kontext 19: isaac newton

einmal weit zurück - ein paar jahrhunderte gleich - in der geschichte der westlichen kultur zu gehen und sich näher mit einem mann zu beschäftigen, dessen name wie kaum ein zweiter mit dem begriff der "wissenschaftlichen aufklärung" assoziiert wird, scheint auf den ersten blick langweilig zu sein.

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aber vielleicht haben Sie trotzdem zeit übrig. ich hatte es ja hier schon mal angekündigt, dass mich insbesondere die spekulationen zu einem möglichen aspergersyndrom bei newton interessieren:

"Newton habe kaum gesprochen, Vorträge in leeren Sälen gehalten, wenn keine Studenten auftauchten, und seine wenigen Freunde äußerst ruppig behandelt. Beide hätten sich oft völlig in ihre Forschungsarbeit vertieft und dann nichts anderes mehr gekannt - ein typischer autistischer Zug, wie Baron-Cohen meint."

und dieses interesse hat einen besonderen hintergrund, auf den ich gleich zu sprechen komme.

vorher aber noch ein paar hinweise auf allgemeine informationen zu newton: ich nehme einfach mal an, dass die meisten leserInnen spätestens im physikunterricht der schulzeit mit diesem namen bekannt gemacht worden sind - newton, dem unter dem baum ein apfel auf den kopf fiel (ein mythos im übrigen) - und der daraufhin die schwerkraft ent-deckte. nun sind seine wissenschaftlichen arbeiten und seine wirkungen auf die gesamte westliche kultur - bis heute - allerdings wesentlich breit gestreuter, als es die geschichte mit dem apfel impliziert. einen überblick über diese arbeiten kann ich mir hier sparen, weil es im netz bereits genügend seiten gibt, die das besser zusammenfassen: hier und hier bspw.

sein vielleicht zentralstes arbeitsergebnis wird so beschrieben:

"Doch er war der erste, der eine umfassende physikalische Theorie ausarbeitete. Ein System aus grundlegenden Annahmen, aus denen er mit den Mitteln der Mathematik Naturgesetze formulierte, die immer und überall gültig sein sollten."

ein grundlegendes und umfassendes system also, welches bis heute einflüsse auf uns alle hat, die erstens kaum jemals benannt werden, weil sie zweitens nicht einfach zu verstehen sind - das newtonsche weltbild (oft auch ergänzt durch kartesianisch, nach dem philosophen rené descartes, von dem der ausspruch "ich denke, also bin ich" stammt, der bis heute zu den essentials der rationalistischen weltanschaung gehört - letztlich findet sich hier auch die wahrscheinliche grundlage für jene ideologie, die in einer der letzten beiträge als objektivismus vorgestellt wurde) - das newtonsche weltbild also ist etwas, was die weltwahrnehmung innerhalb der westlichen kultur seit ein paar jahrhunderten bis heute ganz grundlegend strukturiert, und damit nicht nur irgendwelche abstrakten wissenschaftlichen bereiche prägt, sondern auch unseren alltag und unsere sozialen beziehungen. wie das?

um diese unvermeidliche - und verständliche frage einigermaßen zu beantworten, möchte ich auf ein z.b. hier noch erhältliches buch des us-amerikanischen historikers morris berman hinweisen, "wiederverzauberung der welt", dessen untertitel ganz und gar nicht zufällig "am ende des newtonschen zeitalters" lautet. das buch erschien in d-land mitte der 1980er jahre und wurde - imo unberechtigt - ob seiner fundamentalen kulturkritik in die damals boomende "new age" - schiene gepackt. (berman schreibt im übrigen heute bevorzugt zum - aus seiner sicht zerfallenden - us-amerikanischen imperium. hier ein interview mit ihm.)

die "wiederverzauberung der welt" jedenfalls ist eine wahre fundgrube für alle, die an der entwicklung der westlichen kultur in den letzten jahrhunderten interessiert sind - berman "betreibt ungewöhnliche Geschichtsforschung. Er beschreibt, wie die Wissenschaft seit dem 16. Jahrhundert zwischen Mensch und Natur eine völlige Trennung praktiziert hat. Die Folgen waren katastrophal: die Entfremdung des Menschen von seiner Welt, eine technokratische Gesellschaft, die das Leben der Menschheit und des Planeten immer stärker bedroht." (aus dem klappentext).

