kontext 23: herr fusi und der graue herr oder der objektivistische angriff auf die zeit

"Da war zum Beispiel Herr Fusi, der Friseur. Er war zwar kein berühmter Haarkünstler, aber er war in seiner Straße gut angesehen. Er war nicht arm und nicht reich. Sein Laden, der mitten in der Stadt lag, war klein, und er beschäftigte einen Lehrjungen.
Eines Tages stand Herr Fusi in der Tür seines Ladens und wartete auf Kundschaft. Der Lehrjunge hatte frei, und Herr Fusi war allein. Er sah zu, wie der Regen auf die Straß platschte, es war ein grauer Tag, und auch in Herr Fusis Seele war trübes Wetter.

"Mein Leben geht so dahin", dachte er, "mit Scherengeklapper und Geschwätz und Seifenschaum. Was habe ich eigentlich von meinem Dasein? Und wenn ich einmal tot bin, wird es sein, als hätte es mich ne gegeben."

Es war nun durchaus nicht so, daß Herr Fusi etwas gegen ein Schwätzchen hatte. Er liebte es sogar sehr, den Kunden weitläufig seine Ansichten auseinanderzusetzen und von ihnen zu hören, was sie darüber dachten. Auch gegen Scherengeklapper und Seifenschaum hatte er nichts. Seine Arbeit bereitete ihm ein ausgesprochenes Vergnügen, und er wußte, daß er sie gut machte. Besonders beim Rasieren unter dem Kinn gegen den Strich war ihm so leicht keiner über. Aber es gibt eben manchmal Momente, in denen das alles kein Gewicht hat. Das geht jedem so.

"Mein ganzes Leben ist verfehlt", dachte Herr Fusi. "Wer bin ich schon? Ein kleiner Friseur, das ist nun aus mir geworden. Wenn ich das richtige Leben führen könnte, dann wäre ich ein ganz anderer Mensch!"

Wie dieses richtige Leben allerdings beschaffen sein sollte, war Herrn Fusi nicht klar. Er stellte sich nur irgend etwas Bedeutendes vor, etwas Luxuriöses, etwas, wie man es immer in den Illustrierten sah.

"Aber", dachte er mißmutig, "für so etwas läßt mir meine Arbeit keine Zeit. Denn für das richtige Leben muß man Zeit haben. Man muß frei sein. Ich aber bleibe mein Leben lang ein Gefangener von Scherengeklapper, Geschwätz und Seifenschaum."

In diesem Augenblick fuhr ein feines, aschengraues Auto vor und hielt genau vor Herrn Fusis Friseurgeschäft. Ein grauer Herr stieg aus und betrat den Laden. Er stellte seine bleigraue Aktentasche auf den Tisch vor den Spiegel, hängte seinen runden steifen Hut an den Kleiderhaken, setzte sich auf den Rasierstuhl, nahm sein Notizbüchlein aus der Tasche und begann darin zu blättern, während er an seiner kleinen grauen Zigarre paffte.

Herr Fusi schloß die Ladentür, denn es war ihm, als würde es plötzlich ungewöhnlich kalt in dem kleinen Raum.
"Womit kann ich dienen?" fragte er verwirrt, "Rasieren oder Haare schneiden?" und verwünschte sich im gleichen Augenblick wegen seiner Taktlosigkeit, denn der Herr hatte eine spiegelnde Glatze.

"Keines von beiden", sagte der graue Herr, ohne zu lächeln, mit einer seltsam tonlosen, sozusagen aschengrauen Stimme. "Ich komme von der Zeit-Spar-Kasse. Ich bin Agent Nr. XYQ/384/b. Wir wissen, daß Sie ein Sparkonto bei uns eröffnen wollen."

"Das ist mir neu", erklärte Herr Fusi noch verwirrter. "Offengestanden, ich wußte bisher nicht einmal, daß es ein solches Institut überhaupt gibt."

"Nun, jetzt wissen Sie es", antwortetet der Agent knapp. Er blätterte in seinem Notizbüchlein und fuhr fort: "Sie sind doch Herr Fusi, der Friseur?"

"Ganz recht, der bin ich", versetzte Herr Fusi.

Dann bin ich an der rechten Stelle", meinte der graue Herr und klappte das Büchlein zu. "Sie sind Anwärter bei uns."

"Wie das?" fragte Herr Fusi, noch immer erstaunt.

"Sehen Sie, lieber Herr Fusi", sagte der Agent, "Sie vergeuden Ihr Leben mit Scherengeklapper, Geschwätz und Seifenschaum. Wenn Sie einmal tot sind, wird es sein, als hätte es Sie niemals gegeben. Wenn Sie Zeit hätten, das richtige Leben zu führen, wie Sie das wünschen, dann wären Sie ein ganz anderer Mensch. Alles, was Sie benötigen, ist Zeit. Habe ich recht?"

"Darüber habe ich eben nachgedacht", murmelte Herr Furi und fröstelte, denn trotz der geschlossenen Tür wurde es immer kälter.

