notiz: popkultur, borderline und narzißmus reloaded - und etwas zu ferndiagnosen

in einem vergangenen beitrag hatte ich per überschrift diese frage gestellt: ist borderline mörderischer *pop*? nun taucht aktuell online diese meldung auf:

"Einer der weltweit führenden Angstforscher, Borwin Bandelow, hat in einem Interview vielen Mega-Promis gefährliche Persönlichkeitsstörungen attestiert. Verbreitete Symptome seien Narzissmus und Borderline."

nun, das finde ich persönlich nicht allzu überraschend (auch nicht die fehlinformation, dass es sich bei borderline um ein "symptom" handeln würde - das allgemeine wissen in diesem bereich ist bekanntlich stark erweiterungsfähig) - wenn Sie sich die bisherigen beiträge hier im blog rund um die themen borderline und narzisstische ps noch einmal in erinnerung rufen, werden Sie sich vielleicht viele argumente für die these ins gedächtnis rufen können, dass gerade die simulativen und fiktiven welten von show und schauspiel eine bevorzugte anziehungskraft für menschen mit bestimmten psychophysischen strukturen besitzen - das lässt sich durchaus auch aus den eigenen wahrnehmungen dieser bereiche und der dort auftretenden protagonistInnen schließen (zumindest, wenn die eigenen wahrnehmungsfähigkeiten noch irritierbar hinsichtlich durch und durch simulierter realitäten sind). und von daher halte ich die folgende, auf den ersten blick seltsame aussage des psychiaters auch nicht für so bizarr, wie´s den anschein haben könnte:

Den Vorwurf, dass die Promis, über die er urteilt, doch gar nicht auf seiner Couch gelegen hätten, lässt Bandelow nicht gelten: "Die Diagnose erfordert keinen psychiatrischen Feinsinn."

am argument, dass ein eigener, unmittelbarer wahrnehmungseindruck am sichersten relevante informationen über den (inneren) zustand eines anderen menschen geben kann, ist sicher einiges dran. bloß: wenn es mit den eigenen wahrnehmungsfähigkeiten nicht mehr weit her ist, dann können auch noch so viele objektiv stattfindende nahkontakte keinerlei wichtige informationen vermitteln. umgekehrt aber lassen sich meiner meinung nach auch aus der distanz und aus medialen und biographischen fragmenten aller art durchaus korrekte schlüsse über psychophysische zustände bei ansonsten eigentlich fremden personen treffen, wenn dabei einige voraussetzungen beachtet werden - so müssen zb. die quellen, aus denen heraus die eigenen wahrnehmungen sozusagen extrapoliert werden, sorgfältig geprüft sein - und auch die funktionsbedingt bei distanzkontakten eher abstrakteren wahrnehmungsinhalte (die dann fast immer auch vom eigenen objektivistischen modus zu mehr oder weniger sinnvollen gestalten/skulpturen konstruiert und ergänzt werden) müssen anders "gelesen" werden als bei konkreter nähe. wenn allerdings die gerade genannten veränderten voraussetzungen berücksichtigt werden, sehe ich persönlich generell bestimmte arten von "ferndiagnosen" nicht als gänzlich unmöglich an.

"Wenn Drogenabhängigkeit mit Magersucht, Aggressivität, Suizidversuchen und Depressionen kombiniert ist, ist das ein relativ klarer Fall von Borderline. Die Betroffenen haben ihre Emotionen nicht im Griff. Sie erzählen Lügengeschichten. Und obwohl sie sehr selbstbewusst auftreten, halten sie sich für den letzten Dreck."

Auch die Hinwendung vieler Promis zu den unterschiedlichsten religiösen Bewegungen rechnet Bandelow dem Borderline-Syndrom zu: "Wer unter Angst leidet, sucht sein Heil gern in der Religion. Typisch für Borderliner ist, dass sie sich Ausgefallenes suchen. Madonna hat sich der Kabbala zugewandt, Tom Cruise missioniert für Scientology."


und hinsichtlich michael jackson und klaus kinski, die ich persönlich ebenfalls beide für borderlinebetroffen halte, wäre noch das element der öffentlichen identitätskonstruktionen und -wechsel zu nennen, welches bei genauerer beobachtung bei vielen sog. stars zu bemerken ist. essstörungen und selbstverletzendes verhalten als symptome verstärken ebenso wie vielfältiger drogenabusus dann nur noch die indizienreihe.

edit: und es bleibt natürlich notwendig, immer im hinterkopf zu behalten, dass die meisten der oben von dem zitierten psychiater genannten symptome eben auch hinweise auf (post-)traumatische störungen sein können.
monoma - 8. Mär, 15:51

eine zum thema durchaus passende...