im weitesten sinne geht es inhaltlich um das spannungsverhältnis zwischen magischen weltbildern bzw. wahrnehmungen (berman nennt das "partizipierendes bewußtsein"), der von newton entscheidend mitbegründeten wissenschaftlichen aufklärung (das objektiv-rationalistische denken) und dem, was als wahnsinn bezeichnet wird. wobei gerade beim letzteren eine kritik anzubringen ist: berman bezieht sich bei seiner definition primär auf das, was die westliche psychiatrie schizophrenie nennt, führt dabei etliche argumente für eine grundsätzlich als struktur vorhandene, real aber fehlschlagene befreiende funktion dieser art von psychotischer wahrnehmung an - und das ist leider imo ein zu verengter blick, wie wir heute annehmen können. wie hier schon öfter skizziert wurde, haben wir es aller wahrscheinlichkeit nach mit zwei elementaren und qualitativ unterschiedlich organisierten phänomenen zu tun, wenn von psychose die rede ist (von denen nur die eine, nämlich "schizophrene", form tatsächlich ein element von befreiung, oder vielleicht besser protest, enthält - die andere form jedoch ist eine völlige unterwerfung mit implizitem selbstverrat, wobei der meist erzwungen ist.) und berman gelangt sogar, wie noch zu sehen sein wird, unausgesprochen zum gleichen schluß. aber in den 1980er jahren fehlten mit sicherheit etliche informationen bzw. einfach ein entsprechender blick, um diesen unterschied in all seinen vermutlichen konsequenzen zu berücksichtigen. ebenfalls berücksichtigt er den bereich der massenhaft traumaerzeugenden kindererziehung in den untersuchten mittelalterlichen bis früh neuzeitlichen zeiträumen zu wenig - ich vermute, vor dem heutigen wissenstand wäre seine bewertung der magischen praktiken etwas anders ausgefallen und beziehe mich dabei u.a. auf deMause, dessen herleitung vieler sog. religiöser (im weitesten sinne) praktiken und der dahinter stehenden wahrnehmung als produktion von dissoziierenden menschen mir sehr plausibel erscheint. aber trotz allem finde ich das buch nach wie vor anregend, und die jetzt anstehenden gedanken zu newton darin sind sehr aufschlußreich.

*

eigentlich wäre es hier notwenig, die implikationen des newtonschen weltbildes ausführlich darzulegen, gerade deshalb, weil den meisten von uns die bedeutung von weltbildern und die quasimaterielle eindringlichkeit, die sie bis in unsere anscheinend persönlichsten gedanken und gefühle hinein annehmen können, nicht unmittelbar einsehbar ist - in einem gewissen sinne stellen sie das wasser dar, in dem wir fische uns bewegen - und wie eine schöne metapher lautet, war es unter garantie kein fisch, der das wasser zuerst entdeckte. mit anderen worten: es ist ein enorm schwieriges unterfangen, die sozial produzierte bühne wahrzunehmen, auf der das eigene lebenstheater spielt.
und für ein physikalisch-abstraktes weltbild als teil dieser bühne gilt das erst recht.

in einem vergleich zwischen den weltbildern des mittelalters und des 17. jahrhunderts (welches bereits von gallilei und am ende auch von newton beeinflusst gewesen ist) kommt berman u.a. zu folgenden unterschieden:

"Wenden wir uns dem Weltbild des 17. Jahrhunderts zu, dann werden wir wahrscheinlich zuallererst ds Fehlen jeder immanenten Bedeutung bemerken. E.A. Burtt hat beschrieben, wie das 17. Jahrhundert, das mit der Suche nach Gott begann, damit endete, das er vollständig aus ihm verdrängt wurde. Die Dinge besitzen keinen Zweck, was eine anthropozentrische Auffassung ist, sondern lediglich Verhaltensweisen, die auf atomistische, mechanische und quantitative Weise beschrieben werden können (und müssen). Das Ergebnis davon ist, daß sich unsere Beziehung zur Natur vollständig geändert hat. Im Unterschied zum mittelalterlichen Menschen, dessen Beziehung zur Natur auf Gegenseitigkeit beruhte, sieht sich der moderne Mensch (der existenzialistische Mensch) im Besitz der Fähigkeit, die Natur zu kontrollieren und zu beherrschen, sie für seine eigenen Zwecke zu benutzen. Dem mittelalterlichen Mensch war eine sinnvolle Stellung im Universum gegeben, es bedurfte keines Willensaktes von seiner Seite. Dem modernen Menschen ist es andererseit auferlegt, seine Ziele selbst zu finden. Aber was diese Ziele sind oder sein sollten, kann zum erstenmal in der Geschichte nicht mehr logisch abgeleitet werden. Kurzum: die moderne Wissenschaft basiert auf der scharfen Trennung zwischen Ding und Wert, sie kann uns lediglich sagen, wie etwas zu tun ist, nicht, was zu tun ist und ob wir es tun sollten."

