notiz: ein messer und "hass auf menschen"
da hatte ich im letzten beitrag einen prozeßbericht erwähnt, der von seinen inhalten durchaus nicht alleine dasteht - und bin nun über eine kurze meldung gestolpert, die auch einen prozeß thematisiert - und hier spielt eine diagnose eine rolle, der ich in einem solchen kontext allerdings noch nicht begegnet bin:
(...) "Der Angeklagte wurde gestern vor der Jugendkammer des Landgerichts Nürnberg-Fürth zu einer Jugendstrafe von drei Jahren und zehn Monaten verurteilt - wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung. Bleiben soll er jedoch in der Klinik. Denn der Gutachter attestierte eine tiefgreifende Persönlichkeitsstörung: das Asperger Syndrom, eine seltene Form des Autismus.
Das führte dazu, dass der junge Mann im Februar 2005 auf eine damals 19-Jährige mit einem 20 Zentimeter langen Küchenmesser einstach. Als Grund dafür nannte er später „Hass auf Menschen“, er habe einfach irgendjemanden umbringen wollen. Die Polizei sprach von einer „Zeitbombe für Neumarkt“. Die junge Frau überlebte den Angriff.
Richter Helmut von Ciriacy ging gestern von einer verminderten Schuldfähigkeit des 18-Jährigen aus. Die Therapie ist zeitlich unbegrenzt."
leider ist der informationsgehalt dieser meldung recht unbefriedigend - es wäre sehr interessant, näheres zum gutachten und zur begründung dieser diagnose zu erfahren. die oben stehende kausale ableitung von der "seltenen form des autismus" (eine imo durchaus unzutreffende behauptung) hin zur tat könnte sich auf aussagen im gutachten beziehen - aber das muss eben vorläufig eine spekulation bleiben. ebenso wie mein spontaner gedanke, dass andere gutachten möglicherweise eine borderlinestörung oder antisoziale ps attestiert hätten. ich verspüre ein ähnliches erstaunen wie bspw. bei der in den kommentaren hier dokumentierten geschichte vom (asperger-)autistischen frontmann einer band. das könnte womöglich daran liegen, dass auch meine spontanen assoziationen zum autismus immer noch vom typischen bild des (kanner-)autistischen kindes mit extremen verhaltensauffälligkeiten bestimmt sind. obwohl im basisbeitrag autismus ja schon deutlich anklingt, dass dieses bild eben nur für einen kleinen und wahrscheinlich nicht repräsentativen teil der betroffenen des autistischen spektrums zutrifft.
als weitere assoziation kam mir vor dem hintergrund der beschreibung der völlig willkürlichen opferauswahl und des - hm, motivs ebenso schnell das wort "amok" in den kopf. nun ist dieses wort inzwischen medial mit einer bedeutung aufgeladen, die sich vom ursprung des begriffs recht weit entfernt hat (die berüchtigten "schulmassaker" der letzten jahre wie zb. in erfurt erfüllen einige der gleich aufgeführten kriterien nicht; so war zb. in den meisten fällen durchaus eine gezielte planung/vorbereitung der täter zu verzeichnen) - ein "echter" amokzustand zeichnet sich meines wissens durch mehrere einmalige eigenschaften aus: er entsteht a) anscheinend aus dem "nichts" heraus, also sehr plötzlich; ist b) an ein begrenztes zeitfenster (das können auch nur ein paar minuten sein) gebunden; stellt c) einen extremen psychophysischen zustand mit teils deutlich verifizierbaren veränderungen zb. des muskeltonus im gesamten körper (unwillkürliche extreme anspannung) und stark herabgesetzter schmerzempfindlichkeit dar; und wird d) in der regel von einer nachfolgenden amnesie beim amoklaufenden begleitet - d.h., die erinnerung an die taten im amokzustand sind wie ausgelöscht und nicht bewusst zugänglich. all diese phänomene zusammengenommen haben dazu geführt, dass amokereignisse in teilen der psychiatrischen forschung inzwischen im weitesten sinne den dissoziativen zuständen zugerechnet werden (eine sehr ausführliche und empfehlenswerte darstellung des amoks aus psychiatrischer sicht findet sich hier .)
