kontext 17: fortsetzung der unvollständigen chronologie "infantizid" - und ein interview

ich kann es Ihnen nicht ersparen, wieder einmal meldungen wie die folgende zur kenntnis nehmen zu müssen:

"Schwere Misshandlungen durch die eigene Mutter: In Köln hat eine Frau ihr fünf Monate altes Baby lebensgefährlich verletzt, indem es den Jungen gegen eine Zimmerwand warf. Im baden-württembergischen Eppingen entpuppte sich ein angeblicher Unfall als Kindstötung."

in früheren beiträgen findet sich mehr zum thema (eine auswahl, regelmäßige leserInnen hier werden sich an vieles weitere erinnern) : eins, zwei, drei, vier

dazu möchte ich auf ein interview aufmerksam machen, in dem der präsident des deutschen kinderschutzbundes, heinz hilgers, eine art zwischenfazit zur infantizidalen situation in diesem land zieht. auszüge:

"Zum Rückblick auf das Jahr 2005 gehört leider hierzulande auch, gehören auch die dramatischen Fälle von Kindesmisshandlungen, die die Öffentlichkeit erschütterten in diesem Jahr. Es waren besonders grausame Geschehnisse: Vernachlässigung oder Misshandlungen, die tödlich endeten. Im Fall der Jessica aus Hamburg wurden die Eltern wegen Mordes verurteilt. Nur die Spitze eines Eisberges, sagen Kinderschutzorganisationen. Und in dieses Bild scheint ein Bericht der Zeitung "Die Welt" zu passen, die heute aus bisher unveröffentlichten Statistiken des Bundeskriminalamtes zitiert. Danach sind die Fälle von Kindesmisshandlungen seit 1996 um 50 Prozent gestiegen. (...) Zuerst mal die Frage, Herr Hilgers: Wie können wir denn erkennen, ob die Zahl der Fälle tatsächlich angestiegen ist oder ob einfach mehr Fälle gemeldet werden?

Heinz Hilgers: Ja, jedenfalls nicht an der Kriminalstatistik. Die Kriminalstatistik weist die gemeldeten Fälle aus. (...) Wir wissen auf der anderen Seite, dass etwa im selben Zeitraum die Zahl der Kinder, die - aus anderen Untersuchungen -, die Zahl der Kinder, die regelmäßig mit Gegenständen geschlagen werden, von einer Million auf etwa 700.000 zurückgegangen ist. Und das sind natürlich viel höhere Zahlen als die Zahlen, die den Strafverfolgungsbehörden bekannt sind.
(...)
Insgesamt betrachtet: Gewalt gegen Kinder und Gewalt gegen Jugendliche, wie schätzen Sie die Situation derzeit ein in Deutschland, wenn Sie sie bewerten würden?

Hilgers: Ja, also ich würde sagen, die Dunkelziffer ist etwas kleiner geworden. Aber nur ganz wenig. Die Situation ist nach wie vor schlimm. Und man darf nicht vergessen: Jeder Einzelfall ist furchtbar. Und es ist dringend erforderlich, dass wir uns offensiver mit Hilfeinstrumenten an die Eltern wenden."(...)


die bereitschaft, genauer hinzuschauen, hat also zugenommen - ähnlich wie durch die thematisierung von vergewaltigung bzw. sexualisierter gewalt gegen frauen ebenfalls die angezeigten, mithin statistisch erfassten "fälle" derartiger gewalt prozentual gestiegen sind. man könnte sagen, dass der dreck sichtbarer geworden ist - besser: sein ganzes ausmaß. und dennoch lässt sich die trostlose realität in ihrem ganzen ausmaß immer noch nur erahnen - geschätzte 700.000 kinder, die mit gegenständen geschlagen werden - die phantasie kennt dabei keinerlei grenzen. recherchieren Sie selbst.
in dieser zahl sind dabei noch nicht mal die enthalten, die "nur" mittels armen und beinen ihrer "erziehungsberechtigten" geprügelt werden.

weiter geht es mit dem thema der prävention und möglichen interventionen:

(...)"Doch was ist mit Familien, wo alles sehr harmonisch aussieht, die scheinbar auch keine sozialen Probleme haben und wo dennoch später ja Gewalt auftreten kann? Also wie will die Gesellschaft dem einen Riegel vorschieben?

