kontext 29: von *konstruierten* erinnerungen unter gewaltbedingungen

in einem gewissen zusammenhang zu dem gerade im letzten beitrag besprochenen steht ein artikel bei spon, in dem es u.a. um manipulationen am menschlichen gedächtnis geht:

(...)"Die verwirrende Erkenntnis, dass das Gedächtnis keineswegs ein Archiv ist, das pendantisch die Vergangenheit speichert, beschäftigt Neurobiologen, Psychologen und Sozialwissenschaftler inzwischen weltweit. Noch vor 20 Jahren hielt man das Gedächtnis für eine Art Computer, der unbestechlich aufzeichnet, was faktisch geschehen ist.

Dass dies ein Irrtum war, hatte und hat ungeahnte Folgen, etwa bei Kindesmissbrauchs-Prozessen. Die renommierte, aber auch umstrittene Gutachterin Loftus legt immer neue Studien vor, um Richtern zu zeigen, wie wenig Verlass auf das Gedächtnis ist. Wie wenig man den Aussagen von Missbrauchs-Opfern unkritisch Glauben schenken könne, wenn sie sich erst nach Jahrzehnten an die Gewalttat erinnern. Loftus vertritt die Seite der Angeklagten; eine heikle Position.

Doch auch wenn der Streit in der "False Memory"-Debatte kaum lösbar ist - die Studien, die er anstieß, haben die Gedächtnis-Forschung ein gutes Stück vorangebracht. "Eines sollten wir uns klar machen", sagt Loftus, "unser Gedächtnis wird jeden Tag neu geboren."(...)

Im autobiografischen Gedächtnis lagert die persönliche, subjektiv erlebte Lebensgeschichte. Es ist das komplexeste der Erinnerungssysteme und zugleich dasjenige, das bei Kindern als letztes entsteht, im Alter von etwa drei Jahren, wenn ein Kind eine Vorstellung von seinem Selbst zu entwickeln beginnt. Dass Schimpansen und Menschen, die 99 Prozent des genetischen Codes gemeinsam haben, dennoch grundverschieden sind, liege vor allem am autobiografischen Gedächtnis, sagt Markowitsch. Nur der Mensch kann sich an seine Biografie bewusst erinnern, nur er weiß, wie er eine bestimmte Situation erlebt und wie er sich dabei gefühlt hat.

Die Erinnerungen an die Lebensgeschichte prägen die Persönlichkeit, formen die Identität. Doch nicht etwa die objektiven Lebensdaten spielen dabei die Hauptrolle, sondern Gefühle. Sie sind es, die filtern, was im Langzeitspeicher landet und was gelöscht wird. "Gefühle", sagt Markowitsch, "sind die Wächter unserer Erinnerung."(...)


diese (und auch gleich folgende) behauptungen dürften zunächst wie bestätigungen für diejenige weltsicht anmuten, die heute unter dem attribut konstruktivismus angesegelt kommt (mehr zu den sich in diesem zusammenhang stellenden fragen u.a. hier. ) ich betone das "zunächst", weil sich bei den fraglichen forschungen wiedereinmal die grundsätzlich fragmentierende tendenz der westlichen wissenschaft zeigt: erstens ist das sog. autobiographische nicht das einzige gedächtnis beim menschen; zweitens manifestieren sich aller wahrscheinlichkeit bereits selbst pränatale erlebnisse (und auch perinatale bzw. sehr frühe postnatale) bevorzugt in der körperlich-materiellen menschlichen struktur. ein synonym dafür wäre das körpergedächtnis, welches Sie selbst bspw. bei einem chronisch verspannten schulter-nacken-bereich spüren können - ständiges unwillkürliches ducken und an-/verspannen vor einer realen oder auch durch posttraumatischen stress bedingten imaginierten gefahr ist nicht eben selten ein auslöser für derartige verspannungen, bei denen sich im wahrsten sinne des wortes eine haltung der umwelt gegenüber körperlich fixiert. dabei müssen die ursprünglich auslösenden momente tatsächlich keinesfalls dem bewussten gedächtnis zugänglich sein.

in einer arbeit zu zusammenhängen zwischen (psycho-)traumata und wachkoma wird zur körperlichen speicherung von traumatischen stress u.a. ausgeführt:

(...)"Der traumatisierte Leib/Körper vergißt nichts (...). Er nimmt als sozialer Raum Erfahrungen über gelungene und misslungene zwischenmenschliche Beziehungen in sich auf. Durch die Projektions- und Verarbeitungsfläche des Gehirns kann der Körper sich im Ich spiegeln. Im Falle eines Phantomschmerzes behält das Gehirn einen Körperteil in (schmerzvoller) Erinnerung, während der Körper selbst zum Überleben kein Ich-Gehirn benötigt, sondern sich auf sich selbst und durch sich selbst schützen kann. Solange es atmet, ist Hoffnung. Der Körper/Leib ist in der Lage, sein erlittenes Trauma symbolisch auszudrücken (...). Es ist bemerkenswert, dass und wie die moderne Medizin, die am Körper ansetzt, das Objekt ihrer Begierde, den Körper/Leib vernachlässigt und ihn biomechanisch reduziert."(...)