...meldung, die ich hier nicht weiter kommentieren möchte - auszug:

"Warum aber erst sein Gitarrentechniker auf die Idee kam, dass sich hinter dem berüchtigten Verhalten des Frontmanns eventuell eine Krankheit verbergen könnte, ist zwar irgendwie nachvollziehbar - schließlich musste allein schon die Zahl der zerstörten Instrumente stutzig machen -, zeigt aber auch, wie gleichgültig und selbstverständlich der Rock'n'Roll-Zirkus inzwischen seine Akteure als reine Kunstfiguren wahrnimmt, die gar nicht authentisch sein können.

Oder eben autistisch, wie im Falle von Craig Nicholls."

mo (Gast) - 11. Mär, 21:29

kennen Sie michelangeli?

wenn nicht, dann lernen Sie (genau wie ich) jetzt etwas - auch der folgende text Michelangeli: Ein Autist am Flügel passt zum thema (pop-)kultur:

"Michelangeli, 1920 nahe Brescia in der Lombardei geboren, verstörte und faszinierte die Öffentlichkeit durch seine Widersprüchlichkeit. Er wurde berühmt durch sein makelloses, präzises, bis ins kleinste Detail ausgefeilte Klavierspiel - und durch seinen unberechenbaren Charakter.

Bei Konzerttourneen reiste «ABM» mit zwei eigenen Flügeln, die ständig von Technikern nachjustiert werden mussten. Winzige Ungenauigkeiten am Instrument oder die falsche Lufttemperatur nahm er oft zum Anlass, um von weit her angereiste Orchester sitzen zu lassen und ausverkaufte Konzerte abzusagen."


und aus dem zugehörigen interview:

"Cord Garben: Wenn ich ein Psychiater wäre, könnte ich ein groß angelegtes Psychogramm über ihn erstellen. Ich habe ihn in allen denkbaren Situationen erlebt, außer im Umgang mit Frauen. Ich würde sagen, ich kenne ihn sehr gut - seine Vorlieben, seine Ängste, seine psychischen Ausfälle. Wenn er den Druck nicht mehr aushielt, wurde er unhöflich und verhielt sich wie ein kleines Kind.

Netzeitung: Und er versuchte, anderen Menschen die Schuld an angeblichen Pannen zu geben, um sich selbst aus der Affäre zu ziehen...

Cord Garben: Ganz genau, er hat die Verantwortung auf andere Menschen oder die Rahmenbedingungen für ein Konzert geschoben. In Wien hat er einmal einen Riesenbammel gehabt vor einem Konzert im Musikverein, das im Fernsehen übertragen werden sollte. Er hat dann gesagt: «Die Luft ist zu feucht, der Flügel funktioniert nicht richtig, die Generalprobe muss ausfallen.» Damals musste ich selbst bei der Probe einspringen. Damit wäre er – falls abends etwas schief gegangen wäre – entschuldigt gewesen.

Netzeitung: Sie beschreiben Michelangeli als kühlen Analytiker von «dämonischer Perfektion» und zugleich als «versteckten Romantiker». Es gab wenige Momente, in denen er bei seinem Spiel Emotionen zuließ...

Cord Garben: Für mich war er ein Autist und Psychopath, der eine Barriere zwischen sich und anderen aufgebaut hatte. Mit Fremden konnte er eigentlich gar nicht reden, er schaute weg, und während er jemandem die Hand gab, ging er schon einen Schritt weiter. Er versteckte sich hinter Perfektion, Klarheit und Technik. Bestimmte Stellen konnte er aber auch so spielen, dass es einen emotional umhaute."


entspricht zwar sehr dem klischee von genie und wahnsinn, enthält aber - einmal andere hier im blog nachzulesende beschreibungen berücksichtigt - etliches an realität. und wieder die große frage: ist es hier berechtigt, von authentischer emotionalität zu sprechen? bei seinen zuhörerInnen zumindest z.t. sicherlich - aber bei ihm selbst?

monoma - 24. Mär, 12:54

interessant,...

