notiz: nachträge

nachtrag eins: zum thema "justizvollzug" im jugendknast empfehle ich diese bildergalerie der zeit - besonders die betrachtung der bilder 13 und 14. ebenfalls diese reportage.

*

und zweitens (nicht nur) zum thema amok: mit dem untertitel Über Emsdetten, Dschungel-Soldaten und das Wesen der Pädagogik beginnt ein artikel im freitag, der in einige interessante richtungen schweift:

(...)"In Deutschland sollte es grundsätzlich misstrauisch stimmen, wenn gegen das ruchlose, blutrünstige, monströse Bild zu Felde gezogen wird. Der Nationalsozialismus hat bekanntermaßen ein regelrechtes Bilderverbot gegen Darstellungen des Abgründigen und Ekelhaften verhängt. Der Bereitschaft seiner Bürger, zu foltern und zu töten, tat das keinen Abbruch. Es war im Gegenteil sogar so, dass die Fähigkeit zur Gewaltausübung mit einer Ästhetik des Reinen, "Schönen" und Eindeutigen verschränkt war.

Insofern sind Bilderkonsum und Gewalt, Videospiele und bewaffnete Amokläufe eben nicht in der Form miteinander verbunden, wie Jugendsoziologen, Journalisten und Küchenpsychologie dieser Tage behaupten. Interessanter wäre es, sich das anzuschauen, worüber nicht gesprochen wird, weil es als völlig normal erscheint. Ein Dokumentarfilm über einen sich bei einem Consulting-Unternehmen bewerbenden BWL-Diplomanden, der in der vergangenen Woche parallel zu mehreren "Die-Jugend-muss-gerettet-werden"-Talkshows gezeigt wurde, könnte als Beispiel dafür dienen.

Der Film war unaufgeregt erzählt, die Äußerungen der Protagonisten blieben unkommentiert. Ein Studiumsabsolvent saß mit den Eltern in einem Familienwohnzimmer und sprach von den Anforderungen des Arbeitsmarkts. Der Vater stellte - durchaus ein gewisses Bedauern erkennen lassend - fest, dass sich die Situation in den Unternehmen verändert habe. Die Konkurrenz sei größer geworden, auch zwischen den Mitarbeitern, und sein Sohn, Mitte 20, fügte hinzu, dass man nun härter angreifen müsse. In einem weiteren Interview äußerte ein anderer Vater, die Ehefrau signalisierte nickend Zustimmung, dass das ganze Leben ein Kampf sei - was er für nichts Schlechtes halte. Genau das wolle doch die menschliche Natur, das stete Ringen mit sich und den anderen. Der BWL-Diplomand ergänzte, offensichtlich unmittelbar nach dem Bewerbungsgespräch, dass er sich - falls ihn die Arbeit überfordern sollte - fragen müsse, ob er an dieser Stelle richtig sei. Eine andere Bewerberin - potenzielle Teamkollegin und Konkurrentin - zeigte sich zunächst im Wellness-Bereich eines Hotels. Mit ein paar Bahnen im Schwimmbecken bereitete sie ihren Körper auf die Belastungen des bevorstehenden Arbeitstages vor. Im Hotelzimmer wenig später erklärte die junge Frau, sie habe es immer schon geliebt, wenn etwas los sei. Genau das schätze sie an ihrem - potenziellen - Arbeitgeber. Hier werde man nie in Ruhe gelassen, täglich vor neue Aufgaben gestellt, habe ständig etwas zu erledigen. Es klang, als werde - nach erfolgreich vollzogener Gehirnwäsche - ein Körper-Seele-Paket zum Verkauf feilgeboten.

Diese Bemerkungen sind deswegen so bemerkenswert, weil sie deutlich machen, was sich in den letzten Jahren im Alltagsverstand durchgesetzt hat: Die Gesellschaft gilt als Kampfzusammenhang und das Individuum als konkurrenzbereites Subjekt, das sich in einem lebenslangen Wettbewerb zu behaupten hat, sich geistig und körperlich permanent fit machen muss, ja mehr noch: sich fit machen will."(...)


der angeblich "ständige kampf" ist zwar eine mögliche wahrnehmungsposition - aber eine, die erst aufgrund ständiger gewaltpräsenz in so ziemlich allen sozialen bezügen mitsamt ihren potenziell traumatischen folgen zur dominanten position werden kann (um in der folge, sozusagen in weiterführung ihrer gewalttätigen entstehungsgeschichte, sich dann auch prompt als anthropologische konstante - "menschliche natur"- auszugeben und versucht, sich mittels dieser behauptung durchzusetzen. an diese defekte, weil traumainduzierte, wahrnehmung und die daraus entstehende realität als einzig mögliche zu glauben, ist letztlich jedoch (selbst-)mörderisch.)