den letzten satz kann ich nur unterstreichen, und eine ähnliche reduktion lässt sich leider auch in vielen bereichen der neurowissenschaften beobachten. ich kenne selbst aus meinen umfeld und auch aus psychiatrischen krankengeschichten viele beispiele dafür, wie sich ein trauma regelrecht "verschlüsselt" in anscheinend nur somatischen symptomen - aber auch bereits in körperlichen haltungen, wie sogar in der art und weise, wie jemand geht - ausdrücken kann. der bewusste zusammenhang ist den betroffenen meistens nicht zugänglich, und genau das dürfte u.a. dazu führen, das sich das gehirn über die lücken biographisch sozusagen etwas "hinwegkonstruiert" - aber das bedeutet eben nicht, das "eigentlich gar nichts passiert ist" - sondern das die authentischen details für die betroffenen nicht mehr zugänglich sind.

(...)"Viele Patienten im Wachkoma zeigen einen "verkrüppelte" Körperlichkeit mit einer sogenannten Dekortikationshaltung bzw. spinalspastischen Haltung: zurückgebeugter überstreckter Kopf, geöffnete Augen, starre indifferente Mimik, Ulnardeviation und Faustschluß der Hände sowie Beugestreck- oder Beuge-Beugespastik von Armen und Beinen, häufig mit Spitzfußbildung einhergehend.

Dieser Zustand der "Verunstaltung" und "Verkrüppelung", über die man lieber nicht reden möchte, erinnert in manchen Teilen an eine vorgeburtliche "primitive" Schutzhaltung, die auch als "Embryonalhaltung" bezeichnet wird. Nach traditionellem, defektmedizinischen Verständnis wird diese starre pathologische Körperhaltung als direkte Folge einer schweren Hirnschädigung aufgefaßt. Demgegenüber ist eine beziehungsmedizinische und psychosomatisch-psychodynamische Sichtweise eher geneigt, diese Körperhaltung auch als ein Resultat zusammenwirkender interner und externer pathologisch-isolativer Lebensbedingungen zu sehen (wie bei einer schweren beidseitigen parietalen Läsionen), oder als reaktiv-psychodynamisch bedingten Dysmorphophobie in Verbindung mit bizarren Körperfehlvorstellungen und Formen des selbstdestruktiven Körperagierens."(...)


was ich gerade mit "verschlüsselt" meinte, wird im folgenden satz deutlicher:

(...)"...sondern nahmen verschiedene Körperhaltungen ein, die in einigen Fällen so charakteristisch waren, daß aus der eingenommenen Körperhaltung auf die Art der Gewalteinwirkung rückgeschlossen werden konnte: die abwehrend-vorgestreckten Arme, die gekrallten Finger, die entsetzte Erstarrung, das ohnmächtige Ausgeliefertsein (Abb. 2). Offensichtlich kam es in der Hypnose zur "Erinnerung" an die im Körpergedächtnis des "autonomen Körperselbst" eingeschriebenen Spuren des Traumas.(...)

all das haben große teile der neurowissenschaftlichen forschung in ihrer hirnfixiertheit offensichtlich nicht so recht auf dem schirm - denn wenn sie es hätten, gehörte das folgende entsprechend ergänzt:

"(...)BLACK-OUTS, Verwechslungen und verzerrte Erinnerungen - was Menschen häufig besorgt an sich selbst wahrnehmen, ist letztlich oft ein Segen. "Unser ganzes Leben ist eine Erfindung", so spitzt Harald Welzer es zu, Sozialpsychologe und Leiter der Gruppe "Erinnerung und Gedächtnis" am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen. "Es gehört zur menschlichen Normalität, sich falsch zu erinnern. Das korrekte Erinnern ist das Anomale." Zwar forme das Gedächtnis das Ich, Erinnerung bilde sich aber erst in der Gemeinschaft, in der Kommunikation mit anderen heraus. Welzer spricht vom "kommunikativen Gedächtnis". Ein Ereignis sei nicht das, was passiert sei, sondern das, was erzählt werden könne."

an dieser stelle ist es durchaus nötig, in erinnerung zu rufen, dass sich die zitierte "menschliche normalität" durchaus nicht als "normal" begreifen lässt, wenn unsere jahrtausendealte gewohnheit der gewaltausübung gegen andere, aber auch gegen uns selbst, berücksichtigt wird. sollte gerade ein sozialpsychologe nicht in der lage sein, etwas weiter zu denken? dann könnte es vielleicht mal sehr bald forschungen darüber geben, wie sich "falsche erinnerungen" nicht aus einer menschlichen, sondern einer gewalttätigen realität heraus ergeben. aber sowas möchte natürlich auch niemand wirklich wissen.