"Na, sehen Sie!" erwiderte der graue Herr und zog zufrieden an seiner kleinen Zigarre. "Aber woher nimmt man Zeit? Man muß sie eben ersparen! Sie, Herr Fusi, vergeuden Ihre Zeit auf ganz verantwortungslose Weise. Ich will es Ihnen durch eine kleine Rechnung beweisen. Eine Minute hat sechzig Sekunden. Und eine Stunde hat sechzig Minuten. Können Sie mir folgen?"

"Gewiß", sagte Herr Fusi.

Der Agent Nr. XYQ/384/b begann die Zahlen mit einem grauen Stift auf den Spiegel zu schreiben."(...)


(ich kürze diese rechnereien mal ab, in denen die einzelnen zeiteinheiten bis zu den sekunden zerlegt werden - ich bin gerade zu faul zum tippen - und springe direkt zum ergebnis, welches der graue dem armen herr fusi, über dem sich gerade eine raffinierte falle zu schließen beginnt, jetzt präsentiert - mit der hypothetischen annahme einer siebzigjährigen lebensdauer):

"Und er schrieb diese Zahl groß an den Spiegel:

2 207 520 000 Sekunden

Dann unterstrich er sie mehrmals und erklärte: "Dies also, Herr Fusi, ist das Vermögen, welches Ihnen zur Verfügung steht."

Herr Fusi schluckte und fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Die Summe machte ihn schwindelig. Er hätte nie gedacht, daß er so reich sei.

"Ja", sagte der Agent nickend und zog wieder an seiner kleinen grauen Zigarre, "es ist eine eindrucksvolle Zahl, nicht wahr? Aber nun wollen wir weitersehen. Wie alt sind Sie, Herr Fusi?"

"Zweiundvierzig", stammelte der und fühlte sich plötzlich schuldbewußt, als habe er eine Unterschlagung begangen.

"Wie lange schlafen Sie durchschnittlich pro Nacht?" forschte der graue Herr weiter.

"Acht Stunden etwa", gestand Herr Fusi.

Der Agent rechnete blitzgeschwind. Der Stift kreischte über das Spiegelglas, daß sich Herr Fusi die Haut kräuselte.

"Zweiundvierig Jahre - täglich acht Stunden - das amcht also bereits vierhunderteinundvierzigmillionenfünfhundertundviertausend. Diese Summe dürfen wir wohl mit gutem Recht als verloren betrachten. Wieviel Zeit müssen Sie täglich der Arbeit opfern, Herr Fusi?"

"Auch acht Stunden, so ungefähr", gab Herr Fusi kleinlaut zu.

"Dann müssen wir also noch einmal die gleiche Summe auf das Minuskonto verbuchen", fuhr der Agent unerbittlich fort. "Nun kommt Ihnen aber auch noch eine gewisse Zeit abhanden durch die Notwendigkeit, sich zu ernähren. Wieviel Zeit benötigen Sie insgesamt für alle Mahlzeiten des Tages?"

"Ich weiß nicht genau", meinte Herr Fusi ängstlich, "vielleicht zwei Stunden?"

"Das scheint mir zu wenig", sagte der Agent, "aber nehmen wir es einmal an, dann ergibt es in zweiundvierzig Jahren den Betrag von hundertzehnmillionendreihundertsechsundsiebzigtausend. Fahren wir fort! Sie leben allein mit Ihrer alten Mutter, wie wir wissen. Täglich widmen Sie der alten Frau eine volle Stunde, das heißt, Sie sitzen bei Ihr und sprechen mit Ihr, obgleich sie taub ist und sie kaum noch hört. Es ist also hinausgeworfene Zeit: macht fünfundfünfzigmillioneneinhundertachtundachtzigtausend. Ferner, haben Sie überflüssigerweise einen Wellensittich, dessen Pflege Sie täglich eine Viertelstunde kostet, das bedeutet umgerechnet dreizehnmillionensiebenhundertsiebenundneunzigtausend."

"Aber...", warf Herr Fusi flehend ein.

"Unterbrechen Sie mich nicht!" herrschte ihn der Agent an, der immer schneller und schneller rechnete. "Da Ihre Mutter ja behindert ist, müssen Sie, Herr Fusi, einen Teil der Hausarbeit selbst machen. Sie müssen einkaufen gehen, Schuhe putzen und dergleichen lästige Dinge mehr. Wieviel Zeit kostet Sie das täglich?"

"Vielleicht eine Stunde, aber..."