*

ps: zur zeit sind hier und auch woanders ein paar diskussionen offen - archenoe, wildwuchs und netbitch, ich werde versuchen, das so nach und nach abzuarbeiten.
wildwuchs - 7. Dez, 12:17

orange alert......

der freitag-artikel ist gut, geht aber nicht weit genug.

ich erlebe jeden tag jugendliche, wohlgemerkt solche, die wenn sie eine kaufmännische lehre mit erfolg absolvieren, sich schon zu den glücklicheren zählen. viele haben keinen hauptschulabschluss oder extreme schwierigkeiten in der schule, versuchen über eqj-massnahmen den einstieg in ein von papa und mama unabhängiges eigenes und gesellschaftlich angeseheneres leben zu schaffen. manche haben glück und finden einen ausbildungsplatz, andere zermürbt ein praktikum nach dem anderen. gar mancher bleibt auf der strecke - und hartzIV mit 20 ist wirklich keine perspektive, ist ja schon für 'ausgereifte erwachsene' ein kaum zu bewältigender alptraum. klar, für jemanden in afrika, wäre selbst hartzIV ein traumhaftes leben - aber wir orientieren uns als menschen an bedingungen, die uns direkt umgeben.

aber hier ist arbeit nun mal der einzig wirklich stabilisierende faktor: erst, wer arbeit hat, gehört wirklich dazu. alles andere greift nicht (mit verlaub gesagt, ich finde das, bei einer arbeitslosenrate von 4.mio. verantwortungslos!) als freizeitbeschäftigungen sind computerspielen, saufen, kiffen, in discos abhängen, vereinzelt sport (in irgendeinem verein ist allerdings kein einziger), das basteln an autos, motorrädern, mofas und fahrrädern und das abhängen an der tanke und auf der strasse aktuell. das rauchen mit elf und zwölf jahren ist keine seltenheit.

sind diese jugendlichen, wenn man sich dem einzelnen zuwendet, falls er mal alleine auftaucht, eher scheu, schüchtern und verschlossen, manchmal geradezu abweisend, kann man sich mit anderen manchmal ganz 'gut' auch über persönlicheres unterhalten. wenn sie alleine sind, öffnen sie sich nach 'ner weile jedenfalls eher als wenn sie in der gruppe sind. dann erzählt der einzelne schon auch mal, wie 'die welt' aus seinem blickwinkel heraus aussieht, was er wahrnimmt, was ihn wirklich beschäftigt und wiederholen sich solche gespräche, auch schon mal, was nicht so gut läuft. kaum gesellt sich ein anderer männlicher jugendlicher dazu, verändert sich die situation extrem (zu weiblichen jugendlichen gibt es ein 'anderes' verhältnis. da aber weibliche jugendliche in dieser jungmännerdominierten clique unterrepräsentiert sind, gehe ich darauf jetzt nicht besonders ein. übrigens stelle ich immer wieder im vergleich zu meinem kollegen fest, dass ich einen anderen blickwinkel auf dieses verhältnis habe und mach das daran fest, dass er halt 'mann' und männlich geprägt und ich als frau weiblich geprägt bin).
es ist, als würde man eine eintrittskarte aus einem 'coolness-automaten' ziehen: permanent blöde anmachen untereinander, übergrifflichkeiten, foppereien, sexistische sprüche, auf den boden spucken .... ein gehabe von sich messen und konkurrenz 'wer ist der lauteste, der grösste und schönste', der schwächere wird traktiert, es wird sich gegenseitig ausgetrickst und sich reingeritten. statt sich gegenseitig positiv zu stützen, stabilisieren sie in der gruppe gegenseitig ihre abgründe. übergriffe auf 'nicht konforme', aussenseiter, mädchen, die nicht 'verwertbar', zur gruppe oder einzelnen auf distanz gehen oder schon ein- oder mehrmals 'verwertet' worden sind, bekommen kein bein auf den boden. wer sich der 'herrschaft der gruppe' nicht fügt, wird von ihr getriezt und geächtet und bleibt damit weg. das gilt für mädchen, ebenso jüngere und schwächere.
was zählt ist die macht des körperlich stärkeren. der stärkere geniesst ansehen. z.b. hat mein kollege eindeutig mehr autorität als ich. was weiterhin zählt ist ein motorisiertes gefährt: autos mit viel ps stehen in der rangordnung ganz oben - mofas sind das mindeste, aber nur bis zu einem bestimmten alter zulässig, fahrräder sind das letzte und zu fuss gehen nur idioten. klamotten sind wichtig! das ist zwar nichts neues, aber immer noch bitter für denjenigen, der sich nicht mal locker ne in-jacke für 160 euro kaufen kann.... . hab ich mich vor jahren noch darüber erschreckt, in welchem 'zustand' kinder heutzutage sind, versuche ich jetzt, diesen jugendlichen jungmännern standzuhalten. .....