(...)"Deutlich zeigt sich dies in Erinnerungsgemeinschaften, etwa bei Menschen, die sich über ihre Kriegserfahrungen austauschen. Die zunächst individuellen Berichte werden sich oft von Treffen zu Treffen immer ähnlicher, bis sie schließlich in eine kollektive Erinnerung münden.

Dieses Phänomen brach sich Bahn anlässlich eines Vortrags des Koblenzer Historikers Helmut Schnatz über den schweren Bombenangriff auf Dresden am 13. und 14. Februar 1945. Unter den Zuhörern waren viele ältere Dresdner, die sich daran erinnerten, wie britische Tiefflieger sie gejagt hätten, während sie vor den Flammen durch die Straßen flüchteten. Mehrere Teilnehmer sagten, sie hätten sie noch genau vor Augen, "die silbrig schimmernden Mustangjäger".

Doch Schnatz konnte belegen, dass dies unmöglich geschehen sein konnte, weil der durch den Bombenangriff erzeugte gewaltige Feuersturm jeden Tiefflug unmöglich gemacht hatte. Auch hatte eine Auswertung britischer Flugeinsatzpläne und Logbücher keinen Beleg für eine solche Menschenhatz geliefert. Die Zuhörer waren empört. "Ich protestiere dagegen", rief ein alter Mann, "dass fremde Historiker, die gar nicht in Dresden zu Hause sind, über unsere Heimatstadt schreiben dürfen." Hundertfacher Applaus.

Bei der Erinnerung an traumatische Erlebnisse ist das Gedächtnis besonders unzuverlässig: Erfahrungen wie die Dresdner Bombennacht können - ähnlich wie die einer Vergewaltigung - extremen Stress und damit zusammenhängende biochemische Prozesse im Gehirn auslösen, die eine Speicherung von Erinnerungen empfindlich stören. Nur noch Fragmente des ursprünglichen Ereignisses gelangen dann ins Langzeitgedächtnis. Um verstehbare Zusammenhänge bemüht, übernimmt das Gedächtnis dann die kreative Aufgabe, die Lücken zu schließen. Welzer vermutet, dass Erinnerungen an emotional belastende Situationen deutlich mehr hinzugedichtete Episoden enthalten als solche an "normale" Ereignisse.(...)


richtig: traumatische erinnerungen werden aller wahrscheinlichkeit im gehirn in seperaten neuronalen netzwerken gespeichert, die der bewussten erinnerung nicht oder nur sehr fragmentarisch zugänglich sind. dazu kommt die speicherung im körper bzw. den möglichen betroffenen körperregionen selbst. ich hatte oben schon geschrieben, dass es sehr gut sein kann, dass hier vom gehirn tatsächlich realitätskonstruktionen zur hilfe genommen werden, um derartige biographische "lücken" (die ja genauer betrachtet eigentlich keine sind, weil es hier eher um einen defektbedingt und gleichzeitig schützenden nicht möglichen zugriff auf die authentischen erinnerungen geht) sozusagen zu schliessen. nur: ein schwerer fehler scheint mir wie gesagt darin zu liegen, das als "menschliche normalität" zu postulieren. viel treffender ist es meiner meinung, das als menschliche "normalität" unter traumatischen sozialen bedingungen zu begreifen. und das ist ein ganz entscheidender unterschied.
che2001 - 30. Okt, 09:50

Dass es im engeren Sinne bewusste oder komplexe Erinnerungen nur ab der Subjekt-Objekt-Trennung in der Kindheit gibt ist eine Sache, dogmatischer Umgang damit eine andere. Ich erinnere mich daran, dass ich bei meinen Lehrerinnen in der Grundschule immer als Spinner galt, weil ich erzählt hatte, dass ich mich daran erinnerte, wie ich als Baby gewindelt wurde (und ich konnte mich tatsächlich daran erinnern), und sie alle lehrbuchgetreu davon ausgingen, dass es so etwas nicht gibt. Zum Thema körperliche Haltung: Eine Person in meinem engsten Umfeld erkrankt ständig an allem Möglichen und hat eine gebeugte Körperhaltung, sie haut alles um. Ich ertrage selbst schwere Schläge, z.B. eine erlittene schwere Verletzung oder starke Schmerzen, mit ziemlicher Gelassenheit, und meine Körperhaltung ist aufrecht. Ganze Therapiemethoden, wie Rolfing oder Feldenkrais, haben das Erlernen einer möglichst immer aufrechten Körperhaltung zum Inhalt, und zwar keineswegs nur, weil das gut für den Rücken ist. Auch die Grundstellung im Shorin-Karate (tiefe Kauerstellung, Rücken gerade, sprungbereit) ist eine Metapher für eine Lebenshaltung, die der Schüler somatisieren soll.

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