(berman, "wiederverzauberung der welt"; s. 50/51)


anmerkungen von mir: die oben durchschimmernde positive darstellung der mittelalterlichen welt mit ihren strikten hierarchien (gott - kirche - adel - volk) ist mir etws zu optimistisch gefärbt - sicher, "existenzialistische" ungewißheiten und sinnfragen der heutigen zeit sind in einer solchen ordnung nicht unbedingt zu erwarten, die kehrseite jedoch ist eine relative starrheit und die zementierung der damals aktuellen herrschaftsformen. großflächige verwüstungen okönomischer bzw. ökologischer art jedoch sind durch die implizite begrenzung einer solchen ordnung weitgehend ausgeschlossen. ebenso wie technologisch sinnvolle verbesserungen. der mittelalterliche mensch in seinem seiner zeit entsprechend geprägten dissoziierten dasein scheint sich eine primär sicherheit gebende ordnung gegeben zu haben.

beim "neuen" weltbild jedoch ist in den kernaussagen etliches enthalten, was uns aus ganz anderen ecken heraus bekannt vorkommt:
"Verhaltensweisen, die auf atomistische, mechanische und quantitative Weise beschrieben werden können"; "Fähigkeit, die Natur zu kontrollieren und zu beherrschen"; "scharfe Trennung zwischen Ding und Wert" - stichworte: objektivismus, und auch autismus - gerade die trennung zwischen ding und wert weist deutlich auf eine spezifische wahrnehmung hin, in der der objektivistische modus zwar noch bzw. nur dinge wahrnehmen kann, aber eben keinerlei innere qualitäten mehr, für die bestimmte psychophysische wahrnehmungsfunktionen intakt sein müssen (im mittelalter scheinen diese qualitäten allerdings größtenteils halluziniert gewesen zu sein...eine assoziation von mir, die erstmal befremdlich klingt: haben wir hier etwa eine historischen wendepunkt vor uns, bei dem neben den "üblichen" dissoziierten menschen zum erstenmal wahrnehmbar auch eine autistische minderheit auf der bühne erscheint? erinnern Sie sich bitte an die beiträge zum thema infantizid und zu traumafolgen - ist das, was wir geschichte nennen, in ihrem tiefsten inneren am ende eine geschiche der psychopathologien? bei der die jeweils - hm, kränkesten vertreterInnen der jeweiligen pathologie deshalb zu ruhm und ehren kommen, weil sie die passenden tendenzen der jeweiligen zeit in ihren verschiedenen bereichen einfach am prägnantesten darstellen und bündeln können?

"Schließlich ist für das 17. Jahrhundert nur das `wirklich´ wirklich, was abstrakt ist. Atome sind real, aber unsichtbar; die Schwerkraft ist real, kann aber ebenso wie Impuls und träge Masse lediglich gemessen werden. Allgemein gesprochen dient die abstrakte Quantifizierung als Erklärung. Es war dieser Verlust des Greifbaren und Sinnhaften, der die sensibleren Geister der Epoche - Blaise Pascal und John Donne zum Beispiel - an den Rand der Verzweiflung trieben. Die `neue Philosophie stellt alles in Zweifel´, schrieb letzterer im Jahre 1611, `alles ist in Stücken, jeglicher Zusammenhang verschwunden´. Oder in Pascals Worten: `die Stille des unendlichen Raumes flößt mir Entsetzen ein.´"