Hilgers: Man kann nicht allem einen Riegel vorschieben. Das ist sehr deutlich und das ist auch nicht möglich - auch nicht mit Pflichtuntersuchungen für die Früherkennungsuntersuchungen. Nein, das geht nicht. Es wird immer möglich sein, dass es schreckliche Fälle gibt. Das ist schlimm für jeden Einzelfall, aber ganz auszuschließen ist das nicht. Wir müssen als Gesellschaft insgesamt natürlich eine bessere Einstellung zu den Menschen, zu den Eltern gewinnen, die Verantwortung für Kinder tragen," (...)


ein problem bei den derzeit diskutierten maßnahmen staatlicher und institutioneller eingriffe (denen ich als provisorische sofortmaßnahme im interesse der opfer nicht grundsätzlich abgeneigt bin) besteht imo in der tendenz, das generelle gewaltproblem besonders an familien festzumachen, die nach allen kriterien unter ökonomischer verarmung, schlechter bildung etc. leiden. sicher - wie früher schon einmal ausgeführt, tragen schlechte bis existenziell bedrohliche ökonomische bedingungen einiges zur wahrscheinlichkeit von gewalttätigen strukturen innerhalb von familien bei. primär auslösend jedoch sind sie nicht. die hier thematisierte gewalt kommt in allen gesellschaftlichen klassen vor, auch in den sog. ober- und mittelschichten. es erscheint nicht nachvollziehbar, warum diese von interventionsprogrammen ausgeschlossen bleiben sollten. so wird das problem ungerechtfertigt verkürzt und an einer bestimmten gesellschaftlichen gruppe festgemacht - einer gruppe zudem, die bereits zunehmend im focus staatlicher und institutioneller maßnahmen steht - die grenze zwischen tatsächlicher hilfe und systematischer entmündigung, kontrolle und repression in zeiten zunehmender ökonomischer verelendung mitsamt den begleitenden sozialen selektionsprozessen ist eine sehr fließende. bei betrachtung der ständig perfektionierten ausweitung der innerstaatlichen repressionsapparate in der gesamten sog. westlichen welt jedenfalls kann ich mich des eindrucks nicht erwehren, dass weitreichende staatliche eingriffe gerade in den bereits sozial stigmatisierten gruppen sehr schnell für zwecke instrumentalisiert werden können, die mit der vielleicht z.t. aufrichtig gemeinten hilfe nichts mehr zu tun hätten. nennen Sie das meinetwegen übersteigertes misstrauen meinerseits - aber den vertreterInnen unserer sog eliten bedingungslos ihre hehren absichten zu glauben (nicht nur bei diesem thema), bedeutet in aller regel die akzeptanz einer im großen und ganzen völlig fiktiven realitätsvorstellung, was nur unter weitgehendem verzicht auf´s eigene fühlen und denken zu erreichen ist.

wo waren und sind denn diejenigen vertreterInnen der politischen klasse, die bspw. das faktum der jährlich mit gegenständen geprügelten 700.000 kinder als den gesellschaftlichen offenbarungseid benennen, der es ist? eben - es gibt sie nicht. sie müssten wohl zum einen mindestens teilweise ihre eigene wahlklientel kritisieren (erinnern Sie sich noch an diese zahlen (recht weit unten, aufgeschlüsselt nach parteivorlieben) ...?), zum anderen aber gehört diese art "erziehung" letztlich zum repertoire der macht - wer das überlebt, wird entweder ein objekt der psychiatrie, ein objekt der polizei- und justizapparate - oder aber, bei weitgehender unauffälligkeit, ein der macht kompatibler "staatsbürger" werden, der mitsamt seinem späteren tun die existenz hierarchischer apparate, die existenz von ungerechtigkeit und das prinzip der gewalt zur "regulierung" sozialer konflikte als quasi "natürliche" ordnung der dinge nicht nur akzeptiert, sondern auch unterstützt. die macht würde sich quasi ins eigene fleisch schneiden, wenn es mehr und mehr menschen geben würde, die es nicht mehr nötig hätten, in quasi psychotischen realitäten zu existieren, sondern selbstbewußt und vertrauensvoll genug sind, ihren eigenen emotionalen und intellektuellen wahrnehmungen zu vertrauen - und die empathie- und liebesfähig wären. aus wär´s aller wahrscheinlichkeit recht schnell mit der perversen zumutung, die die menschliche welt heute in großen teilen darstellt. ernsthaft: kann es im interesse der "eliten" liegen, sich selbst den vielleicht wichtigsten ast abzusägen, auf dem sie es sich gemütlich gemacht haben? wahrscheinlich mehr oder weniger instinktiv dürfte darum der schon früher zitierte generalstaatsanwalt von berlin ganz im sinne der obigen zusammenhänge seine aussagen getätigt haben.

weiter im interview:

"Wie weit haben sich denn die Erziehungsvorstellungen geändert nach Ihrer Erfahrung und Einsicht? Also in einer Umfrage haben wohl 70 Prozent der Kinder angegeben, Ohrfeigen zu bekommen. Das galt früher als ein ganz normales, notwendiges Erziehungsmittel. Hat sich daran was geändert in größerem Maßstab?

Hilgers: Ja, positiv. Die Gewalt in den Familien ist im historischen Zusammenhang deutlich zurückgegangen, sowohl über die Generationen hinweg als auch in den letzten 15, 20 Jahren. Das ist erfreulich.(...)"


das ist tatsächlich erfreulich, und vielleicht eine der wichtigsten gesellschaftlichen entwicklungen überhaupt (wichtiger jedenfalls als die täglichen fiktionalen realitäten in form der zahlen des dax, des bsp usw. das problem besteht z.t. auch darin, dass allzuviele leute letzteres als einzig "ernsthafte" realität wahrnehmen). wenn Sie wissen wollen, warum - lesen Sie lloyd deMause.

im letzten satz allerdings nochmals ein etwas kryptischer hinweis auf die besonders schweren fälle:

"Sie werden aber die Familien in besonderen Problemlagen, im Armutsbereich, nicht erreichen. Da sind offensivere Methoden notwendig."

es wird genau zu beobachten sein, was das für methoden sein werden.

