notiz: das präventive screening nach antisozialen persönlichkeiten...

...bereits im kinderalter kommt anscheinend in (staatliche) mode - nachdem großbritannien bereits diesbezgl. pläne hegt (im verlinkten beitrag unten zu finden), möchte frankreich nun nach einem telepolis-bericht ein ähnliches projekt starten:

"Das Gesetzesprojekt stützt sich auf eine Expertise des ansonsten hoch angesehenen nationalen Gesundheitsforschungsinstitut INSERM, in der Pädagogen, Psychologen und Jugendrichter Orwellsche Anklänge orten. Unter dem Titel "Verhaltensstörungen bei Kindern und Jugendlichen" empfiehlt diese Expertise "Ungehorsam und Gefühlskälte" bei den lieben Kleinen sobald als möglich dingfest zu machen, um einer eventuellen kriminellen Karriere zuvorkommen zu können. Mit der Schaffung eines "Betragensheftes" (carnet de comportement) ab der Geburt will der Innenminister nun sämtliche französische Kinder unter ständige professionelle Beobachtung stellen, um so frühzeitig "abartige, kindliche Verhaltensweisen" ausmachen zu können. Laut dem Innenminister entwickelten sich nämlich kindliche Störenfriede häufig zu jugendlichen Straftätern.

`Studien zeigen auf, dass eine Mehrheit von Erwachsenen, die eine antisoziale Persönlichkeit aufweisen, bereits frühzeitig verhaltenauffällig wurden. Umgekehrt betrachtet, entwickelt etwa die Hälfte der Jugendlichen, die Verhaltenstörungen erkennen lassen, eine antisoziale Persönlichkeit im Erwachsenenalter.´"


nun, in den ersten beiträgen hier neulich direkt zum themenbereich soziopathie/antisoziale persönlichkeit(sstörung) habe ich bereits versucht, einerseits auf die gefahr der instrumentalisierten benutzung dieser diagnostischen modelle im interesse von machtinteressen hinzuweisen (wohin das führen kann, zeigt die geschichte des wortes "asozial" in nazideutschland), um andererseits auch das problem der realen existenz von menschen zu thematisieren, denen mit allem recht antisoziale verhaltensweisen attestiert werden dürfen, selbst bei berücksichtigung der gesellschaftlichen bedingtheit der jeweiligen definitionen dessen, was als antisozial betrachtet wird. bei der betrachtung der französischen definition, die sich augenscheinlich an den kriterien der icd-10 für die dissoziale ps orientiert, konnte ich aber wieder einmal sofort auftretende assoziationen feststellen - als merkmale werden da genannt:

"Gefühlskälte, Tendenz zur Manipulation, Zynismus, Aggressivität, Ungehorsamkeit, mangelnde emotionale Selbstkontrolle, Impulsivität, Hyperaktivität und Indizien einer niedrigen Moral."

ist das nicht eher als anforderungsprofil innerhalb einer stellenausschreibung für sog. "führungspersönlichkeiten" zu begreifen, von denen eine weitere auch hier näher beschrieben wird? ich bin schon länger der meinung: ja.

der "ungehorsam" hingegen weist nicht nur bei betrachtung der aktuellen innenpolitischen französischen situation darauf hin, dass die verantwortlichen regierungskreise sich selbst natürlich keineswegs als untersuchungsbedürftig begreifen - wie denn auch, vertreten sie in ihrer wahrnehmung doch die normalität. und ungehorsame untertanen sind dann in dieser logik natürlich nicht normal. das alte elend also mit der begrifflichkeit "antisozial": die definitionsmacht ist entscheidend.

und die sollten wir den herren in den feinen anzügen in unserem ganz eigenen interesse keinesfalls kampflos überlassen. als mindestforderungen vielleicht das: a) erarbeitung von kriterien für die dissoziale ps, bei denen einerseits die gesellschaftliche bedingtheit berücksichtigt wird, andererseits auch das simulationstalent von soziopathischen persönlichkeiten; b)wenn schon screenings (die ich persönlich in bestimmten fällen für sinnvoll halte, allerdings nur unter veränderten bedingungen), dann unter einbeziehung aller angehörigen der politischen und wirtschaftlichen "eliten". bekanntlich dürften sich gerade dort überproportional viele leute mit schweren psychophysischen störungen befinden. ich bin auf eine diskussion dazu gespannt.
sansculotte (Gast) - 29. Mär, 17:34

Soeben im Regionalfernsehen

Soeben lief im österreichischen Regionalfernsehen ein Teaser für die Abbendnachrichten "Wien heute", wo auf die Beratungsstelle der Magistratsbateilung 11 (kurz: "Mag 11") hingewiesen wurde, und zwar mit den Worten: " Immer mehr Eltern suchen Rat und Tat bei der Mag 11, Eltern, bei denen schon die Babies ausprobieren, wer der Stärkere ist."