"Macht weitere fünfundfünfzigmillioneneinhundertachtundachtzigtausend, die Sie verlieren, Herr Fusi. Wir wissen ferner, daß Sie einmal wöchentlich ins Kino gehen, einmal wöchentlich in einem Gesangsverein mitwirken, einen Stammtisch haben, den Sie zweimal in der Woche besuchen, und sich an den übrigen Tagen abends mit Freunden treffen oder manchmal sogar ein Buch lesen. Kurz, Sie schlagen Ihre Zeit mit nutzlosen Dingen tot, und zwar etwa drei Stunden täglich, das macht einhundertfünfundsechzigmillionenfünfhundertvierundsechzigtausend. - Ist Ihnen nicht gut, Herr Fusi?"(...)


nein, ganz entschieden nicht. sind Ihnen übrigens bereits die savant-fähigkeiten hinsichtlich des rechnens beim grauen aufgefallen? und ist es nicht interessant, dass er die verschiedenen momente sozialen lebens als nutzlose dinge bezeichnet?

"Wir sind gleich zu Ende", sagte der graue Herr. "Aber wir müssen noch auf ein besonderes Kapitel Ihres Lebens zu sprechen kommen. Sie haben da nämlich dieses kleine Geheimnis, Sie wissen schon."

Herr Fusi begann mit den Zähnen zu klappern, so kalt war ihm geworden.

"Das wissen Sie auch?" murmelte er kraftlos, "ich dachte, außer mir und Fräulein Daria..."

"In unserer modernen Welt", unterbrach ihn der Agent Nr. XYQ/384/b, "haben Geheimnisse nichts mehr verloren. Betrachten Sie die Dinge einmal sachlich und realistisch, Herr Fusi. Beantworten Sie mir eine Frage: Wollen Sie Fräulein Daria heiraten?"

"Nein", sagte Herr Fusi, "das geht doch nicht..."

"Ganz recht", fuhr der graue Herr fort, "denn Fräulein Daria wird ihr Leben lang an den Rollstuhl gefesselt bleiben, weil ihre Beine verkrüppelt sind. Trotzdem besuchen Sie sie täglich eine halbe Stunde, um ihr eine Blume zu bringen. Wozu?"

"Sie freut sich doch immer so", antwortete Herr Fusi, den Tränen nah.

"Aber nüchtern betrachtet", versetzte der Agent, "ist sie für Sie, Herr Fusi, verlorene Zeit. Und zwar insgesamt bereits siebenundzwanzigmillionenfünfhundertvierundneunzigtusend Sekunden. Und wenn wir nun dazurechnen, daß Sie die Gewohnheit haben, jeden Aben vor dem Schlafengehen eine Viertelstunde am Fenster zu sitzen und über den vergangenen Tag nachzudenken, dann bekommen wir nochmals eine abzuschreibende Summe von dreizehnmillionensiebenhundertsiebenundneunzigtausend. Nun wollen wir einmal sehen, was Ihnen eigentlich übrig bleibt, Herr Fusi."

Auf dem Spiegel stand nun folgende Rechnung:

Schlaf 441 500 000 Sekunden
Arbeit 441 500 000 ,,
Nahrung 110 376 000 ,,
Mutter 55 188 000 ,,
Wellensittich 13 797 000 ,,
Einkauf usw. 55 188 000 ,,
Freunde, Singen 165 564 000 ,,
Geheimnis 27 594 000 ,,
Fenster 13 797 000 ,,
Zusammen: 1 324 512 000 Sekunden

"Diese Summe", sagte der graue Herr und tippte mit dem Stift mehrmals so hart gegen den Spiegel, daß es wie Revolverschüsse klang, "diese Summe ist also die Zeit, die Sie bis jetzt bereits verloren haben. Was sagen Sie dazu, Herr Fusi?"

Herr Fusi sagte gar nichts. Er setzte sich auf einen Stuhl in der Ecke und wischte sich mit dem Taschentuch die Stirn, denn trotz der eisigen Kälte brach ihm der Schweiß aus.

Der graue Herr nickte ernst.
"Ja, Sie sehen ganz recht", sagte er, "es ist bereits mehr als die Hälfte Ihres ursprünglichen Gesamtvermögens, Herr Fusi. Aber nun wollen wir einmal sehen, was Ihnen von Ihren zweiundvierzig Jahren eigentlich geblieben ist. Ein Jahr, das sind einunddreißigmillionenfünfhundertsechsunddreißigtausend Sekunden, wie Sie wissen. Und das mal zweiundvierzig genommen macht einemilliardedreihundertvierundzwanzigmillionenfünfhundertundzwölftausend."

Er schrieb die Zahl unter die Summe der verlorenen Zeit:

1 324 512 000 Sekunden
-1 324 512 000
0 000 000 000 Sekunden

Er steckte seinen Stift ein und machte eine längere Pause, um den Anblick der vielen Nullen auf Herrn Fusi wirken zu lassen. Und er tat seine Wirkung.

"Das", dachte Herr Fusi zerschmettert, "ist also die Bilanz meines ganzen bisherigen Lebens."

Er war so beeindruckt von der Rechnung, die so haargenau aufging, daß er alles widerspruchslos hinnahm. Und die Rechnung selbst stimmte. Das war einer der Tricks, mit denen die grauen Herren die Menschen bei tausend Gelegenheiten betrogen."

