasi emanzipiert hat, wie auf ein Fremdes, Nichtichhaftes zurückblickt. Das, was den Psychotiker hauptsächlich plagt, quält und verfolgt, ist das vollständige Subjekt, das er (fiktiv) hinter sich gelassen hat."

"Weicht die stets objektive Realitätsbewältigung des Psychotikers von den jeweils geltenden objektiven Realitätsnormen seiner Bezugskultur ab, so gilt er als `verrückt´, gelingt ihm eine flächendeckende Anpassung an die geltenden objektiven Realitätsnormen, so könnte er z.B. die unauffällige Existenz eines theoretischen Physikers führen oder vielleicht sogar durch die Konstruktion einer wissenschaftlichen Theorie, etwa einer Relativitätstheorie, auffallen." (ein deutlicher hinweis auf einstein, der u.a. von temple grandin als aspergerautist definiert wurde; anmerk. mo)

"Den Endprodukten des objektiven Arbeitsmodus ist es prinzipiell nicht anzusehen, ob sie von einer psychotischen oder intakten Person stammen. Es besteht jedenfalls kein grundsätzlicher Unterschied zwischen den Perspektiven einer strikt objektiv operierenden Wissenschaft einerseits, unserem gewöhnlichen objektiven Kontrollbewußtsein anderseits oder der strikten Objektivität des Psychotikers in einer akuten Phase.

Es ist der Psychotiker selbst, der mit seinen auffälligen objektiv abnormen Entgleisungen, die immer innerhalb des objektiven Modus stattfinden (von der objektiven Normkonformität zum objektiven Normverstoß), die verborgene Wahrheit der Wissenschaft und des Alltagsbewußtseins endgültig auffliegen läßt. Der Psychotiker widerlegt die objektive Methode im existenziellen Selbstversuch und am eigenen Leib, er zahlt meist einen hohen Preis für diese endgültige Widerlegung."

(mertz, "borderline..."; s.84/85)


bevor ich nochmals auf die wahrscheinlich für die meisten ungewohnten ansichten eingehe, noch eine anmerkung zur frage, wie vor dem hintergrund des obigen modells dann die subjektivität zu begreifen ist:

"Das authentische (inter)subjektive Geschehen wird jedoch keineswegs von den Gesetzen der Rationalität oder einem objektiven Realitätsverständnis regiert. Trotz fehlender Rationalität im engeren Sinne und fehlender Objektivität muß der subjektive Prozeß dadurch nicht unbedingt ir-rational im weiteren Sinne oder ir-real werden. Der subjektive Prozeß repräsentiert eine ganz eigene, andere Realität, die einer ganz eigenen, `anderen´ Rationalität gehorcht (das, was ich weiter oben als emotionale Rationalität benannt habe, mo)

Diese subjektive Welt kann mit den Mitteln des rationalen und objektiven bzw. objektivierenden Kontrollbewußtseins nicht adäquat erschlossen und auf dieser Ebene nicht angemessen abgebildet werden (...)"

(mertz, "borderline..."; s.83)


so. auch die obigen thesen dürften mit dafür verantwortlich sein, dass dieses buch so hartnäckig ignoriert wird. dabei haben sie durchaus das potential, einige destruktive kulturelle mythen zu zerstören. ich fasse sie nochmals mit eigenen worten zusammen, und möchte auch auf ein paar auf der hand liegende konsequenzen hinweisen.

1. das, was wir als "objektivität" begreifen, ist kein echter gegensatz zur subjektivität, sondern ein funktionaler teil von dieser. wie der effekt dieser scheinbar eigenen und körperlosen qualität der objektiven position wahrscheinlich zustande kommt, ist weiter oben beschrieben.