Spinn ich? Hallo, Planet - Reality Check! "..bei denen schon die Babies ausprobieren, wer der Stärkere ist"? Auch wenn das "augenzwinkernd gemeint" gewesen sein sollte, ist es doch eine ungeheuerliche Form der Projektion von Bösartigkeit auf das Kind und zeugt von einer Denkart, von der ich eigentlich meinte, dass sie schon längst überwunden sei. Bloß fällt mir auf, dass diese dreiste Unterstellung von Bösartigkeit und die Zuschreibung von genuin-bösen Eigenschaften auf Kinder in letzter Zeit wieder vermehrt Anhänger findet. Was passiert da? Wird hier gezielt Propaganda betrieben oder handelt es sich um reflexartige Antworten auf ein gesellschaftliches Klima, das zunehmend repressiv wird? Oder ist es einfach die Tatsache, dass autoritäre Haltungen und Äußerungen zunehmend ohne Folgen bleiben, und zwar vor dem Hintergrund einer sich immer weiter brutalisierenden Wirtschafts- und Arbeitswelt?

Noch Meinungen dazu, was da vorgeht?

sara (Gast) - 29. Mär, 18:54

leider ist dieses denken ganz und gar nicht ausgestorben, wie ich vor kurzem im eigenen bekanntenkreis feststellen durfte.

das 6 monatige baby sollte....laut aussage des kinderarztes.....jetzt lernen sich mit sich selbst zu beschäftigen und es wurde angeraten das baby nach jeder mahlzeit eine stunde schreien zu lassen.

dieser "kampf", von den eltern so bezeichnet, dauerte drei wochen.....jetzt ist der kleine anspruchslos glücklich in seinem bett und beschwert sich nicht mehr.....ist aber auch nicht mehr so neugierig auf die welt.

die mutter hat in den stunden übrigens weinend 2 zimmer weiter gesessen, hatte aber nicht die kraft oder den mut gegen den rat des arztes zu handeln.

mich hat das sehr erschüttert, wütend gemacht und auch frustriert.

dir einen lieben gruß hierlasse

sara
tonga (Gast) - 30. Mär, 12:55

Buch Empfehlung

Nun fällt mein Vertrauen in´s Bodenlose.
Nachdem ich nun das Büchlein:
"Asoziale Marktwirtschaft"von Hans Weiss/Eernst Schmiederer gelesen habe.
www.asoziale-marktwirtschaft.com
monoma - 31. Mär, 23:34

antwortversuche

@sansculotte: danke erstmal für die info - ich verstehe das blog auch als ein sich langsam füllendes thematisches archiv mit unterschiedlichsten quellen, und derlei mediale inhalte gehören unzweifelhaft dazu.

meinungen dazu? nun, ich denke erstens, dass es bei derlei - hm, gedanken immer auch um eine wiederspiegelung des aktuellen "zeitgeistes" geht - und ich glaube, in dessen einschätzung würden wir bei vielen punkten einen konsens finden. zum anderen aber - untrennbar mit dem letztlich kapitalistischen mainstream verbunden - gibt es da imo noch eine andere unheilige traditionslinie, die mir beim beitrag von sara (hallo! :-) wieder eingefallen ist. und zwar lässt sich die am besten mit dem namen johanna haarer auf den punkt bringen:

"Die Erziehung wird bei Haarer zu einer Technik, die durch die Ablehnung von Freude, Zuneigung oder Trösten gekennzeichnet ist und (nach Sigrid Chamberlain) das "Kind als Feind" betrachtet. So forderte Haarer, wenn das Kind schreit, "dann, liebe Mutter, werde hart! Fange nur ja nicht an, das Kind aus dem Bett herauszunehmen, es zu tragen, zu wiegen, zu fahren oder es auf dem Schoß zu halten, es gar zu stillen." (Die deutsche Mutter und ihr erste Kind, S. 173). Bei dem von ihr empfohlenen Position zum "richtigen" Halten des Säuglings entsteht ein weiter Blickabstand, so dass das Kind nicht fokussieren kann - die von den meisten Menschen instinktiv genutzte Haltung, bei der ein intensiver Blickkontakt möglich ist, wird von ihr abgelehnt."

anders: die bedürfnisse des kindes (meist als "eigener wille" interpretiert) sollen frustriert und gebrochen werden. das detail mit dem verweigerten blickkontakt ist dabei besonders interessant - ich empfehle, sich die bemerkungen von temple grandin zum thema augen-blicke im autismus-basisbeitrag nochmals anzuschauen.