(michael ende "momo"; thienemanns verlag, stuttgart 1973; isbn 3 522 11940 1; s. 58 - 65)


*

ich weiß im moment gar nicht, ob ich noch groß etwas anfügen soll oder muss - ende hat die wesentlichen züge des objektivistischen umgangs mit - oder vielleicht besser: der vergewaltigung - der subjektiven zeit so fein herausgearbeitet, das kaum noch etwas zu ergänzen bleibt. wobei ich ja schon früher hier geschrieben hatte, dass ich zumindest seine mir bekannten bücher lange jahre unterschätzt habe, was ihr potenzial anbelangt. und das meine ich jetzt recht unabhängig von irgendwelchen literaturkritischen aspekten. er hat es imo mit großem erfolg geschafft, bestimmte wahrheiten der aktuellen sozialen menschlichen realität in der westlichen kultur in kreativer weise in einem anderen licht erscheinen zu lassen.

der als letztes geschilderte - wirklich billige - taschenspielertrick des grauen sollte deutlich sein. einige wichtige eigenarten des wesens der grauen, wie sie im roman beschrieben werden, sind mir allerdings wirklich erst in letzter zeit aufgefallen: so wird oben auch deutlich, dass die erzwungene akzeptanz der "objektiven" tunnelrealität - denn objektiv betrachtet, d.h. unter realitätswidriger und fiktionaler auslöschung aller beziehungen des herrn fusi - nicht nur zu menschen, sondern auch zu seiner subjektiven zeit, die sich eben nicht primär zerlegen und durch zahlen beschreiben lässt, ohne schwer geschädigt oder gar zerstört zu werden - nur mittels einer art einschüchterung/verängstigung gelingt, durch die der graue einen veränderten bewußtseinszustand bei seinem opfer hervorruft. der dann zu einer dominanz des objektivistischen modus führt, in dem die logik des grauen denkens die einzig "realistische" zu sein scheint - "sachlich und nüchtern", wie es der graue selbst einfordert.

und so "objektiv" betrachtet ist also die zeit der herrn fusi tatsächlich ein äusserst karges gerippe, eine genau zu definierende menge, begrenzt und endlich, mit der anscheinend gehaushaltet werden muss. und die seltsam abgehoben und irgendwie einen elementaren mangel zu enthalten scheint. reduziert ist hier das treffende wort.

ich weiß, man kann´s mit analogien auch übertreiben. aber die, die hier sichtbar werden, erscheinen mir doch bemerkenswert genug, um nicht von einer überinterpretation zu reden. das ende auch so deutliche hinweise auf savant-fähigkeiten und verdinglichende wahrnehmung gegeben hat (beides ist weiter oben schon erwähnt worden), hat mich selbst wirklich überrascht. neben diesen eigenschaften sollten Sie sich dazu einmal mit den sonstigen beschreibungen der grauen näher beschäftigen (ich nehme übrigens an, dass vielen leserInnen hier das buch bekannt sein dürfte): sie existieren in einem zwangs-/pseudo-kollektiv, sind ohne erkennbare individualität (mit nummern gekennzeichnet), als einzelwesen jederzeit ersetzbar, besitzen eine strikte hierarchie mit extremen machtkämpfen, dazu noch eine deutliche suchtstruktur und sind extrem in ihrer wahrnehmung reduziert - dinge und zahlen stellen das einzige dar, was sie (an-)erkennen können. kontroll- und datenfreaks sind sie auch noch.

und sie haben eigentlich keine eigene, bzw. nur eine elementar sinnlose und v.a. freudlose existenz - sie sitzen quasi, und hier ist dieses wort tatsächlich einmal angebracht, parasitär auf der lebendigen subjektivität der menschen, bei der die subjektive zeit eine untrennbare rolle spielt, und saugen diese ab.

ein grauer herr der neuzeit

(ganz nebenbei gesagt, halte ich übrigens "agent smith" und seine kollegen aus der matrix für die grauen herren der neuzeit - die regisseure der "matrix" haben mit ihrem lustigen zitatewahn im film einmal eine schneise (nicht nur) quer durch die gesamte pop-kultur gezogen, und sich dabei an etlichen, teils sogar noch unerkannten quellen bedient - die grundsätzlichen eigenschaften der grauen jedenfalls sind bei agent smith imo ebenfalls vorhanden, mit betonung der virtuellen pseudoexistenz - und gesteigerter bösartigkeit. aber das, wie gesagt, nur ganz nebenbei).

was der graue wicht im friseursalon dann zwecks zeitsparens empfiehlt, lässt sich unter diesen voraussetzungen lebhaft ahnen - ich füge es trotzdem noch an, auch deshalb, weil es so fatale strukturelle ähnlichkeiten mit gewissem managementgeschwätz unserer zeit besitzt (und das buch wurde immerhin vor über dreissig jahren geschrieben).

