notiz: von dissoziierter öffentlicher wahrnehmung, der rebellion der langschläferInnen und guerilla gardening

immer wieder finden sich eindrucksvolle mediale beispiele für fragmentierte bzw. fragmentierende wahrnehmung, die sich auch als typischer ausdruck dissoziativer zustände begreifen lässt. und das betrifft jeweils mehr oder weniger sowohl die produzenten als auch die konsumenten von nachrichten wie den folgenden - beispiel eins:

(...)"NRW-Ministerpräsident Rüttgers will härter gegen kriminelle Kinder vorgehen. Wenn nichts mehr hilft, sollen auch unter 14-Jährige in geschlossenen Heimen landen.

"Gegen die zunehmende Gewalt unter Jugendlichen müssen wir härter durchgreifen - nach der Maßgabe: null Toleranz", schrieb der nordrhein-westfälische Ministerpräsident und stellvertretende CDU-Vize Jürgen Rüttgers in einem Gastbeitrag für die "Bild am Sonntag". Dies gelte auch für Wiederholungstäter, die noch nicht strafmündig seien.

"Wenn Weisungen und alle Erziehungshilfen nicht mehr wirken, ist als letztes Mittel eine Unterbringung in geschlossenen Einrichtungen erforderlich", schrieb Rüttgers. Nach seinen Vorstellungen soll das auch bei Kindern unter 14 Jahren in ganz Deutschland möglich sein.(...)

Nach Plänen des Bundesjustizministeriums sollen jugendliche Schwerstkriminelle in Zukunft wie Erwachsene mit Hilfe der Sicherungsverwahrung lebenslänglich eingesperrt werden können. Bislang dürfen sie maximal zehn Jahre eingesperrt werden."(...)


populistisches gerede eines durchschnittlichen angehörigen der selbsterklärten "eliten", die sich - siehe dazu auch den letzten und viele andere beiträge hier - mit den destruktiven folgen ihrer selbstproduzierten und durchgeführten "politik" zunehmend nur noch mittels offen gewalttätiger (re-)aktionen auseinandersetzen können und wollen. was das für konsequenzen hat, ist heute durchaus bekannt, wird aber weitgehend nicht wahrgenommen - wir kommen - im gleichen medium - zum beispiel zwei:

(...)"Stress kann einem nicht nur auf Herz und Magen, sondern auch auf den Kopf schlagen. Der Konstanzer Psychologie-Professor Thomas Elbert erforscht, wie sich unter sozialem Druck das Gehirn verändert. Die erschreckende Erkenntnis: Stress lässt das Hirn schrumpfen.(...)

"In gewissen Hirnbereichen schrumpft die Struktur und die Verästelungen werden weniger", sagt Elbert, Mitglied einer Forschergruppe der Deutschen Forschungsgemeinschaft zum Thema Stress.(...)

"Ein wenig Stress ist gut, dann verästeln und vernetzen sich die Gehirnzellen besser." Bei Dauerstress oder extremen, traumatischen Ereignissen aber schlägt dies ins Gegenteil um. Zum Beispiel bei einem Professor, der ständig hin und hergerissen wird. "Am Anfang wirkt er nur zerstreut, am Ende reagiert er aus individueller Angst heraus", beschreibt Elbert.(...)

Ist das Hirn unter beständigem Beschuss von Stresshormonen, verändert es sich. Jener Teil des Hirns, der für Gedächtnisleistung zuständig ist, nimmt ab. Besser vernetzt werden jene Bereiche, die Furcht und Angst erzeugen, etwa die Kerne der Amygdala, und den Körper so in Alarmstimmung halten.(...)


die beschränkung des artikels auf den bereich "stress im job" ist dabei genauso wenig zulässig wie die dargestellten erkenntnisse grundsätzlich neu sind - aus der psychotraumatologie ist derlei wissen bereits seit einigen jahren gesichert.

die psychophysische struktur des menschen ist auf prä-, peri- und eben auch postnatalen stress nur bis zu einer individuell unterschiedlichen grenze ausgelegt - alles, was an stressenden einflüssen darüber auf uns einwirkt, lässt bestimmte prozesse soweit aus dem gleichgewicht geraten, dass tiefgreifende schäden extrem wahrscheinlich werden.