vor dem hintergrund von in diesem blog diskutierten möglichen strukturellen zusammenhängen etlicher psychiatrischer diagnosen gibt es also durchaus einige ebenso mögliche links, die zb. von dissoziativen zuständen hin zum autismus führen (vielleicht lesen Sie dazu auch nochmal die selbstbeschreibungen von temple grandin im autismusbeitrag). aber wie gesagt: die informationen sind schlicht zu spärlich, um zu der obigen tat etwas mehr sagen zu können. auch muss es vorläufig spekulation bleiben, ob sich hier womöglich eine art paradigmenwechsel in der "professionellen" wahrnehmung autistischer zustände abzeichnet. wir werden sehen, ob das ein einzelfall bleibt.
einige leserInnen werden vielleicht denken "was hat er eigentlich, passt doch gut in sein konzept?" nun, falls überhaupt von "konzept" die rede sein kann, so bin ich über derartige entwicklungen/ereignisse keinesfalls irgendwie glücklich - im gegenteil bestärken sie sehr ungute gefühle bei der betrachtung der aktuellen sozialen zustände.
ein letztes wort noch zum kommentar der mutter eines autistischen kindes unter der meldung: die argumentation, dass es auf den "charakter" ankäme und nicht auf einen eventuellen autistischen zustand, geht so ziemlich an allem vorbei, was wir heute über menschliche seinszustände wissen können - auch wenn die vermutlichen ängste der mutter vor stigmatisierungen in folge solcher berichte verständlich sind, so ist es doch imo absolut unzulässig, von vorneherein jede möglichkeit einer verbindung zwischen derartigem destruktiven verhalten und störungen des autistischen spektrums kategorisch auszuschliessen. autismus als paradigmatisches modell für eine generelle und allumfassende beziehungsunfähigkeit betrachtet, schliesst antisoziale aktionen solchen grades ganz sicher nicht aus - eher trifft das gegenteil zu. vor allem, wenn sich die "aspergervariante" mit einer grundsätzlich autistischen struktur mehr und mehr als sozial simulativ kompatibel innerhalb von gesellschaften mit großflächigen sozialen zerfallsprozessen erweisen sollte. schon wilhelm reich hat imo ganz treffend erkannt, dass das, was bis heute als "charakter" in unseren vorstellungen herumgeistert, prinzipiell nichts anderes darstellt als ein set von eigenschaften und verhaltensweisen, die ein mensch unter widrigen sozialen und gewalttätigen bedingungen herausbildet, und die als überlebenshiilfe dienen - anders: sog. charakterliche eigenschaften sind in ihrer mehrzahl als ausdruck von verzerrungen/störungen zu betrachten - und keinesfalls als manifestation eines authentischen / beziehungs- und liebesfähigen selbst.
(...) "Der Angeklagte wurde gestern vor der Jugendkammer des Landgerichts Nürnberg-Fürth zu einer Jugendstrafe von drei Jahren und zehn Monaten verurteilt - wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung. Bleiben soll er jedoch in der Klinik. Denn der Gutachter attestierte eine tiefgreifende Persönlichkeitsstörung: das Asperger Syndrom, eine seltene Form des Autismus.
Das führte dazu, dass der junge Mann im Februar 2005 auf eine damals 19-Jährige mit einem 20 Zentimeter langen Küchenmesser einstach. Als Grund dafür nannte er später „Hass auf Menschen“, er habe einfach irgendjemanden umbringen wollen. Die Polizei sprach von einer „Zeitbombe für Neumarkt“. Die junge Frau überlebte den Angriff.
Richter Helmut von Ciriacy ging gestern von einer verminderten Schuldfähigkeit des 18-Jährigen aus. Die Therapie ist zeitlich unbegrenzt."
leider ist der informationsgehalt dieser meldung recht unbefriedigend - es wäre sehr interessant, näheres zum gutachten und zur begründung dieser diagnose zu erfahren. die oben stehende kausale ableitung von der "seltenen form des autismus" (eine imo durchaus unzutreffende behauptung) hin zur tat könnte sich auf aussagen im gutachten beziehen - aber das muss eben vorläufig eine spekulation bleiben. ebenso wie mein spontaner gedanke, dass andere gutachten möglicherweise eine borderlinestörung oder antisoziale ps attestiert hätten. ich verspüre ein ähnliches erstaunen wie bspw. bei der in den kommentaren hier dokumentierten geschichte vom (asperger-)autistischen frontmann einer band. das könnte womöglich daran liegen, dass auch meine spontanen assoziationen zum autismus immer noch vom typischen bild des (kanner-)autistischen kindes mit extremen verhaltensauffälligkeiten bestimmt sind. obwohl im basisbeitrag autismus ja schon deutlich anklingt, dass dieses bild eben nur für einen kleinen und wahrscheinlich nicht repräsentativen teil der betroffenen des autistischen spektrums zutrifft.