(berman, "wiederverzauberung..."; s. 51)


wahrnehmungsweisen...abstraktes statt sinnliches - und eine qualitativ neue art der fragmentierung. natürlich auch eine notwendige basis für die ökonomischen verhältnisse, die wir heute kapitalismus nennen. aber lag darin wirklich der zweck dieser neuen wahrnehmungsweisen, wie es marxistische theorie nahelegt? (ich weiß schon, dass das wort "zweck" hier einigen unpassend erscheinen wird, aber ich hoffe, dass trotzdem klar ist, was ich meine.) oder hat sich auf der psychophysischen basis nicht doch vielleicht einfach die dieser basis angemessene ökonomische form entwickelt, vergleichbar den jeweiligen entwicklungen in anderen lebensbereichen? henne oder ei...

"Die Natur (einschließlich menschlicher Wesen) wird somit zum Material, das man sich aneignen und formen kann. Nichts kann in sich zweckhaft sein, und Werte - wie Machiavelli als einer der ersten ausführte - sind ja lediglich Gefühlsregungen (sic! mo). Die Vernunft ist nun völlig (zumindest theoretisch) instrumental, zweckrational. Man kann nicht länger fragen: `Ist das gut?´, sonder lediglich: `Funktioniert es?´ Eine Frage, die die Einstellung der Handelsrevolution und die wachsende Betonung der Produktion, Vorhersagbarkeit und Kontrolle wiedergibt."

(berman, "wiederverzauberung...."; s. 53)


letzteres begründet bis heute die dominanz der westlichen kultur auf diesem planeten. wie aber sah nun die biographie eines mannes aus, der diese dominanz theoretisch zu einem großen teil mitvorzubereiten half?

*

"Isaac Newton steht als Symbol für die westliche Wissenschaft und seine *Principia* kann wohl zu Recht als Dreh- und Angelpunkt des wissenschaftlichen Denkens der Neuzeit bezeichnet werden. (Er)...definierte die Wissenschaftsmethode an sich, die Begriffe von Hypothese und Experiment sowie die Vorgehensweisen, an Hand deren die rationale Beherrschung der Welt zu einem lebensfähigen intellektuellen Programm erhoben werden konnten. (,,,) Und obwohl die Physik des 20. Jahrhunderts Details der Newtonschen Synthese beträchtlich modifizierte, bleibt das gesamte wissenschaftliche Denken, wenn nicht sogar der Charakter des zeitgenössischen empirisch-rationalen Denkens im allgemeinen, seinem Wesen nach durch und durch newtonisch.

Mit einigem Erstaunen reagierte deshalb der britische Ökonom John Maynard Keynes, als er beim Durcharbeiten der unzähligen Manuskripte Newtons, die von seinen Nachfahren 1936 (...) zur Versteigerung freigegeben worden waren, entdeckte, daß Newton sich intensivst mit okkulten Wissenschaften und hier speziell mit der Alchemie befaßt hatte, ja beinahe besessen davon gewesen ist. (...)

Keynes erkannte, daß das 18. Jahrhundert Newton eigentlich für die Öffentlichkeit `zurechtgemacht´ hatte. (...) Aber die in jüngster Zeit von Frank Manuel erstellte Biographie Newtons hat, ebenso wie die von David Kubrin erstellte brilliante Studie über Newton und seinen kulturellen Hintergrund, gezeigt, daß Newton selbst in großem Umfang `gesäubert´hat.
(...)...sowohl aus psychologischen als auch aus politischen Gründen sah es Newton als notwendig an, diesen Teil seiner Persönlichkeit (den "mystischen") und seiner Philosophie zu unterdrücken und die nüchterne Fassade eines Positivisten zur Schau zu tragen. Die Evolution von Newtons eigenenem Bewußtsein spiegelt nicht nur auf signifikante Art und Weise das Schicksal der alchemistischen Tradition zur Zeit der Restauration Englands wider, sondern auch die Evolution des westlichen Bewußtseins im allgemeinen. Und so behauptet Manuel,daß Newtons Persönlichkeit ebenso wie seine Sichtweise nichts weiter als ein extremer Ausdruck seiner Zeit waren."