"Aber, mein Bester", antwortete der Agent und zog die Augenbrauen hoch, "Sie werden doch wissen, wie man Zeit spart! Sie müssen zum Beispiel einfach schneller arbeiten und alles Überflüssige weglassen. Statt einer halben Stunde widmen Sie sich einem Kunden nur noch eine Viertelstunde. Sie vermeiden zeitraubende Unterhaltungen. Sie verkürzen die Stunde bei Ihrer alten Mutter auf eine halbe. Am besten geben Sie sie überhaupt in ein gutes, billiges Altersheim, wo für sie gesorgt wird, dann haben Sie bereits eine ganze Stunde täglich gewonnen. Schaffen Sie den unnützen Wellensittich ab! Besuchen Sie Fräulein Daria nur noch alle vierzehn Tage einmal, wenn es überhaupt sein muß. Lassen Sie die Viertelstunde Tagesrückschau ausfallen und vor allem, vertun Sie Ihre kostbare Zeit nicht mehr so oft mit Singen, Lesen oder gar mit Ihren sogenannten Freunden. Ich empfehle Ihnen übrigens ganz nebenbei, eine große gutgehende Uhr in Ihren Laden zu hängen, damit Sie die Arbeit Ihres Lehrjungen genau kontrollieren können."

("momo", s. 67)


ein antisoziales programm der selbstgeisselung, welches aber heute bei den propagandistischen predigern der verdinglichung von allem und jedem eine art zustimmendes grunzen hervorrufen dürfte - ende hat da doch tatsächlich so etwas wie einen sehr frühen entwurf zum selbstmanagement einer ich-ag geschaffen...

das ergebnis ist in der fiktion natürlich genauso verheerend wie in der realität - nachdem herr fusi den pakt mit dem unterteufelchen geschlossen hat, sah dann das leben unter zeitsparzwang so aus:

"Und dann kam der erste Kunde an diesem Tag. Herr Fusi bediente ihn mürrisch, er ließ alles Überflüssige weg, schwieg und war tatsächlich statt in einer halben Stunde schon in zwanzig Minuten fertig.
Und genauso hielt er es von nun an bei jedem Kunden. Seine Arbeit machte ihm auf diese Weise überhaupt keinen Spaß mehr, aber das war ja nun auch nicht mehr so wichtig. Er stellte zusätzlich zu seinem Lehrjungen noch zwei weitere Gehilfen ein und gab scharf darauf acht, daß sie keine Sekunde verloren. Jeder Handgriff war nach einem genauen Zeitplan festgelegt. In Herrn Fusis Laden hing nun ein Schild mit der Aufschrift: GESPARTE ZEIT IST DOPPELTE ZEIT!

An Fräulein Daria schrieb er einen kurzen sachlichen Brief, daß er wegen Zeitmangels leider nicht mehr kommen könne. Seinen Wellensittich verkaufte er einer Tierhandlung. Seine Mutter steckte er in ein gutes, aber billiges Altersheim und besuchte sie dort einmal im Monat. Und auch sonst befolgte er alle Ratschläge des grauen Herrn, die er ja nun für seine eigenen Entschlüsse hielt.

Er wurde immer nervöser und ruheloser, denn eines war seltsam: Von all der Zeit, die er einsparte, blieb ihm tatsächlich niemals etwas übrig. Sie verschwand einfach auf rätselhafte Weise und war nicht mehr da. Seine Tage wurden erst unmerklich, dann aber deutlich spürbar kürzer und kürzer. Ehe er sich´s versah, war schon wieder eine Woche, ein Monat, ein Jahr herum und noch ein Jahr und noch eines. (...)

Es war so etwas wie eine blinde Besessenheit über ihn gekommen. Und wenn er manchmal mit Schrecken gewahr wurde, wie schnell und immer schneller seine Tage dahinrasten, dann sparte er nur um so verbissener."

("momo", s. 69)


hier hat ende imo zuwenig vorstellungsvermögen besessen - damals war es eher noch nicht denkbar, dass die grauen herren der märkte ihren lohnarbeitssklaven nicht nur die zeit klauen würden, sondern inzwischen auch ganz ihre seele haben wollen: mürrisch zu sein kann heute schon einen vertraglich festgehaltenen entlassungsgrund darstellen...gute mine zum bösen spiel ist gefordert - simulative fähigkeiten.

ansonsten kam mir gerade noch die assoziation, dass die jahre der vermutlichen entstehung des buches auch jene zeit gewesen ist, in der es zu einigen recht umwälzenden entwicklungen in der industriellen produktion gekommen ist, gerade was die rationelle ausnutzung der arbeitskraft speziell in der fließbandproduktion anbelangte. werde ich nochmal nachschauen.

tja, und das phänomen der immer schneller dahinrasenden zeit ist meiner erfahrung nach als wahrnehmung stark verbreitet. ganz entschieden weniger stark ist jedoch die frage im umlauf, ob diese art der zeitwahrnehmung nicht etwas mit der allgemeinen destruktiven entwicklung unserer sozialen verhältnisse zu tun haben könnte. das wäre sicher ein interessanter diskussionspunkt.