was das nun mit dem ersten beispiel oben zu tun hat? die "zielgruppe" von maßnahmen wie dem ein- und wegsperren ist mit hoher wahrscheinlichkeit auch durch (sozialen) stress gleich welcher art - die möglichkeiten sind leider vielfältig - überhaupt erst zur zielgruppe geworden. und der populistische vorschlag zur "lösung" besteht nun darin, dass staatlicherseits auf das augenscheinlich eh schon untolerierbare stresslevel bei den betroffenen nochmal was draufgesetzt wird - denn die psychophysischen wirkungen sowohl des bloßen einsperrens als auch innerhalb der totalen (totalitären) institutionen, die diese aufgabe übernehmen, bestehen primär im erzeugen von massivem stress bei denjenigen, die diesen praktiken ausgesetzt werden sollen (für diverse belege dieser these schauen Sie in den index oder recherchieren Sie mit den keywörtern "knast" und "gefängnis" in der bloginternen suche).

fragmentierende wahrnehmung bedeutet also in diesem fall, dass gleichzeitig (gestern waren beide meldungen auf der startseite) mit repressiven und destruktiven "lösungsvorschlägen" für gesellschaftliche probleme wissenschaftliche entwicklungen beschrieben werden, die eben genau diese "lösungsvorschläge" von vorne bis hinten als letztlich problemverschärfend kenntlich machen - ohne das dieser widerspruch auch nur ansatzweise zu stören scheint. wenn er überhaupt wahrgenommen wird, und das scheint das hauptproblem zu sein.

*

es freut mich immer wieder zu sehen, dass dieses blog hier nicht das einzige ist, welches seine leserInnen mit längeren texten traktiert ;-) - aber nicht nur deshalb gibt es nun einen lesetipp: wildwuchs zu themen wie intelligent design und transhumanismus und tatsächlichen wie vorgeblichen konflikten zwischen solchen strömungen.

*

so ein feiertag wie heute bietet ja u.a. sowieso die gelegenheit, mal in ruhe zu lesen - und das gelesene auch auf sich wirken zu lassen. und Sie werden hoffentlich auch einigermaßen ausgeschlafen sein? dann sind Sie bestens vorbereitet auf das folgende:

(...)"Lasst die Tyrannei der A-Zeit enden", heißt es auf der Webseite der B-Gesellschaft. "Warum stehen wir immer noch mit dem ersten Hahnenschrei auf und wenn die erste Kuh das Muhen beginnt, wenn nur noch fünf Prozent der Menschen in der Landwirtschaft und der Fischerei arbeiten?", fragt Vereinsgründerin Camilla Kring ihre Mitbürger.

Die 29-jährige Dänin hat den Kampf gegen die Herrschaft der Frühaufsteher zu ihrer Mission gemacht. Sie arbeitet als "Work-Life-Balance-Beraterin" und gründete im Januar mit 66 anderen Langschläfern die B-Gesellschaft - eine Art Lobbygruppe für B-Menschen. Will sagen: für notorische Langschläfer.

Der Erfolg ist beachtlich. Mehr als 3000 der gerade mal fünf Millionen Dänen haben sich dem Club schon angeschlossen. Große Zeitungen setzen sich in Leitartikeln mit dem B-Phänomen auseinander. Familienministerin Carina Christensen erklärte ihre Sympathie: "Wir leben alle besser, wenn unser Dasein nicht dauernd von einem Wecker fremdbestimmt wird."(...)


ein erstaunlich sympathischer satz aus dem munde einer politikerin - aber ausnahmen bestätigen bekanntlich die regel.

warum ich diese entwicklung hochinteressant finde? lesen Sie zum thema nochmal die geschichte von herr fusi und dem grauen herrn, wo ich zum ende hin geschrieben hatte:

(...) ich finde es durchaus ein gutes zeichen, wenn sich ein bewußtsein und auch ein gefühl dafür entwickelt, dass dem zugriff des objektivistischen und verdinglichenden wahnsinns, der sich - seinen inneren gesetzen folgend - totalitär auf raum und zeit erstreckt, eben auch auf allen betroffenen ebenen stoppschilder entgegengesetzt werden. die eigene zeit wiederzufinden, ist dazu noch etwas, was als aufgabe von jedem und jeder von uns angegangen werden kann - die eigenen - authentischen - rhythmen zu leben, bspw. was den schlaf angeht, kann in den heutigen sozialen umständen durchaus explosive qualitäten entwickeln.(...)

solche entwicklungen wie in dänemark dürfen vielleicht vorsichtig als hoffnungsschimmer betrachtet werden.