mein fazit:

es WÄRE aller- allerhöchste zeit. unsere gesellschaft, unsere kinder und jugendlichen bräuchten orientierungsmuster, die nicht nur auf dem faktor erwerbsarbeit aufbauen. DER MENSCH WIRD NICHT NUR ODER ERST DURCH ERWERBSARBEIT ZUM MENSCHEN (für die 'ZURICHTUNG' zur und durch arbeit in unserer globalisierten welt gibt es nur ein wort: LEBENSZERSTÖREND, MENSCHEN- und ÖKOLOGIEFEINDLICH!!!!!).


FREIZEITPÄDAGOGIK oder wie man die vermittlung, stärkung und schaffung 'lebenserhaltender und lebensliebender verhaltensmuster' auch immer nennen will (dazu zähle ich soziales lernen, verbraucheraufklärung und konsumerziehung, ökologisches lernen, gesundheitsbewusstsein, hand-arbeit/ werken, ernährung und kochen, kunst, musik, sport und medienerziehung....) müsste viel stärker schon in der schule und natürlich auch im freizeitbereich verankert werden. kinder- und jugendliche brauchen für ihre entwicklung auch im freizeitbereich, über die familie hinaus, eine kontinuierliche auseinandersetzung mit erwachsenen bezugspersonen und gleichaltrige, mit denen sie sich treffen, austauschen und gemeinsamen aktivitäten nachgehen können. dazu bedürfte es allerdings der strukturveränderung. mit frontalunterricht und mit klassenstärken von 30 schülern und schülerinnen lassen sich solche inhalte nicht vermitteln. auch dürfte nicht nur vorrangig das leistungsprinzip und die vermittlung von für die vorbereitung für arbeit vermittelten schlüsselqualifikationen an oberster stelle stehen sondern vielleicht sollten auch mal solche faktoren 'ne rolle spielen, was der einzelne will, wozu er lust hat, was ihm liegt und was ihm oder ihr spass macht. die förderung einer positiven gruppenfähigkeit müsste bereits im kindergarten geschehen.
statt zu jammern, dass es immer weniger kinder gibt, könnten wir ja mal anfangen, die kinder, die bereits auf der welt sind bestmöglichst fördern und die chance nutzen kindergartengruppen auch mit 12 kindern sinnvoll zu finden: 25 kinder in einer gruppe sind eh der horror! wo bleibt da raum und zeit für das einzelwesen mit seiner ganzen individualität.
usw. usw. usw. mir würde noch vieles einfallen.

fakt ist, kinder sind lernfähiger als jugendliche und bei erwachsenen, die oft einfach nur noch funktionierende 'maschinen' mit betonköpfen und 'betonherzen' sind, ist eh alles zu spät.