(berman, "wiederverzauberung..."; s. 124/125)


eine zeit, in der die methoden der kindererziehung sowie der umgang mit kindern allgemein, wie es bei deMause zu lesen ist, mehr oder weniger katastrophal waren - von heute aus betrachtet. das ist bei folgendem zu beachten:

"Newtons Kindheit war geprägt von einem sehr hohen Maß an Verlustangst. (...) Newtons Vater starb drei Monate vor Geburt seines Sohnes, und seine Mutter heiratete wieder, als er ungefähr drei Jahre alt war. Sie verließ daraufhin ihren Sohn, um ungefähr eineinhalb Meilen von ihm entfernt mit ihrem neuen Ehemann (namens smith, anmerk. mo) zusammenzuleben; Isaac blieb in dieser Zeit bei seiner Großmutter in seinem Geburtsort (...) Seine Mutter kehrte erst nach dem Tod ihres zweiten Mannes (...) zurück, als Newton bereits elf Jahre alt war. Somit war Newton während entscheidender Phasen seiner Entwicklung verlassen und im Stich gelassen worden, und dies, nachdem seine Mutter sowieso schon als alleiniger Elternteil seine einzige Bezugsperson gewesen war. Als Ergebnis, schreibt Manuel,

war seine Fixierung auf sie absolut und vollkommen. Das Trauma, ursprünglich von ihr verlassen worden zu sein, erzeugten großen Schmerz, Aggressivität und Angst in ihm. (...)


der biograph manuel wertet das als ein "traumatisches Ereignis in Newtons Leben, von dem er sich nie erholte." wobei: vielleicht haben wir hier auch eine jener typischen fehlurteile, die sich, von unseren heutigen normen geprägt, mutter-kind-verhältnisse immer nur als grundsätzlich liebevoll vorstellen können - die realität des infantizids sagt etwas anderes, ebenso wie newtons reaktionen nicht unbedingt etwas liebevolles deutlich machen:

"Newton schrieb als Jugendlicher in einem seiner Notizbücher unter das Wort `Sünde´: `gegen meinen Vater und meine Mutter Smith die Drohung ausstoßen, sie möchten samt ihrem Haus verbrennen´, und `ganz bestimmten Personen den Tod wünschen´.

dazu kam ein sonderbares bewußtsein der eigenen "auserwähltheit":

"Er war am Weihnachtstag des Jahres 1642 früh zur Welt gekommen, und man nahm nicht an, daß er überleben würde. Tatsächlich war in der Gemeinde, in der er zur Welt kam, die Kindersterblichkeitsrate auffallend hoch, und Newton war später davon überzeugt, daß die Tatsache, daß er am Leben geblieben war (ebenso wie der Umstand, daß er als junger Mann nicht der Pest zum Opfer gefallen war), ein Zeichen göttlicher Einmischung war. Wie Manuel weiterhin aufzeigt, kursierte in derselben Gemeinde außerdem die weitverbreitete Ansicht, daß ein Junge, der nach dem Tode seines Vaters geborn wird, mit außergewöhnlichen Kräften ausgestattet sei. (...) Er war überzeugt, `daß Gott sich in jeder Generation nur einem einzigen Propheten enthüllt, was parallele Entdeckungen unmöglich macht.´ In den unteren Rand seines Alchemie-Notizbuches ritzte Newton als Anagramm seines lateinischen Namens Isaacus Neuutonus: Jeova sanctus unus - Jehova, der Heilige.

Zusätzlich zu diesen geschilderten Eigenschaften wies Newton typisch puritanische Züge auf: Strenge, Disziplin und vor allem Schuld und Scham. `Er hatte einen eingebauten Zensor in sich´, meint Manuel, `und lebte beständig unter dem strengen Blick eines Aufsehers...´ Zu solchen Schlüssen gelangt Manuel nach der Durchsicht von Übungsheften des jugendlichen Newton, die unter anderem Sätze enthalten, die Newton in freier Assoziation gewählt hatte, um sie ins Lateinische zu übersetzen. Diese Sätze enthalten im Überfluß Themen wie Angst, Selbstherabsetzung und Einsamkeit:

Ein junger Bursche,
er ist blaß.
Für mich gibt es keinen Platz, wo ich
sitzen kann.
Zu welcher Beschäftigung taugt er?
Er ist gebrochen.
Das Schiff sinkt.
Es gibt da etwas, was mir Kummer bereitet.
Er hätte bestraft werden sollen.
Niemand versteht mich.
Was wird aus mir werden.
Ich werde Schluß machen.
Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll.