*

haben Sie sich übrigens schon einmal genauer mit der - hm, bewegung beschäftigt, die schon seit einiger zeit unter dem namen slowfood mehr und mehr um sich zu greifen scheint, allerdings bisher hauptsächlich in materiell privilegierten kreisen? es lohnt sich sehr, sich näher mit einigen überlegungen zu beschäftigen:

"Slow Food steht in diesem Zusammenhang für Produkte mit authentischem Charakter, die auf traditionelle oder ursprüngliche Weise hergestellt und genossen werden.(...)

In einer programmatischen Erklärung werden die Ziele der Bewegung erläutert.

* Der Genuss steht im Mittelpunkt - weil jeder Mensch ein Recht darauf hat.
* Qualität braucht Zeit.
* Die ökologische, regionale, organoleptische und ästhetische Qualität ist Voraussetzung für Genuss.
* Geschmack ist keine Geschmackssache, sondern eine historische, kulturelle, individuelle, soziale und ökonomische Dimension, über die durchaus gestritten werden soll.(...)"


"slowfood" besitzt dabei über die thematisierung von qualität und produktion von nahrung durchaus etliche links zu ökonomiekritischen strömungen einerseits, ist aber auch andererseits der auffälligste teil einer gesellschaftlichen strömung noch nicht so recht abschätzbaren ausmaßes, die sich allgemein der verzögerung der zeit widmet:

"Wer hastet, gilt als wichtig. Wer Nächte durcharbeitet, als fleissig, belastbar und erfolgsorientiert. Wer hingegen Zeit hat, gar Lücken im Terminkalender, macht sich verdächtig, ein Nichtsnutz, Tagedieb oder Siebenschläfer zu sein. Tagsüber wird deshalb in unseren Breitengraden nur heimlich geschlafen, hinter heruntergelassenen Jalousien und verschlossenen Klotüren, als ob sich’s hierbei um ein strafbares Vergehen handelte." (von der page des "vereins zur verzögerung der zeit")

mit einer sehr verwandten bis ähnlichen thematik, aber ganz offen bezogen auf die sog. arbeitswelt, beschäftigt sich auch die Initiative zur Rehabilitierung von Muße & Müßiggang aus bremen, die u.a. eine hübsche sammlung von zitaten zum thema bietet.

ich finde es durchaus ein gutes zeichen, wenn sich ein bewußtsein und auch ein gefühl dafür entwickelt, dass dem zugriff des objektivistischen und verdinglichenden wahnsinns, der sich - seinen inneren gesetzen folgend - totalitär auf raum und zeit erstreckt, eben auch auf allen betroffenen ebenen stoppschilder entgegengesetzt werden. die eigene zeit wiederzufinden, ist dazu noch etwas, was als aufgabe von jedem und jeder von uns angegangen werden kann - die eigenen - authentischen - rhythmen zu leben, bspw. was den schlaf angeht, kann in den heutigen sozialen umständen durchaus explosive qualitäten entwickeln.

*

das thema "zeit im objektivistischen modus" oder auch zeit und beziehungskrankheiten wird hier bestimmt nochmal wieder auftauchen. vielleicht sind Sie jetzt aber auch schon selbst auf den geschmack gekommen, sich näher damit zu beschäftigen - seltsamerweise spielt der aspekt der menschlichen zeitwahrnehmung generell kaum irgendwo eine größere rolle. wäre gut, wenn sich das ändert.

zum schluß: habe ich schon mal erwähnt, dass ich seit jahrzehnten ohne armbanduhr und kalender auskomme? und das das ein ziemlich cooler zustand ist, wie ich finde? es gibt durchaus so etwas wie eine innere uhr, die ich in gewissen grenzen auch als "wecker" nutzen kann. und wenn termine wirklich wichtig sind, bleiben sie auch im gedächtnis - wenn sie eine bedeutung für mich haben. ist eine trainings- und gewohnheitssache. ständiges auf-die-uhr-starren jedenfalls macht mich auch dann nervös, wenn ich es bei anderen mitbekomme.

und jetzt bin ich müde genug, um diesen beitrag beenden zu wollen. danke für die zeit, die Sie sich genommen haben.

*

edit bzw. nachtrag:

"ansonsten kam mir gerade noch die assoziation, dass die jahre der vermutlichen entstehung des buches auch jene zeit gewesen ist, in der es zu einigen recht umwälzenden entwicklungen in der industriellen produktion gekommen ist, gerade was die rationelle ausnutzung der arbeitskraft speziell in der fließbandproduktion anbelangte. werde ich nochmal nachschauen."

habe ich noch mal nachgeschaut - und siehe da, die erinnerung trog mich nicht:

"Das MTM-Verfahren (Methods-Time Measurement), in Amerika von einer Gruppe von Wissenschaftlern entworfen, wird vertrieben und verkauft.... (diese angaben dürften heute nicht mehr relevant sein, darum spare ich sie hier aus, anmerk. mo)

An die 300 Firmen in der Bundesrepublik sind bisher auf dieses profitintensivste System abonniert. - Bei MTM geht man davon aus, daß es für jeden Arbeitsvorgang ein meßbares Minimum an notwendigen Bewegungen gibt. Für jede dieser Bewegungen wird eine Normzeit festgesetzt, die von jedem Menschen erreicht werden soll, egal ob es sich um einen jungen oder alten, Mann oder Frau, um einen Starken oder Schwachen, um einen ehemaligen Teppichknüpfer oder einen an Fließbandarbeit Gewöhnten handelt.