leider sehe ich, bei aller dringlichkeit und auch wenn ich mich weiterhin leidenschaftlich dafür einsetzen werde, wenig chancen für eine 'gesamtgesellschaftliche' veränderung in eine oben beschriebene richtung. was ich für machbar und dringend notwendig halte, sind kleine veränderungen dort, wo erwachsene mit verstand, gefühl und einsicht in ihren unmittelbaren lebens- und arbeitszusammenhängen zusammenwirken, sich gegenseitig ermuntern, stärken und verantwortungstragende in politik und anderen öffentlichen bereichen fordern. realistischerweise dürfte sich die zahl derjenigen auf ca. 5 - maximalst 15 prozent erstrecken........

und auch, wenn mir beim genauen hingucken, wie vorhin beim lesen des artikels - trotz wissen harte kost auf leeren magen, der appetit erstmal vergeht, möchte ich mich trotzdem für deinen beitrag bedanken.

mit solidarischen grüssen

wildwuchs

archenoe (Gast) - 8. Dez, 22:14

Das Fremde, das Ding, die Ware

Deiner Darstellung stimme ich zu. Sehr eindringlich ist deine Beschreibung der coolness in "Jungengruppen". Ich kann das bestätigen. 16-20jährige Jungen an dem Gymnasium, an dem ich unterrichte, verhalten sich in abgeschwächter, teils auch "raffinierterer" Form sehr ähnlich, sobald sie sich in der Gruppe befinden.

Selbstverständlich wird "der Mensch" nicht erst durch (Lohn-)Erwerbsarbeit zum Menschen. Im Gegenteil, in ihr wird er sich selbst fremd, zum Ding, ist Ware. Schule bereitet ihn auf diesen psychischen Tod vor. Wir wissen gar nicht, was ein Mensch ist bzw. sein kann, wir kennen ihn mit wenigen Ausnahmen nur als Ding, als Ware. Die Volkswirtschaftslehre benennt uns so: Wirtschaftssubjekt, Humankapital, Nichtbank. Wir sind nur Subjekt in der Wirtschaft, also Objekt, nur Mensch als verwertbares Kapital, also Nichtmensch. Wir werden von Banken erkannt als nicht ihresgleichen.

Der Widerspruch, in dem Jugendliche heute leben, ist der: Sie sollen sich zum verwertbaren Objekt mit Hilfe der Institution Schule selbst modellieren, ohne zu wissen, ob diese Selbstmodellierung auch tatsächlich zur Verwertbarkeit führt, weil die erfolgreiche Verwertung als Ding/Ware nur zu einem Teil vom erreichten "persönlichen" Gebrauchswert abhängt. Sind keine Tauschwerte mit diesen Gebrauchswerten zu erzielen, werden sie nicht verwertet. Dieser Verwertungsmangel heißt Arbeitslosigkeit. Die Alternative ist also höllenhaft. Entweder gelingt es, zum verwertbaren Ding, zur anwendbaren Ware zu werden oder es gelingt nicht einmal das. Entweder ist man Ding und Ware oder man ist nichts. Das Nichts ist schlimmer als die Verdinglichung.

Dagegen die Freizeitpädagogik?

Sag' selbst!?

Grüße, herzliche
archenoe
wildwuchs - 9. Dez, 13:45

ein tropfen auf den heissen stein, gewiss. aber, wenn ich von meiner eigenen entwicklung ausgehe, wage ich zu behaupten, dass ich weiss, wie wichtig einzelne kleine momente einer 'anerkennung des eigenen', der ausdruck von wertschätzung und die unterstützung auf einer ganz mitfühlenden menschlichen ebene, durch einen anderen menschen sein können. hätte ich diese wertschätzung und unterstützung z.b. im zarten alter von 10-12 jahren nicht durch einen lehrer (kunst) und eine lehrerin (deutsch) bekommen, dann wäre ich wohl dem, was du vielleich als 'nichts' bezeichnest, sehr nahe gekommen und auch, wenn ich glaube, dass ich mich gegen diese 'kategorisierung als NICHTS' verwehrt und gewehrt hätte, wäre mein leben wohl nicht so erfüllt gewesen, wie es das heute ist. aber ich habe glück gehabt, von diesen beiden menschen etwas bekommen zu haben, was mir mein zuhause damals nicht geben konnte.
zur wahrnehmung des 'eigenseins' gehört es, m.e. weder gebildet zu sein, noch arbeit zu haben. denn, solange ein mensch lebt, ist er niemals 'nichts'. der mensch ist 'an sich'. wird dieses 'an sich-sein' irgendjemandem immer und immer wieder abgesprochen, findet er keinen 'zuspruch' von aussen mehr, tötet man ihn - und dieser tod hat viele facetten.