2. der objektivistische modus ist "für sich" keineswegs krankhaft, sondern ein integrierter teil der menschlichen struktur. er zeichnet sich aus durch die produktion von virtuellen räumen, welche die voraussetzungen für die produktionen von fiktionen, abstraktionen und simulationen bilden. das können sowohl bspw. abstrakte mathematische uind logische gesetze, baupläne usw. einerseits, als auch träume, phantasien aller art, erdachte geschichten, halluzinationen usw. sein (hier leigt imo auch die berühmte bruchstelle zwischen "genie und wahnsinn"). die verschiedenheit der möglichen produktionen macht bereits deutlich, dass es sich hier um eine art werkzeug handelt - und nicht um eine tatsächliche eigene qualität, wie sie etwa die subjektivität darstellt.nebenbei gesagt, dürfte dieser modus auch den entscheidenden unterschied zwischen menschen und tieren ausmachen sowie die dominante position der spezies mensch auf diesem planeten ermöglichen (fähigkeiten wie bspw. die zur kalkulierenden planung sind imo bisher bei keinem einzigen tier beobachtet worden).

3. der objektivistische modus kann nichts "aus sich selbst heraus" schaffen, sondern verwertet für seine produktionen immer den sensorischen input unserer wahrnehmung in all ihren facetten - das bildet selbst dann immer noch die untrennbare körperliche basis, wenn sich dieser modus fiktiv selbstständig gemacht hat. alles, was wir fiktional produzieren können, lässt sich auf existierende phänomene der realität beziehen. und das, was in diesem bereich als kreativität gilt, dürfte sich hauptsächlich auf die fähigkeit beziehen, verschiedene elemente dieser realität in neuer und überraschender weise zu kombinieren.

4. der objektivistische modus dürfte der hauptverantwortliche faktor für die existenz von durch und durch fiktiven göttern, nationen und ähnlichen kulturellen produktionen darstellen.

5. der objektivistische modus ist strukturell eine autistische position, da er funktional mittels mehr oder weniger starker wahrnehmungsreduktion arbeitet, von der besonders die körperlichen wahrnehmungsarten (zb. propriozeption) betroffen sind. die virtuellen räume des bewußtseins müssen mittels focussierung und abziehung der aufmerksamkeit von der dominanten äußeren realität erzeugt werden - die ständig vorhandenen vielfältigen beziehungen des menschen zur welt werden fiktiv aufgehoben. im ungleichgewichtsfall ist er verantwortlich für die extremensten formen zwischenmenschlicher isolation.

6. der objektivistische modus kann vom menschlichen funktionsganzen auch bei der bewältigung gefahrvoller situationen genutzt werden - er unterliegt in solchen situationen normalerweise keiner bewußten kontrolle und arbeitet dabei mit einer enormen geschwindigkeit sowie gesteigerter wahrnehmungsreduktion. das eröffnet eine breite spur zum bereich traumatischer folgen von zwischenmenschlicher gewalt einerseits sowie zur frage, wie sich dieser modus bei ungünstigen pränatalen einflüssen während seiner entwicklung verhält.

7. wenn menschen innerhalb sozialer beziehungen anscheinend zueinander "auf distanz gehen", misstrauen entwickeln oder sonstige störungen auftreten, bedeutet das auch immer eine verobjektivierung der gegenseitigen wahrnehmung, dementsprechung auch eine reduktion von gegenseitiger aufmerksamkeit und empathie sowie eine focussierung auf bestimmte verhaltensweisen und mögliche gefahrensignale. als korrekturinstanz würde dieser modus damit auch die möglichkeit eröffnen, innerhalb von beziehungen auf die berühmte metaebene zu wechseln, um dort mögliche quellen von störungen auszumachen. lösen lässt sich auf dieser ebene allerdings nichts, sondern als nächster schritt muss die rückkehr zur qualitativ anders funktionierenden vollen subjektivität mitsamt der aufgabe von kontrolle (und der wiederkehr von vertrauen) folgen. funktional bedeutet das eine verkleinerung des objektiven modus mit der folge, dass mehr und andere wahrnehmungen zugelassen werden können.

8. innerhalb des objektiven modus lassen sich zwar erklärungsmodelle und simulationen realer vorgänge entwerfen und durchführen, niemals jedoch kann sich tatsächlich echtes verständnis auf dieser ebene entwickeln (und das dürfte selbst für das verstehen von bspw. mathematischen aufgaben gelten). das lässt sich nur mittels der vollen subjektivität mit all ihren wahrnehmungsoptionen erreichen - die berühmte intuition ist u.a. in diesem bereich angesiedelt. ich würde mich hüten, zu den themen dieses blogs zu schreiben, wenn ich nicht ganz persönliche erfahrungen und erlebnisse hinter mir hätte, die mir die hier skizzierten modelle und berichte von anderen in entscheidendem maße verständlich machen würden. ohne diese persönliche basis wäre das hier nichts als eine intellektuelle spielerei.