...in welchen kontexten inzwischen autismus auftaucht - eigentlich war die überwiegende meinung lange zeit, dass es sich auch beim "leichteren" asperger-syndrom um eine störung handelt, die absolut nicht kompatibel ist mit jeglicher form von öffentlichem rummel - hatten wir oben schon das beispiel eines autistischen bandmitglieds, so geht es in der folgenden meldung um einen typischen "american dream" im basketball:

"Die Geschichte des 17-jährigen Jason McElwain könnte in einem Märchenbuch stehen, wenn sie nicht wahr wäre: Ein autistischer Junge, der für seine Highschool-Mannschaft in Greece, NY, jahrelang Wasser schleppte, Trikots austeilte und Spieler tröstete, erhält kurz vor Schluss des Spiels gegen das Team aus dem benachbarten Spencerport erstmals die Chance, selber auf den Basketballplatz zu kommen.(...)

Seine Mitspieler tragen ihren „J-Mac“ auf den Schultern vom Platz. Die 900 Zuschauer toben. Die Lokalzeitung berichtet über das Wunder an der Athena-High-School. Der Fernsehsender CBS greift die Geschichte auf und sendet sie in den Abendnachrichten. Die Nation ist gerührt. Allen voran US-Präsident George W. Bush, der Jason diese Woche vor einem politischen Auftritt in Rochester auf der Rollbahn des Flughafens traf.(...)"


und das dürfte natürlich in einer "leistungsgesellschaft" besonders ankommen:

"T-Shirts mit Jasons Bild kommen auf den Markt. Kaffeetassen, Anhänger, Masken, alles was die amerikanische Kultindustrie hergibt. Oftmals versehen mit dem Mantra, das der autistische Junge seinen Mitspielern vom Spielfeldrand zugerufen hat: „Konzentriert Euch.“

am ende gibt´s noch ein paar informationen, die für die regelmäßigen leserInnen hier nicht neu sein werden:

"Sie hilft, Öffentlichkeit für eine Behinderung zu schaffen, die von den meisten Menschen nicht richtig verstanden wird. Dabei kommen in den westlichen Industrienationen aus bisher nicht erklärlichen Gründen immer mehr Kinder mit Behinderungen im autistischen Spektrum zur Welt - in den USA eines auf 166 Neugeborene.

Autismus geht einher mit einer unterschiedlichen Sinneswahrnehmung, zum Teil extremen Reaktionen auf sensorische Auslöser, der Unfähigkeit, sich in andere Personen hineinzuversetzen, sozialen und emotionalen Anpassungsschwierigkeiten sowie einer verzögerten Sprech- und Sprachentwicklung. Schwere Fälle bringen ganze Familien aus dem Gleichgewicht. Die Scheidungsquote unter Eltern autistischer Kinder liegt bei 90 Prozent."


ein paar fragen gehen mir spontan durch den kopf: lässt sich hier nicht mit allem recht von einer simulationsfähigen autismusvariante sprechen, wenn die betroffenen sogar innerhalb von pop und sport agieren und "aufsteigen" können? und was sagt das über den zustand der authentischen beziehungsfähigkeiten in diesen bereichen aus? anders: macht der innere zustand nicht nur dieser bereiche das agieren von autisten erst in dieser form überhaupt möglich?

monoma - 5. Apr, 18:49

der vollständigkeit halber...

...hier jetzt noch ein link zu einer rezension von bandelows buch, auf dessen thesen sich der obige beitrag bezieht - einer der interessanteren sätze in dieser rezension sieht so aus:

"Merke: Nicht der Showrummel macht verrückt, sondern manche schaffen es nach ganz oben, weil sie nicht normal sind."

das wort "showrummel" lässt sich ohne weiteres auch durch die wörter "politik" und "wirtschaft" ersetzen.

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