allerdings braucht es, um sich selbst dauerhaft als mensch innerhalb des gesellschaftlichen seins wahrzunehmen, wissen, bildung und anerkennung.

mein plädoyer und persönliches engagement geht dahin, kindern und jugendlichen brücken für andere orientierungsmuster zu bauen, denn warum sollten sie sich einem 'gesellschaftlich bestehenden zwang' unterwerfen, wenn sie sich den zuspruch auch über andere fähigkeiten holen können. zwischen dem ding und der ware und dem nichts lebt ein mensch, dem du mit deiner analyse, so richtig sie theoretisch sein mag, per se praktisch schon den totenschein ausstellst. und ich hab nicht geschrieben, dass freizeitpädagogik das einzig allein seligmachende wäre.

ich schrieb:was ich für machbar und dringend notwendig halte, sind kleine veränderungen dort, wo erwachsene mit verstand, gefühl und einsicht in ihren unmittelbaren lebens- und arbeitszusammenhängen zusammenwirken, sich gegenseitig ermuntern, stärken und verantwortungstragende in politik und anderen öffentlichen bereichen fordern.

das impliziert für mich die 'möglichkeit' und damit die hoffnung, dass sich einzelne personen in ganz unterschiedlichen bereichen, dafür einsetzen, dass menschen nicht 'absterben', bzw. in der entfaltung ihrer 'lebendigkeit' unterstützt werden. und da ich persönlich meine brötchen in der ausserschulischen jugendarbeit verdiene, habe ich aus dieser perspektive heraus die freizeitpädagogik als einen möglichen bereich benannt. dort kann zumindest auch die hohe wertigkeit, die dem 'faktor arbeit' als 'fremdbestimmte tätigkeit' als gesellschaftsbestimmendes moment verliehen wird, durch aufwertung 'eigenbestimmter tätigkeiten' in frage gestellt, kontrastiert oder ergänzt werden.
wir leben in einer arbeitsgesellschaft und das wird sich auch nicht so schnell ändern, auch wenn dieser gesellschaft zunehmend 'die arbeit ausgeht, v.a.d. die arbeit, mit der profit' gemacht werden kann - im dienstleistungsbereich gäbe es genug zu tun (hab letztens erst wieder eine reportage zum pflegenotstand in alten- und pflegeheimen gesehen. und dieser pflegenotstand existiert nicht deshalb, weil die arbeit niemand machen will, sondern weil die träger entweder profitgeil sind oder sich strukturveränderungen verweigern).

PAULO FREIRE definiert unterdrückerische verhältnisse als antidialogisch, domestizierend und gewalttätig. die angewandte gewalt der unterdrücker muss nicht nur physischer natur sein. die formen der gewalt durch manipulation und mythologisierung sind weitaus diffiziler, da sie den menschen domestizieren. so internalisieren die unterdrückten nach gewisser zeit die meinung, die die unterdrücker von ihnen haben. Freire: “Sie hören so oft, daß sie zu nichts nutze sind, nichts wissen und unfähig sind, etwas zu lernen - daß sie krank sind, faul und unproduktiv -, so daß sie schließlich von ihrer eigenen Unfähigkeit überzeugt werden.” man redet ihnen ein, dass die wirklichkeit statisch und voraussagbar wäre, um sie passiv und in dem glauben zu halten, dass sie die welt nicht verändern können. Freire: “Unter dem Einfluß von Magie und Mythos sehen die Unterdrückten (...) ihr Leiden - Folge der Ausbeutung - als Willen Gottes - als ob Gott der Schöpfer dieser 'organisierten Unordnung' wäre.” aber gott ist tot und von menschen organisierte unordnung ist veränderbar!




wodurch hältst du veränderungen für möglich?
wie und wo wirkst du mit deinem verstand, deinem gefühl und deiner einsicht in deinen unmittelbaren lebens- und arbeitszusammenhängen an veränderungen mit?


liebe grüsse zurück
kandinsky (Gast) - 10. Dez, 18:44

Mit Blick auf´s Detail

Hallo :)