als weitere assoziation kam mir vor dem hintergrund der beschreibung der völlig willkürlichen opferauswahl und des - hm, motivs ebenso schnell das wort "amok" in den kopf. nun ist dieses wort inzwischen medial mit einer bedeutung aufgeladen, die sich vom ursprung des begriffs recht weit entfernt hat (die berüchtigten "schulmassaker" der letzten jahre wie zb. in erfurt erfüllen einige der gleich aufgeführten kriterien nicht; so war zb. in den meisten fällen durchaus eine gezielte planung/vorbereitung der täter zu verzeichnen) - ein "echter" amokzustand zeichnet sich meines wissens durch mehrere einmalige eigenschaften aus: er entsteht a) anscheinend aus dem "nichts" heraus, also sehr plötzlich; ist b) an ein begrenztes zeitfenster (das können auch nur ein paar minuten sein) gebunden; stellt c) einen extremen psychophysischen zustand mit teils deutlich verifizierbaren veränderungen zb. des muskeltonus im gesamten körper (unwillkürliche extreme anspannung) und stark herabgesetzter schmerzempfindlichkeit dar; und wird d) in der regel von einer nachfolgenden amnesie beim amoklaufenden begleitet - d.h., die erinnerung an die taten im amokzustand sind wie ausgelöscht und nicht bewusst zugänglich. all diese phänomene zusammengenommen haben dazu geführt, dass amokereignisse in teilen der psychiatrischen forschung inzwischen im weitesten sinne den dissoziativen zuständen zugerechnet werden (eine sehr ausführliche und empfehlenswerte darstellung des amoks aus psychiatrischer sicht findet sich hier .)
vor dem hintergrund von in diesem blog diskutierten möglichen strukturellen zusammenhängen etlicher psychiatrischer diagnosen gibt es also durchaus einige ebenso mögliche links, die zb. von dissoziativen zuständen hin zum autismus führen (vielleicht lesen Sie dazu auch nochmal die selbstbeschreibungen von temple grandin im autismusbeitrag). aber wie gesagt: die informationen sind schlicht zu spärlich, um zu der obigen tat etwas mehr sagen zu können. auch muss es vorläufig spekulation bleiben, ob sich hier womöglich eine art paradigmenwechsel in der "professionellen" wahrnehmung autistischer zustände abzeichnet. wir werden sehen, ob das ein einzelfall bleibt.
einige leserInnen werden vielleicht denken "was hat er eigentlich, passt doch gut in sein konzept?" nun, falls überhaupt von "konzept" die rede sein kann, so bin ich über derartige entwicklungen/ereignisse keinesfalls irgendwie glücklich - im gegenteil bestärken sie sehr ungute gefühle bei der betrachtung der aktuellen sozialen zustände.
ein letztes wort noch zum kommentar der mutter eines autistischen kindes unter der meldung: die argumentation, dass es auf den "charakter" ankäme und nicht auf einen eventuellen autistischen zustand, geht so ziemlich an allem vorbei, was wir heute über menschliche seinszustände wissen können - auch wenn die vermutlichen ängste der mutter vor stigmatisierungen in folge solcher berichte verständlich sind, so ist es doch imo absolut unzulässig, von vorneherein jede möglichkeit einer verbindung zwischen derartigem destruktiven verhalten und störungen des autistischen spektrums kategorisch auszuschliessen. autismus als paradigmatisches modell für eine generelle und allumfassende beziehungsunfähigkeit betrachtet, schliesst antisoziale aktionen solchen grades ganz sicher nicht aus - eher trifft das gegenteil zu. vor allem, wenn sich die "aspergervariante" mit einer grundsätzlich autistischen struktur mehr und mehr als sozial simulativ kompatibel innerhalb von gesellschaften mit großflächigen sozialen zerfallsprozessen erweisen sollte. schon wilhelm reich hat imo ganz treffend erkannt, dass das, was bis heute als "charakter" in unseren vorstellungen herumgeistert, prinzipiell nichts anderes darstellt als ein set von eigenschaften und verhaltensweisen, die ein mensch unter widrigen sozialen und gewalttätigen bedingungen herausbildet, und die als überlebenshiilfe dienen - anders: sog. charakterliche eigenschaften sind in ihrer mehrzahl als ausdruck von verzerrungen/störungen zu betrachten - und keinesfalls als manifestation eines authentischen / beziehungs- und liebesfähigen selbst.
monoma - 7. Apr, 00:20