(berman, "wiederverzauberung...", alle obigen zitate s. 125 - 127)


klingen newtons sätze nicht ganz verblüffend aktuell? ähnliches lässt sich heute auch in diversen netzforen lesen, zu depressionen, borderline... ich war ähnlich erstaunt wie berman:

"Für einen Jugendlichen sind dies zweifelsohne sehr ungewöhnliche Sätze, um ins Lateinische übersetzt zu werden; die Auswahl ist beinah nicht zu glauben. `Bei all diesen Notizen des Jungen´, schreibt Manuel,

`erstaunt vor allem, daß kein einziges Mal die Äußerung eines positiven Gefühls auftaucht. Das Wort Liebe fehlt völlig, und Äußerungen von Freude, Wusch und Verlangen sind selten...Fast alle Aussagen enthalten Negationen, Ermahnungen, Verbote. Das Leben erweist sich als feindlich und auf Strafe bedacht.´"


ich weiß nicht, wie oft ich den letzten satz schon gelesen habe - und immer wieder ist es ein gefühl, welches mir mit wucht kommt: das ist so verdammt bekannt, große und entscheidende teile des heutigen sozialen lebens sind auf diesem prinzip, besser dieser wahrnehmung, aufgebaut.

"Wäre darüber hinaus nichts weiter von Isaac Newton an die Geschichte überliefert worden, dann hätten diese Notizbucheintragungen den Status eines psychiatrischen Kuriosums erhalten. Anstattdessen haben wir es bei Isaac Newon mit dem Erschaffer der Wissenschaftsauffassung der Neuzeit zu tun, und diese Auffassung, die besagt, daß alles hundertprozentig vorhersagbar ist ("Töte alles, was in Bewegung ist" wie Philip Slater es ausdrückt), kann keinesfalls getrennt von ihrer pathologischen Grundlage gesehen werden. `Eine der wichigsten Quellen für Newtons Drang nach Wissen´, schreibt Manuel, `war seine Furcht und Angst vor dem Unbekannten. Wissen, das in mathematische Formeln gebracht werden konnte, vermochte seiner quälenden Unsicherheit und Ungewißheit ein Ende zu bereiten...(Die Tatsache), daß die Welt mathematischen Gesetzen gehorcht, bedeutete seine eigene Sicherheit.

Alles auf Himmel und Erden in einen einzigen starren, engen Rahmen zu zwingen, dem nicht einmal per Zufall das kleinste Detail entkommen konnte, um frei umherzuscheifen, war für diesen von Angst und Furcht verfolgten Mann eine innere Notwendigkeit. (...) Das System war sowohl in seinen physikalischen als auch historischen Dimensionen vollständig. (...) Es war Newtons Glück, daß die Gesellschaft Europas einen großen Teil seines gesamten Systems als ein perfektes Abbild der Wirklichkeit akzeptierte, so daß sich sein Name aufs engste mit seinem Zeitalter verband.´

Trotz seines gelegentlichen Nervenzusammenbruchs war Newton kein Psychotiker, es steht jedoch außer Zweifel, daß er sich an der Grenze zu irgendeiner Form des Wahnsinns bewegte, den er durch eine völig auf den Tod ausgerichtete Natursicht zu beschwichtigen suchte. Bemerkenswert daran ist jedoch weniger diese Natursicht selbst als vielmehr die Zustimmung und der Beifall, den sie auf breiter Ebene fand. (...) Anstatt irgendein einsamer, eigenartiger Kauz zu bleiben, gelang es ihm, ganz Europa dazu zu bringen, `sich diesem großen, zwanghaften Modell anzuschließen´, Präsident der Royal Society zu werden und 1727 mit Glanz und Glorie in der Westminster Abtei in einem Akt internationaler Bedeutung begraben zu werden.

Man könnte sagen, daß Europa, nachdem es die Newtonsche Sicht der Welt übernommen hatte, geschlossen den Verstand verlor."