Zitat:
"Selbstverständlich wird "der Mensch" nicht erst durch (Lohn-)Erwerbsarbeit zum Menschen. Im Gegenteil, in ihr wird er sich selbst fremd, zum Ding, ist Ware. Schule bereitet ihn auf diesen psychischen Tod vor. Wir wissen gar nicht, was ein Mensch ist bzw. sein kann, wir kennen ihn mit wenigen Ausnahmen nur als Ding, als Ware. Die Volkswirtschaftslehre benennt uns so: Wirtschaftssubjekt, Humankapital, Nichtbank. Wir sind nur Subjekt in der Wirtschaft, also Objekt, nur Mensch als verwertbares Kapital, also Nichtmensch. Wir werden von Banken erkannt als nicht ihresgleichen.

Der Widerspruch, in dem Jugendliche heute leben, ist der: Sie sollen sich zum verwertbaren Objekt mit Hilfe der Institution Schule selbst modellieren, ohne zu wissen, ob diese Selbstmodellierung auch tatsächlich zur Verwertbarkeit führt, weil die erfolgreiche Verwertung als Ding/Ware nur zu einem Teil vom erreichten "persönlichen" Gebrauchswert abhängt. Sind keine Tauschwerte mit diesen Gebrauchswerten zu erzielen, werden sie nicht verwertet. Dieser Verwertungsmangel heißt Arbeitslosigkeit. Die Alternative ist also höllenhaft. Entweder gelingt es, zum verwertbaren Ding, zur anwendbaren Ware zu werden oder es gelingt nicht einmal das. Entweder ist man Ding und Ware oder man ist nichts. Das Nichts ist schlimmer als die Verdinglichung."

Den letzten Satz würde ich gern abwandeln in: Das Nichts scheint schlimmer als die Verdinglichung.
Das Nichts gibt zumindest noch ein wenig Spielraum, während in der Verdinglichung nichts mehr möglich ist und scheint.
Vor langer Zeit gabe es bei Saar-Echo einen Artikel, der ein wenig ins Detail geht, und beschreibt, wie es mit dem Nichts bestellt ist. Ich poste das mal hier, das es sich hier um zusammengesuchte Texte von Erich Fromm handelt:

"”Immer wenn eine (durch Privilegierte unterdrückte) Klasse um ihre eigene Befreiung kämpfte, so tat sie dies im Glauben, für die menschliche Freiheit als solche zu kämpfen, so dass sie an ein Ideal, an die Sehnsucht nach Freiheit bei allen Unterdrückten appellieren konnte. In diesem langen und praktisch immer noch fortwährenden Kampf um die Freiheit liefen jedoch Klassen, die gegen die Unterdrückung gekämpft hatten, in einem gewissen Stadium zu den Feinden der Freiheit über, nämlich dann, wenn der Sieg errungen war und es galt, neue Privilegien zu verteidigen. Die Abschaffung der äußeren Botmäßigkeit schien die notwendige, aber auch hinreichende Vorbedingung für die Erreichung des ersehnten Ziels zu sein: der Freiheit des Individuums” (Erich Fromm).

Die heutigen Demokratien der meisten westlichen Länder und die davon hervorgebrachten Regierungen verleugnen und untergraben all jenes, was die Menschen in jahrhundertelangen Kämpfen errungen zu haben glaubten. Das Wesen dieser Systeme, die sich des gesamten gesellschaftlichen und persönlichen Lebens der Bevölkerung schrittweise bemächtigen, ist die Unterwerfung aller unter die Autorität einer Handvoll von Menschen, gegen die sie machtlos sind.

Es ist schon sehr erstaunlich, dass Millionen ebenso bereitwillig ihre Freiheit aufgeben, wie ihre Väter und Vorväter verbissen für diese gekämpft hatten. Zusätzlich sind viele Millionen gegenüber der Freiheit gleichgültig eingestellt und glauben nicht dass Freiheit etwas sei, wofür sich die mannigfaltigen persönlichen Risiken eines Kampfes lohne.