9. der objektivistische modus kann krankheitswertig entgleiten und funktional hypertrophieren (sich aufblähen). was dann zur folge haben kann, dass a) der eigene körper als "fremd", bzw. als objekt empfunden wird; b) eine extreme wahrnehmungsreduktion v.a. der körperlich basierten wahrnehmungen, die z.b. für die empathiefähigkeiten eine rolle spielen, dauerhaft einsetzt; unter anderem auch wg. dieser reduktion c) die eigenen fiktionen sich als dominant vor bzw. über die realität schieben und im extremfall als äußeres erlebt werden (halluzinationen); und d) das eigene "ich" als pures geistiges und isoliertes gebilde erlebt wird. falls eine oder mehrere der beschriebenen zustände von dauer sind, so ist imo die wahrscheinlichkeit dafür groß, dass beim betroffenen über kurz oder lang eine der hier im blog als beziehungskrankheiten bezeichneten störungen diagnostiziert wird - wenn die betreffende person nicht über große simulative fähigkeiten zur anpassung an den objektiven realitätsbegriff verfügen sollte.

10. es ist meiner meinung nach eine erschreckende wahrscheinlichkeit dafür vorhanden, dass die jahrhundertelange realität traumatischer sozialer gewalt bis heute bei uns allen nicht nur zu der mehr oder weniger starken eben skizzierten entwicklung eines ungleichgewichts zwischen dem objektiven werkzeug und der subjektivität geführt hat - wofür eben auch die auffällige verherrlichung der objektiven position innerhalb der westlichen kultur ein indiz darstellt -, sondern wir auch davon ausgehen müssen, dass es parallel zu einer mehr oder weniger deutlichen schädigung bzw. vielleicht sogar rückentwicklung der qualitativ anderen subjektiven fähigkeiten bei uns gekommen ist. gerade die arten der kinder"erziehung", wie zb. von deMause dargestellt, führen ganz zwangsläufig zu einem mißtrauen gegen die meistens schmerzhaften eigenen authentischen gefühle, gegen die - im kontakt mit machtmenschen meistens schmerzerzeugenden - eigenen authentischen bedürfnisse sowie ganz allgemein gegen die eigenen wahrnehmungsfähigkeiten. letzteres ist im falle von gewalt gegen kinder für diese sogar fast die einzige option, den absolut unerträglichen und nicht zu verarbeitenden schmerzvollenn input zu überleben - eben mittels wahrnehmungsreduktion per dissoziation, derealisierung usw.
(dazu ist ebenso auffällig, dass zb. gefühle in einer vielzahl von fällen tatsächlich sehr verzerrt sein können und sind, viele menschen die existenz von intuition nicht zu kennen scheinen und sogar leugnen etc.etc. woher aber diese verzerrungen stammen können, ist eine frage, über die wir uns schleunigst gedanken machen sollten.)

all das führt in der folge zu einer im wahrsten sinne des wortes ver-rückten weltwahrnehmung. und wenn solche prozesse vorgänge innerhalb einer kultur quasi zum mainstream gehören, bleibt keinerlei ausweichmöglichkeit vor dem schluß übrig, dass wir es in solchen fällen mit einer insgesamt ver-rückten kultur zu tun haben...in der sich dann eben auch verrückte eliten nicht nur als "normal" darstellen können, sondern auch hauptsächlich mit dem eigenen und stellvertretenden ausagieren verrückter bedürfnisse beschäftigt sind.

11. eine ganz persönliche einschätzung: ich halte das gerät, an dem ich und Sie gerade sitzen, für eine fast perfekte materialisation des objektivistischen bewußtseins. ein computer ist a) ein werkzeug; b) ein produzent von virtuellen räumen und simulationen (und zwar ausschließlich); c) arbeitet - ebenso wie das objektivistische bewußtsein unter stress - mit einer enormen geschwindigkeit; d) ist primär eine ordnende maschine; und e) sowohl ohne äusseren input - software, energie - als auch ohne die materielle basis der hardware einfach ein haufen schrott (womit der wesentliche unterschied zum objektivistischen bewusstsein benannt wäre).vor diesem hintergrund wird es besonders interessant sein, sich einmal die schon angedeuteten verbindungen zwischen autismus und computern näher anzuschauen. aber das ist ein zukunftsprojekt.