"Erziehungsziel war nach Haarer schon bei Kleinkindern die Vorbereitung auf die Unterwerfung unter die NS-Gemeinschaft beziehungsweise die Gleichschaltung im Sinne deren Ideologie: "Machen wir uns klar, daß dieses Alter, in welchem unser Kind sich jetzt befindet, zwar verhältnismäßig wenig Raum bietet für eigentliche Erziehung, d. h. für die geistige, in bestimmter Richtung gelenkte Beeinflussung. Desto größer ist aber seiner (sic!) Bedeutung für die Ausbildung wirklich gesundheitsgemäßer und gemeinschaftsfähiger Lebensgewohnheiten, die uns, später der Schule und anderen Erziehungseinrichtungen bis hinauf zum Arbeitsdienst, ja zum Heer die Erziehungsarbeit in ungeahntem Maß erleichtern werden." (Unsere kleinen Kinder, S. 182).

Johanna Haarer hatte selbst fünf Kinder, aber keine Ausbildung in pädagogischen Fragen oder in Kinderheilkunde. Obwohl ihre Erziehungsschriften von heutigen Vorstellungen der Frühpädagogik weit entfernt sind, erschienen sie in hohe Auflagen und wurden noch bis in die 1980er Jahre neu aufgelegt."


vielleicht sollte dem arzt, den du, sara, oben erwähnt hast, mal jemand erzählen, dass er sich mit seinen menschenverachtenden empfehlungen u.a. in einer nationalsozialistischen tradition bewegt (wobei es diese art "pädagogik" schon vor den nazis gab, aber diese haben den eigentlichen kern der sache wie in anderen bereichen auch besonders kenntlich gemacht.)

die vorhandene empathie der mutter für das kind wird mittels eines angeblich "wissenschaftlich-objektiven" vorgehens entwertet - das kind wird bestimmten normen angepasst, und damit in der persönlichkeitsentwicklung beeinträchtigt und deformiert, auf sich selbst zurückgeworfen, in einer reduzierten und schmerzhaften form. so arbeitet die macht seit jahrhunderten. ich sehe in der beschreibung recht deutlich auch einen großen teil von sensorischer deprivation, das wird hier demnächt mal ein eigenes thema - ist sehr, sehr aufschlussreich.

@tonga: habe das buch mal durchgeblättert, und finde es als materialsammlung ganz brauchbar, aber mich stört ehrlich gesagt die darstellung in richtung "fehler im system". sorry, zwar platt, aber zutreffend: "das system" ist der fehler, und nicht reparabel. weil ich hier im blog sehr stark auf themen focussiere, die allgemein als "personenbezogen" gelten, könnte vielleicht der eindruck entstehen, dass ich es für ausreichend halten würde, bspw. soziopathen aus machtpositionen herauszuwerfen. aber dieser eindruck ist falsch. es gibt eine bisher meist ignorierte bzw. wenig beachtete wechselbeziehung zwischen "persönlichen dispositionen" bzw. individuellen psychophysischen eigenschaften und machtstrukturen, beides ist imo untrennbar verbunden, und beides muss gleichzeitig angegangen werden. historisch wurden bisher nur immer wieder machtstrukturen bestimter arten beseitigt - ohne tatsächlichen effekt, wie die geschichte so ziemlich aller "klassischen" revolutionen zeigt.
Morgaine (Gast) - 1. Apr, 17:40

"jetzt ist der kleine anspruchslos glücklich in seinem bett und beschwert sich nicht mehr..."
Ich habe ein Jahr lang in einer anthroposophischen Buchhandlung gearbeitet. Leider ist bei mir der Eindruck entstanden, dass es dort, wo diese Weltanschauung besonders intensiv gelebt wird, viele anspruchslos glückliche Kinder gibt. Man schlägt die Kinder nicht. Nein, man lässt sie ins Leere laufen. Man begründet das wunderbar anthroposophisch. Dem anderen Anwesenden. Nicht dem Kind. Das beachtet man derweil nicht. Lässt es schreien. Solange, bis es irgendwann ganz ganz friedlich wird. Und endlich auch die wunderbare Welt der Zwergen, Elfen und Geister mit verklärtem Lächeln ... geniesst?
sara (Gast) - 3. Apr, 13:13

bei dem o.g. arzt handelt es sich um einen antroposophen.

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