Doch die Freiheit ist durch Gleichgültigkeit nicht weniger gefährdet als durch ihre direkten Feinde, ob sie nun untergraben wird im Namen des wirtschaftlichen Wohlergehens, Sicherheit gegen Terrorismus, oder sonstige übergeordnete ”Schutzfunktionen”, zum Beispiel gegenüber Milzbrand, Pocken, Vogelgrippe und anderes. Die gezielte Verängstigung der Bürger soll dazu führen, dass viele - ihre persönliche Ohnmacht und Unbedeutendheit fühlend - sich sicherheit- und schutzsuchend der Obrigkeit unterordnen und jeden Preis dafür bezahlen. Und dies funktioniert meistens wie geplant.

Die grundlegende Bedingung für diese Persönlichkeitsentwicklung stellt zwangsläufig die derzeitige ökonomisch orientierte Struktur der westlichen Gesellschaften dar.

Die fehlende innere Beziehung zu Werten wie Freiheit, Moral, Anstand, Nächstenliebe und so weiter oder wenigstens mit den gesellschaftlichen Verhaltensmustern wie Geld, Anerkennung, Macht, nutze deinen Nächsten für dich selbst usw. verbunden zu sein, die dem Menschen das Gefühl der Gemeinsamkeit geben, das Gefühl ”dazu zu gehören” führt zur ”seelischen Vereinsamung”. Sie ist ebenso unerträglich wie ”körperliche Vereinsamung”. Vollkommen unerträglich ist die Kombination beider Faktoren.

Grund für dieses Verhalten der Menschen ist nicht nur der gebieterische Überlebensinstinkt, sondern auch die in einem Rudeltier - nichts anderes sind wir - tief sitzende Angst vor Isolation und Einsamkeit.

Ist man erst zu einem Individuum geworden, so ist man allein und steht der Welt mit allen ihren gefährlichen und überwältigenden Aspekten einsam gegenüber. Es kommen starke Impulse auf, die eigene Individualität aufzugeben und vollständig in der Außenwelt aufzugehen, um das Gefühl der Ohnmacht und Einsamkeit dadurch zu überwinden.

Es gibt also neben dem angeborenen Wunsch nach Freiheit auch mangels ”höherer Werte” ebenso eine tierhaft instinktive Neigung, sich durch Unterwerfung ins Rudel (Gesellschaft) zu integrieren.

In der Mitte des Rudels ist es am sichersten gegen die Gefahren von außen. Und eine Abdrängung zum Rand des Rudels ist unter allen Umständen und mit jedem Mittel zu vermeiden. Würde dies doch nicht nur den sozialen Abstieg allein bedeuten, sondern direkte Angreifbarkeit gegen jedwede Gefahr in vorderster Front. Zudem bekommt man nur die Fraßreste die das Zentrumsrudel verschmäht. Man ist isoliert und hat ständig Stress mit den anderen Mitgliedern der Randgruppe um die Brosamen des Rudels. Man hat nichts mehr zu melden, gegenüber niemandem. Man ist entmachtet, entmündigt, seiner Würde beraubt, und die Existenz steht täglich auf Messers Schneide. Aber lieber noch am Rand des Rudels als ganz allein. Egal wohin die Leittiere das Rudel führen, man wird mitgehen, verzweifelt das Restchen vermuteter Existenzsicherheit festhaltend. (siehe auch Elias Canetti ”Masse und Macht”)

Aber die Unterwerfung ist nicht der einzige Weg, der Einsamkeit und der Angst zu entfliehen. Der andere Weg - der einzige, der produktiv ist und nicht mit einem unlösbaren Konflikt endet - besteht darin, mit seinen Mitmenschen und der Natur spontan in Beziehung zu treten, welche den einzelnen mit der Welt verbindet, ohne seine Individualität auszulöschen. Diese Beziehung äußert sich in ihrer besten Form durch Liebe und produktive Arbeit als Ausdruck der Integrität und Stärke der Gesamtpersönlichkeit. Wenn jeder Schritt, der zur Loslösung und zur Individualisierung des Menschen Hand in Hand ginge mit einem entsprechenden Wachstum der Persönlichkeit, würde dies zu einer harmonischen Entwicklung des Menschen führen. Doch dies ist leider nicht der Fall.