(berman, "wiederverzauberung...", s. 128/129)


über den letzten satz empfiehlt sich eine besinnliche meditation...und ob newton als psychotiker bezeichnet werden soll, ist eine definitionsfrage - wie gesagt, bezieht sich berman nur auf die eine form - newton hat dagegen seinen wahnsinn erfolgreich in die gesellschaft transferiert, und befindet sich damit in berühmter gesellschaft. erfolg kann eben auch ein kriterium für wahnsinn sein, zumal sie er auch eine stützende funktion besitzt, die dem erfolgreichen sowohl das blanke ausagieren als auch die nichtauseinandersetzung mit sich selbst ermöglicht.

*

zum schluß noch ein recht berühmtes bild newtons (der mit hilfe eines zirkels die welt zerlegt) von william blake, und ein passendes gedicht von eben diesem blake. das soll kommentar genug sein.

newton

Now I a fourfold vision see,
And a fourfold vision is given to me;
´t is fourfold in my supreme delight,
And threefold in soft Beulah´s night
And twofold always. May God us keep
From single vision and Newton´s sleep!

Jetzt sehe ich eine vierfältige Erscheinung
und eine vierfältige Sicht ist mir geschenkt.
Vierfältig ist sie in meinem äußersten Entzücken,
Dreifältig in Beulah´s sanfter Nacht
und zweifältig zu allen Zeiten.
Möge Gott uns vor einfältiger Sicht
und Newtons Schlaf bewahren.

(1802)
monoma - 19. Jan, 15:01

zum gemälde am schluß...

...noch eine interpretation, die ich ebenfalls dem buch von berman entnehme:

Auf diesem Gemälde Blakes sitzt Newton auf dem Meeresgrund von Zeit und Raum. Der Polyp neben seinem linken Fuß ist nach Blakes Mythologie "die Krebsgeschwulst der Staatsreligion und Machtpolitik", während Newton auf seine Skizze starrt mit "der katatonen Starre eindimensionaler Sicht..."

der erwähnte polyp, auf dem bild oben links-unten-mittig, ist leider nur schwer zu erkennen - ich habe einen vergrößerten ausdruck auf papier vor mir, auf dem das besser zu sehen ist.

ansonsten gibt es demnächst noch einen längeren nachtrag zum thema.

Dr. Dean (Gast) - 26. Okt, 02:32

Abgesehen davon, dass die Annahmen über den Charakter von Newton überreichlich spekulative Züge haben, könnte man sich auch darüber streiten, ob Newton nicht einfach die entdeckten naturwissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten systematisiert hat. Aber auch das mag als geniale Leistung gelten, sonderlich viel Fehler scheinen ihm dabei jedenfalls nicht unterlaufen zu sein. Das naturwissenschaftliche Weltbild hätte sich aber auch ohne Newton verbreitet - insofern halte ich es für schwer übertrieben, das naturwissenschaftliche Weltbild als Ergebnis der Psyche von Newton zu betrachten...

Außerdem meine ich, dass Achtung vor Natur und Mitmensch auch im Rahmen eines naturwissenschaftlichen Weltbildes möglich sind. Viele Naturwissenschaftler haben die Natur ungemein verehrt. Das von Berman jedenfalls macht auf mich einen tendenziös-esoterischen Eindruck. Sorry - ich will mit dem, was ich hier schreibe niemanden verärgern, und es macht sicherlich auch Spaß zu räsonieren und zu spekulieren.

Ich persönlich glaube, dass Vernunft und rationales Denken, soweit wir dazu überhaupt in der Lage sind (viel ist es ja nicht - wie ich bei mir selbst oft entdecke), etwas Gutes sind. Ich halte die Idee, dass dies der Auswuchs eines psychotischen Charakters von Newton sein soll, für verwegen.

monoma - 26. Okt, 12:42

@dr. dean

"Abgesehen davon, dass die Annahmen über den Charakter von Newton überreichlich spekulative Züge haben,..."

das betrifft letztlich die diskussion über den sinn bzw. unsinn von ferndiagnosen, für die ich hier versucht habe, ein paar kriterien aufzustellen.