*

das war jetzt ein recht weiter rundblick, der uns am ende aber wieder zum bedrohlichen thema folter führt. wie inzwischen deutlich geworden sein sollte, bestehen jede menge gründe dafür, auch die folter als maßgeblich vom objektivistischen bewußtsein geprägtes mögliches verhalten von menschen anzusehen. ich habe mich in der letzten zeit intensiver mit diversen berichten und analysen zum thema folter beschäftigt, u.a. in bezug auf verschiedene zeiten und epochen: relativ aktuell mit kolumbien, türkei, argentinien, usa, sowie historisch mit nazideutschland und der offen stalinistischen phase der sowjetunion.und dabei sind für mich mehrere strukturen deutlich geworden (und glauben Sie nicht, dass ich beim lesen so kühl geblieben bin, wie es jetzt hier virtuell rüberkommt):

1. die methoden und einstellungen der folterer ähneln sich ebenso weltweit wie die berichte derjenigen, die noch unter der folter zur wahrnehmung ihrer folterer und zur analyse ihrer gefühle fähig waren.

2. die rechtfertigungen der folter seitens der jeweils herrschenden eliten ähneln sich ebenso - primat haben die jeweils aktuellen ideologischen fiktionen. ein beispiel dafür, in dem auch noch staatliche und religiöse fiktion zusammenfließen, aus der türkei - anlässlich eines staatlichen massakers gegen teilnehmerInnen an einer demonstration zum ersten mai 1989, bei dem viele überlebende verhaftete gefoltert wurden, sagte der damalige zweite vorsitzende der damals regierenden "mutterlandspartei", galip demirel, folgendes:

"Sultan Mehmet der Eroberer hat folgendes Gesetz erlassen: `Im Interesse der öffentlichen Ordnung ist der Brudermord heilig.´ Er hat gut daran getan. Das heißt, im Interesse des Staates ist das Töten des Bruders gerechtfertigt und richtig, wie ein Befehl Allahs. Im Interesse der öffentlichen Ordnung ist alles erlaubt. Wenn der eigene Bruder sich gegen die öffentliche Ordnung auflehnt, darf er getötet werden."

(ömer erzeren,"septemberspuren"; rororo aktuell, reinbek 1990; s.39/40; 980-isbn 3 499 127288)


die "öffentliche ordnung", die hier absolutistisch von einem offiziellen vertreter des staates beschworen und über allem - vor allem menschlichen leben - positioniert wird, ist nichts weiter als eine abstraktion - eine abstraktion im dienste der interessen einer kleinen elitären herrschaftsschicht. ich bleibe an dieser stelle bei meiner einschätzung, dass sich solches vorgehen strukturell kein stück von den methoden unterscheidet, die zb. auch die mafia zur aufrechterhaltung ihrer "ordnung" einsetzt - gewalt, mord und einschüchterung.

3. die psychophysische verfassung der folterer hat verdammt viele strukturelle ähnlichkeiten mit dem wissenschaftlich unbeteiligten und objektiven blick, wie er in unserer kultur als "vorbildlich" dargestellt wird. ein interview mit einem ex-folterer in der türkei, welcher 1986 in einer türkischen zeitung über die foltermethoden berichtete (und damit einigen wirbel verursachte), macht das deutlich:

"Es ist die Rede von `Operationstisch´, `Metzgerhaken´, `Technik´, `Verfahren´. Ist die Tätigkeit eines Folterers mit der Tätigkeit eines Arztes - sagen wir eines Chirurgen am OP-Tisch, der einen Nierenstein entfernt - vergleichbar?"