*

eine information als nachtrag noch:

"Nach Schätzungen der UN-Kinderhilfswerks Unicef sterben in Deutschland pro Woche zwei Kinder durch Misshandlung oder Vernachlässigung. Rund 200000 lebten in verwahrlostem Zustand oder müssten Misshandlungen erleiden."

eine schätzung - aber rechnen Sie´s einfach mal hoch aufs jahr, auf ein jahrzehnt - und je weiter Sie in den jahrzehnten zurückgehen, um so höher müssen Sie die wöchentliche zahl ansetzen...und dabei auch im hinterkopf behalten, dass es hier "nur" um die sozusagen sichtbare gewalt geht - die primär psychischen formen wie z.b. verweigerte kommunikation, emotionaler mißbrauch etc. sind im obigen noch gar nicht berücksichtigt. ebenso die primär sexualisierten gewaltformen.

edit: die morgige taz enthält ein interview mit einer mitarbeiterin einer ärztlichen kinderschutzambulanz, welches einige der bereits genannten aspekte bestätigt. auszug:

"Wie hat sich die Gewalt gegen Kinder in den letzten Jahren verändert?

Wir können keine Zunahme von Misshandlungen beobachten, bemerken allerdings immer mehr Vernachlässigungen. Die Bereitschaft, sich mit Kindern zu beschäftigen, ihnen Zeit und Ressourcen entgegenzubringen, nimmt ab. Kinder, die vernachlässigt werden, haben ein besonders hohes Risiko, auch andere Gewaltformen zu erfahren. Deshalb ist diese Entwicklung nicht zu unterschätzen."


ich werde das schlechte gefühl nicht los, dass sich als synonym für "vernachlässigung" auch gleichgültigkeit einsetzen lässt. und die wiederum lässt sich im schlimmsten fall als symptom für das finale absterben menschlicher beziehungen ansehen.

ebenfalls erklärt die frankfurter rundschau das elend der kinder zum thema des tages (ob´s im silvestertrubel viele interessieren wird?), und schreibt in einem kommentar:

"In erster Linie bleibt die Wohlfahrt der Kinder Aufgabe der Gesellschaft selbst. Sie hat sich zur Scham zu erziehen, dass in ihrer Mitte hunderttausendfach Hilflose gequält, missbraucht und vernachlässigt werden."

scham ist sicher ein notwendiger schritt auf dem weg der heilung, dabei sollte es dann allerdings nicht bleiben. das problem scheint mir aber eher darin zu liegen, dass es für viele zeitgenossInnen uncool ist, sich (für etwas) zu schämen - das kann einem doch glatt die laune versauen.

mal schauen, wann das medial gerade entdeckte elend wieder von den titelseiten verschwunden ist.
monoma - 30. Dez, 20:54

was mir gerade erst aufgefallen ist...

"In Köln hat eine Frau ihr fünf Monate altes Baby lebensgefährlich verletzt, indem ES den Jungen gegen eine Zimmerwand warf."

so wortwörtlich im spon-artikel. vom "sie" zum "es" ist es schon ein sprung, der nicht so recht als einfacher vertipper erklärlich erscheint. objektwahrnehmung macht offensichtlich manchmal bocksprünge. gerade dann, wenn einem eine derartige frau nicht unbedingt sympathisch ist (und auch nicht sein muss - trotzdem bleibt es eine sie).

wednesday (Gast) - 31. Dez, 15:10

Vielleicht war nicht die Frau gemeint, sondern ihr Unterbewusstsein, unterbewusst. ;-)

Hier in der Umgebung sagt man zu Frauen im Dialekt "es", zB "Hat es dich gestern angerufen?". Den Grund dafür kenn ich nicht, möchte diese Seltsamkeit aber erstmal nicht überbewerten. Vielleicht erfahre ich demnächst mehr darüber, dann berichte ich am gewohnten Platz...
mo (Gast) - 31. Dez, 15:22

Vielleicht war nicht die Frau gemeint, sondern ihr Unterbewusstsein, unterbewusst. ;-)

was dann meine meinung über die selbstreflektionsfähigkeiten von spon-redakteuren bestärken würde...("ihr merkt doch garnix mehr")

ansonsten gab - oder gibt - es ja auch den ausdruck "junges ding für mädchen bzw. junge frauen, der imo nicht dialektspezifisch ist - wäre schon interessant zu wissen, worauf eine solche sprache beruht.

was du geschrieben hast, ist mir neu - und ich verkneife mir jetzt ein paar sinnbefreite boshaftigkeiten zur bergigen umgebung... ;-)

liebe grüße
mo

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