"...könnte man sich auch darüber streiten, ob Newton nicht einfach die entdeckten naturwissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten systematisiert hat. Aber auch das mag als geniale Leistung gelten, sonderlich viel Fehler scheinen ihm dabei jedenfalls nicht unterlaufen zu sein. Das naturwissenschaftliche Weltbild hätte sich aber auch ohne Newton verbreitet - insofern halte ich es für schwer übertrieben, das naturwissenschaftliche Weltbild als Ergebnis der Psyche von Newton zu betrachten..."

zum letzten satz zuerst: sicher ist es nicht das "ergebnis" der "psyche" (die es meiner meinung nach nicht als isoliertes einzelnes gibt, und die auch niemals vom körper getrennt gedacht werden darf) von newton; eher ist er in der beschriebenen form als repräsentativer "bündler" von tendenzen anzusehen, die in seiner zeit latent vorhanden waren (ähnliches ließe sich bspw. auch über hitler sagen, ohne die beiden gleichzusetzen - aber die funktion solcher menschen in ihrer jeweiligen zeit ist das entscheidende.) und es ist nun mal newton gewesen, mit all seinen persönlichen eigenschaften, der dieses weltbild geprägt hat. und eben dieser fakt ist mit hoher wahrscheinlichkeit kein zufälliger gewesen.

"Außerdem meine ich, dass Achtung vor Natur und Mitmensch auch im Rahmen eines naturwissenschaftlichen Weltbildes möglich sind. Viele Naturwissenschaftler haben die Natur ungemein verehrt."

was aber eine durchaus jüngere entwicklung ist, wie Ihnen vermutlich bekannt sein dürfte. und es ist meiner wahrnehmung nach auch eher immer noch eine minderheit von wissenschaftlern, die den schritt von ihren persönlichen beobachtungen/empfindungen hin zu einer daraus abgeleiteten menschen- und naturfreundlichen ethik schafft.

"Das von Berman jedenfalls macht auf mich einen tendenziös-esoterischen Eindruck."

dieser eindruck ist definitv nicht korrekt, was den gesamten ansatz von berman betrifft

"Ich persönlich glaube, dass Vernunft und rationales Denken, soweit wir dazu überhaupt in der Lage sind (viel ist es ja nicht - wie ich bei mir selbst oft entdecke), etwas Gutes sind."

wenn Sie damit auch die arten von vernunft meinen, die nicht alleine instrumentell sind sowie ebenfalls emotionale rationalität (doch, sowas gibt´s), dann stimme ich Ihnen zu. und ziehen Sie aus Ihrer selbstbeobachtung eigentlich keine schlüsse, was die genannten fähigkeiten angeht? die pure - instrumentelle - vernunft ist ohne emotionale basis (infolge von medizinisch relevanten schäden der [selbst-]wahrnehmung) die klassische position des konstruktivistisch agierenden soziopathen/antisozialen, und eigentlich sollte uns die von Ihnen erwähnte "unzulänglichkeit" fröhlich stimmen - auch wenn die weitaus meisten von uns mehr schlecht als recht zugang zu den eigenen gefühlen haben, und diese dazu noch oft genug entwertet und verzerrt wahrgenommen werden, ist eine ganz andere - vernünftige - menschliche entwicklung doch trotzdem noch potenziell möglich. was bei strukturellen antisozialen mit einem ganz dicken fragezeichen versehen werden muss.

"Ich halte die Idee, dass dies der Auswuchs eines psychotischen Charakters von Newton sein soll, für verwegen."

das hängt hauptsächlich an der definition von "psychose" - wie gesagt, gehe ich von zwei qualitativ unterschiedlich funktionierenden arten aus. und die eine (die sich auch als totalitär entgleiste objektivistische position bezeichnen ließe, "gesäubert" von allen fähigkeiten wie bspw. empathie und mitgefühl) - meiner meinung nach die weitaus gefährlichere - ist untrennbar nicht nur mit dem objektiv beobachtenden "ich" verbunden, wie es von newton und descartes als basis der westlichen naturwissenschaft proklamiert wurde. und diese art der kapitalistisch-neuzeitlichen ich-formation allerdings (die durchaus verschiedene variationen aufweist, aber ihre grundsätzlich pathologische basis niemals verlässt) - für diese art nun lässt sich newton durchaus als ein repräsentativer vertreter ansehen, der mit seinen spezifischen persönlichen deformationen die sache auf den (damaligen) punkt bringen konnte. bzw. wegen seiner eigenschaften.

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