Sedat Caner: "Ja. Der Chirurg hat ein bestimmtes Ziel vor Augen. Um den Patienten zu heilen, entfernt er durch die Operation irgendeinen Teil im Körper. Der Folterer hat auch ein Ziel vor Augen. Der Verhörte ist ein Vaterlandsverräter, ein Schädling. Du mußt ihn zum Sprechen bringen. Aus seinem Mund muß ein Geständnis kommen. In diesem Augenblick ist der Verhörte kein Mensch. So bist du erzogen worden. Der Folterer ist wie ein Roboter. (...)"

(ömer erzeren, "septemberspuren"; s.93)


das ist deutlich genug - "In diesem Augenblick ist der Verhörte kein Mensch", sondern wird in der wahrnehmung des folterers zum objekt verwandelt. der sich bereits vorher ebenso zum objekt ("roboter") verwandelt hat - empathie und mitgefühl mehr oder weniger völlig ausgelöscht. das ist eine elementare vorbedingung dafür, überhaupt foltern zu können. und dieser prozeß ist funktional absolut identisch mit der objektivistischen position, die ein wissenschaftler (und die ihn unterstützenden politikerInnen) bspw. bei tierversuchen einnimmt, und überhaupt bei jeder wissenschaftlich-objektiven beobachtung.

es gibt unter folterern durchaus auch wahrscheinlich gehäuft leute, die selbst nach den mangelhaften modellen der heutigen psychiatrie bspw. als sadistische psychopathen verstanden werden können, die tatsächlich einen lustgewinn aus der folter anderer ziehen. ich habe quer durch die länder und epochen immer wieder berichte von solchen leuten gefunden. die mehrheit der folterer jedoch dürfte eher dem typ eines eichmanns entsprechen - pflichtbewußt, autoritätshörig und hierarchiesüchtig. und extrem objektiv. aber aus dieser relativen "normalität" ist imo keinesfalls zu schließen, dass wir es hier nicht mit einer schweren pathologie zu tun haben. im gegenteil.
wahrscheinlich haben die meisten leserInnen hier schon vom milgram-experiment gehört. weniger bekannt ist ein kleines detail aus diesem experiment:

"Psychosomatische Symptome sind oft die Folge verweigerten empathischen Mitfühlens. (...) Die meisten Versuchspersonen (im Milgram-Experiment) führten die Anweisungen des Versuchsleiters zwar gehorsam aus, hatten dabei aber psychosomatische Symptome wie Zittern, Schwitzen oder auch Krämpfe."

(arno gruen, "der wahnsinn der normalität"; s.62 - siehe literaturliste)


auch der oben zitierte folterer konnte aufgrund verschiedener psychophysischer (ein präziserer begriff) symptome nicht mehr "weiterarbeiten". interessant in diesem zusammenhang ist auch die information, dass von den medizinischen berufen sowohl zahnärzte als auch chirurgen meines wissens nach sowohl eine erhöhte suizidrate aufweisen als auch öfter mit suchtproblemen zu kämpfen haben. der dauernde zwiespalt zwischen schmerzzufügung im zahnarztstuhl, empathie beim aufschneiden von bäuchen sowie der notwendigkeit, eben diese empathie zugunsten eines objektivistischen blickes zeitweise zu reduzieren, macht sich anscheinend auf diese art bemerkbar. so wie die wissenschaftliche position, die die teilnehmerInnen am milgram-experiment in unterordnung unter die "wissenschaftliche autorität" als "notwendig" akzeptierten, mit ihren eigenen empathischen fähigkeiten kollidierte. in solchen situationen jedenfalls scheinen menschen aus kulturen mit einer "wissenschaftlichen" bzw. objektivistischen sozialisation (wobei wahrscheinlich grundsätzlich vorhandene gewaltstrukturen innerhalb einer gesellschaft diese position erst so richtig fördern) dazu zu neigen, dieser position auch die ausdehnung in den bereich sozialer beziehungen zu erlauben - und in diesem bereich hat diese objektivität aber so ziemlich nichts verloren, bzw. sollte dort nur sekundär als möglichkeit zur beziehungskorrektur eingesetzt werden.

der eingangs erwähnte sponautor hat sich bei seiner argumentation jedenfalls die gleiche objektivistische position zu eigen gemacht (die auch die grundlage für die konkrete folter darstellt). und die normalität und gewohnheit eines solchen vorgehens ist es, die absolut besorgniserregend ist.

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