*

was ein sehr passendes stichwort auch für das letzte thema von heute darstellt: eine andere welt ist pflanzbar (via morgaine) stellt einen ansatz vor, den ich in vielfältiger hinsicht für spannend halte - stöbern Sie einfach ausführlich auf der seite herum und lassen Sie sich inspirieren.
wildwuchs (Gast) - 17. Apr, 23:48

eine andere welt ist pflanzbar.....

hallo mo,

geschmökert hatte ich zwischendurch sehr wohl auf deiner seite, allein, mir fehlte die zeit zum kommentieren. nun, mittlerweile hat sich das wieder geändert und du hast mir zusätzlich auf die sprünge geholfen. manchmal ist es nötig, sich gegenseitig anzustupsen - danke dafür. ich schwöre, dass ich auch nicht nur wegen der rebellion der langschläferinnen und dem guerilla gardening hier bin .... wobei ich zugeben muss, dass mich der slogan im ersten moment etwas irritiert hat. um so begeisterter habe ich wahrgenommen, welch simple idee sich dahinter verbirgt. ein wahrlich interessanter hoffnungsschimmer, der da als link durch dein blog leuchtet. mir fiel spontan der film 'der ewige gärtner' dazu ein, wahrscheinlich, weil ich ihn erst vor kurzem gesehen habe.

lg

kragenspeck - 13. Mai, 13:27

notorische Langschläfer

mich wundert fast ein bißchen, daß Sie so eine dümmliche, diskriminerende Formulierung so stehen lassen... wir sind SPÄTschläfer. Wir schlafen zu einem späteren Zeitpunkt, nicht länger. Ich arbeite von 15:30 bis 0:00 Uhr, und immer wenn ich reinkomme, grinsen mich die Kollegen dämlich an und fragen na, ausgeschlafen? Erklärungen sind zwecklos, Assoziation bindet stärker als Information, und wo kämen wir denn hin, wenn man sich seine Dummheit einfach so kaputtmachen ließe.

monoma - 13. Mai, 16:11

finden Sie?

ich finde das wort "langschläfer(-in)" eigentlich eine recht neutrale beschreibung - es gibt nun mal aufgrund diverser umstände (u.a. das alter) verschiedene schlafbedürfnisse, und die können von sechs stunden bis hin zu acht oder neun gehen, um mal die verbreiteste spanne (meines wissens nach) zu nennen. kurz- und langschlafen also.

spätschläfer bezeichnet für mich auch etwas anderes, nämlich die schlafgewohnheiten von nachtmenschen. und auch das finde ich erstmal eine reine zustandsbeschreibung.
kragenspeck - 14. Mai, 14:41

Es geht in dem genannt Spon-Artikel audrücklich um *Spätschläfer*, nicht Langschläfer.
Man wird als Spätschläfer meist mit Langschläfern verwechselt, und "notorisch" ist allgemein negativ besetzt, oder? Wer lieber spät aufsteht gilt vielen als arbeitscheuer Schmarotzer, ohne dass es bewußt gemacht und ausgesprochen wird.
monoma - 19. Mai, 21:31

da ist natürlich was dran:

"Wer lieber spät aufsteht gilt vielen als arbeitscheuer Schmarotzer, ohne dass es bewußt gemacht und ausgesprochen wird."

aber nicht nur in diesem fall finde ich ein offensives bekenntnis bzw. eine selbstbewußte vertretung der eigenen bedürfnisse (wozu auch eine erklärung - nicht rechtfertigung - des eigenen verhaltens gehört) besser, als die anpassung an sprachliche vermittelte vorurteile. verständlich, was ich meine?

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