Bevor die Methode auf den Markt kam, wurde sie monatelang getestet. Für den Bewegungsvorgang "Gehen" ließ man Menschen von unterschiedlicher Größe, Gesundheit, Hautfarbe, Alter, Geschlecht, entwickelter Intelligenz im Kreis herumlaufen. Immer verfolgt von einem Kameraauge. Aus der Zahl der aufgenommenen Bilder wurde ein Mittelwert errechnet und auf eine Grundeinheit bezogen, die den 100.000. Teil einer Stunde ausmacht. Ergebnis: die sogenannte Normzeit. In der gleichen oder ähnlichen Weise wurden die verschiedenen MTM-Grundbewegungen gemessen. Dabei unterscheiden die Unternehmer und ihre Wissenschaftler drei Arten von Grundbewegungen:

1. Wirksame Bewegungen, z.B. Hinlangen, Greifen.
2. Verzögernde Bewegungen, z.B. Überlegen, Entscheiden, Lesen.
3. Unwirksame Bewegungen, z. B. Sichunterhalten, Träumen, Aufheben eines Teils, das auf den Boden gefallen ist. (die "nutzlosen dinge", die der graue herr oben anprangerte...anmerk. mo) Als Grundbewegungen anerkannt sind Hinlangen, Greifen, Bringen, Loslassen, Fügen, Trennen, Drücken, Drehen, Kurbeldrehen.

Als Blickfunktionen gelten: Anvisieren, Blickverschieben, Lesen.
Körper-, Bein- und Fußbewegungen sind: Seitenschritt, Beugen, Aufrichten vom Beugen, Fuß bewegen, Knien, Sichsetzen, Sicherheben, Körperdrehung, Gehen.

Auf der Basis dieser Normwerte werden die einzelnen Arbeitsplätze analysiert und eingerichtet. Der ökonomische Vorteil dieser Methode wird in einer Informationsschrift eines Unternehmens so angepriesen:

`Es wird versucht, alle nicht unmittelbar zum Arbeitsfortschritt beitragenden Bewegungen zu eliminieren.´

Über den politischen Vorteil heißt es:

`MTM verlagert Beschwerdegründe von subjektiven Beurteilungen auf objektive.´(...)"

(engelmann / wallraff "ihr da oben - wir da unten"; erstausgabe 1973 (das gleiche jahr, in dem "momo" erschienen ist also); ich zitiere hier von s. 110 - 112 der rororo-taschenbuchausgabe von 1976)


"...verlagert Beschwerdegründe von subjektiven Beurteilungen auf objektive." ja-ha, schon verstanden. heisst soviel wie: "wir ignorieren deine primären (selbst-)wahrnehmungen, sie sind vollkommen irrelevant und sogar störend (für uns) - wir tun einfach so, als ob sie nicht vorhanden wären bzw. beweisen dir ganz objektiv, dass du im unrecht bist." implizit wird damit natürlich auch vermittelt, die eigene, primär subjektiv-körperbezogene wahrnehmung als irrelevant zu begreifen bzw. sie derart zu entwerten. was in kulturen, die traditionell genau diesen destruktiven vorgang als festen bestandteil ihrer kindererziehungspraktiken über jahrhunderte verankert haben, natürlich bei den betroffenen menschen auf eine schon entsprechend vorgeprägte struktur trifft.

"MTM", so dachte ich beim lesen des obigen, wird ja wohl heute im zeitalter der pc-arbeitsplätze keine so große rolle mehr wie vor dreissig jahren spielen? dem ist überhaupt nicht so, und zwar nicht nur, was die sphäre der automatisierten produktion in den bereichen anbelangt, die weiterhin auf menschliche (zu-)arbeit angewiesen sind - siehe bspw. hier:

"Dem Labor für Arbeitswissenschaft des Fachbereichs Maschinenbau und Produktion der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg (HAW Hamburg) ist der MTM-AWARD/Förderpreis 2004 verliehen worden.