Wenn jedoch die wirtschaftlichen und politischen Bedingungen von denen der gesamte Prozess der menschlichen Individualisierung abhängt, keine echte Grundlage für die Verwirklichung des ”gefühlten” Selbst im oben beschriebenen Sinn ermöglicht und die Menschen ebenfalls die Bindungen an ”höhere Werte” verloren haben, dann macht dieser leere Raum die Freiheit zu einer unerträglichen Last. Sie wird dann gleichbedeutend mit Zweifel, mit einem Leben ohne Sinn und Richtung. Es entstehen dann machtvolle Tendenzen, vor dieser Art von Freiheit in die Unterwerfung zu fliehen, die eine Milderung der Unsicherheit verspricht, selbst wenn sie den Menschen seiner Freiheit beraubt.

Bewusst mag sich ein Mensch, der sich den Rudelregeln der Gesellschaft unterworfen hat, sicher und zufrieden fühlen, aber unbewusst merkt er, dass er dies mit dem Preis seiner Stärke und der Integrität seines Selbst bezahlen muss. Es entsteht ein zunehmender innerer Konflikt, der immer mehr Spannung erreicht. So hat die Unterwerfung langfristig genau das Gegenteil dessen zur Folge, was damit beabsichtigt war: Sie vergrößert die Unsicherheit des Menschen und erzeugt gleichzeitig Feindseligkeit und Aufbegehren gegen die Personen und Institutionen, von denen der Mensch auch weiterhin abhängig ist.

Die Konsequenz ist: Der mitmenschliche Umgangston wird rauer bis rüde, Politikverdrossenheit wandelt sich zu Zorn auf die Politik. Die Politikerkaste merkt dies und fängt an, sich einzuigeln, indem sie polizeistaatliche Strukturen, weitgreifende Überwachungssysteme einführt, um zusätzliches Drohpotential gegenüber den eigenen Bürgern aufzubauen, um den Tag des ”schwarzen Falken” möglichst lange hinauszuzögern.

Aber er wird kommen dieser Tag. Und nicht nur bei uns. Dies wissen die Herrschenden genau, und deshalb wägen sie ab, ob sie diesen nicht selbst herbeiführen, präzise und von ihnen kontrolliert. Vieles deutet darauf hin. Wer wird schneller sein?"

Woanders hat jemand aus der "Matrix"(Film) folgendes zitiert:
"Wie sagte doch “Morpheus” zu “Neo” so trefflich im Film Matrix:


“Die Matrix ist allgegenwärtig. Sie umgibt uns - selbst hier, in diesem Zimmer. Du siehst sie, wenn du aus dem Fenster guckst oder wenn du den Fernseher anmachst. Du kannst sie spüren, wenn du zur Arbeit gehst, oder in die Kirche. Und wenn du Deine Steuern zahlst. Es ist eine Scheinwelt, die man dir vorgaukelt, um Dich von der Wahrheit abzulenken.”

Und auf die Rückfrage “Welche Wahrheit?” dann weiter: “Daß du ein Sklave bist, Neo! Du wurdest wie alle in die Sklaverei geboren, und lebst in einem Gefängnis, das Du weder anfassen noch riechen kannst. Ein Gefängnis für deinen Verstand. ... Dummerweise ist es schwer, jemandem zu erklären, was die Matrix ist. ... Jeder muß sie selbst erleben.”

Den ganzen Artikel "Erfurt und Emsdetten, Amok und Angst, Fakten und Folgen, Politterror und Psychokriegsführung" hier:
http://ralph-kutza.de/Amoklaufe_/amoklaufe_.html


An den Rand gedrängt zu werden, in die Nähe des Nichts zu kommen, beinhaltet zumindestens noch den Hauch einer Chance zu sich selbst zu finden. Außerdem hat man am Rand den besseren Überblick zur Mitte.
Fragt sich an dieser Stelle natürlich auch, wie man Angst und Einsamkeit bereit ist zu ertragen. Junge Menschen können hier ja reflektieren wie sie wollen, zu richtigeren und vernünftigen Ergebnissen wird es kaum reichen, da Lebenserfahrung und Können fehlt. Und genau hier wären die Pädagogen gefragt. Pädagogen mit Lebenserfahrung und kluger Anleitung. Das Motto wäre so einfach wie schwierig:
"Wie entziehe ich mich dem Zeitgeist?"

Würde gern noch mehr dazu schreiben, aber meine Erkältung zwingt mich zurück ins Bett....

Gruß,
Kandinsky

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