Methods Time Measurement, kurz MTM genannt, ist ein Verfahren zur Beschreibung, Gestaltung und Planung von Arbeitssystemen mittels definierter Prozessbausteine. Das Verfahren kommt überall zum Ein¬satz, wo verrichtungsorientierte menschliche Arbeit geplant, organisiert und durchgeführt werden muss. MTM-Anwendungen findet man in der Fertigung, Qualitätskontrolle, Logistik und Instandhaltung ebenso wie in der Verwaltung oder im Dienstleistungsbereich. MTM ist heute weltweit das meist verbreitetste Verfahren "Vorbestimmter Zeiten" und bildet damit an jedem Standort global tätiger Unternehmen eine einheitliche Planungs- und Leistungsnorm.(...)"


recherchieren Sie einfach mal selbst - mit der phrase "mtm-verfahren".
kandinsky (Gast) - 4. Jun, 13:02

Anthropologische Aspekte der Sorge und Fürsorge

Hallo mo :)

ein Bekannter von mir in Berlin hat folgenden kleinen Text verfasst, den ich als Kommentar auf Dein Blog: Herr Fusi....., mal hier reinstellen werde. Ist ein wenig lang, aber wie ich finde, doch sehr lesenswert. Gruß, Kandinsky

Von Gerhard Danzer

Wenn wir uns mit dem Thema der Sorge und der Fürsorge beschäftigen, wird es notwendig sein, etwas weiter auszuholen. Denn wenn wir verstehen wollen, was das Wesen von Sorge und Fürsorge ausmacht, müssen wir zuerst klären, in welchen Zusammenhängen des menschlichen Daseins diese Begriffe auftauchen und welche Beziehungen des einzelnen Menschen zu sich selbst, zu seiner Umwelt und zu seinen Mitmenschen damit gemeint sind. Dabei werden wir sehen, daß das Thema der Sorge und der Fürsorge Fragen und Bereiche der Philosophie wie auch der Anthropologie und der Tiefenpsychologie berührt.

Das Phänomen der Sorge und der Fürsorge - so wie wir es weiterhin behandeln - gibt es nur bei uns Menschen. Wohl "sorgen" und kümmern sich auch Tiere, etwa um ihren Nahrungsvorrat oder um ihre Behausung. Auch treffen wir bei Tieren eine gewisse Form von Fürsorglichkeit an; man denke nur an die Aufzucht ihrer Brut. Doch sowohl die Sorge wie auch die Fürsorge im Tierreich unterscheidet sich grundlegend von dem, was bei uns Menschen damit gemeint werden kann. Es wird daher notwendig sein, einige spezifische Eigenschaften von uns Menschen aufzuzählen, um im Gegensatz zur Tierwelt zu verdeutlichen, was Sorge und Fürsorge für den Homo sapiens bedeuten.

Ferner ist das Phänomen der Sorge und der Fürsorge angesiedelt zwischen dem Einzelnen und seiner Mitwelt. Es scheint daher sinnvoll, neben einer Abgrenzung des Menschen von den übrigen Tieren auch die möglichen Beziehungen von uns Menschen zueinander und zu uns selbst genauer zu untersuchen. Dafür aber ist es notwendig, eine kurze Beschreibung sowohl des Individuums wie auch seiner Relationen zur Welt zu liefern. Bei der Beantwortung der Fragen, wie denn wir Menschen im Gegensatz zu Tieren und unsere Beziehungen zur Welt und zum Kosmos beschaffen sind, greifen wir im folgenden auf diesbezügliche philosophische Modelle und Überlegungen von Hegel, Heidegger, Sartre und anderen zurück.

Als erstes und gewichtiges Merkmal eines Menschen, das von Heidegger in Sein und Zeit (1927) als Existenzial - als wesentliches Merkmal des Menschen überhaupt - beschrieben wurde, kann das weltoffene "Existieren", das "In-der-Welt-Sein" bezeichnet werden. Alles, was die Welt zu bieten hat, Materielles, Natürliches, Geistiges, die Mitmenschen, Kulturelles etc., kann von uns Menschen erkannt, verstanden, begriffen, erfaßt, gebraucht usf. werden.

Immer schon begegnet uns Menschen Welt. Der erste Atemzug, der erste Blick, der erste Schritt - das Individuum atmet, erblickt, betritt eine Welt, "in" der es existiert. Menschliches Sein oder "Dasein" bedeutet ganz wesentlich "In-der-Welt-Sein". Anders als das Tier zeichnet uns Menschen eine sogenannte "Weltoffenheit" aus. Das bedeutet, daß wir nicht nur in einer streng definierten "Umwelt" leben, sondern potentiell das ganze Universum begreifen und zu unserem Lebensraum erklären können.

Als Individuum ist der Mensch Ganzes, als Dasein, das in der Welt lebt, ist der Mensch Teil; er nimmt eine "Stellung im Kosmos" (Max Scheler) ein. Aufgrund dieser "Teil"-habe am und dieser Stellung zum Kosmos muß der Mensch über sich selbst hinaus fragen, um sich im Verhältnis zum Ganzen in seiner wahren Proportion zu erkennen. Die Beziehungen zu diesem Ganzen sind nicht - wie beim Tier - festgelegt, sondern können mehr oder minder frei gestaltet werden.

Im Gegensatz zu belebter und unbelebter Natur und zur gesamten übrigen Welt haftet dem Menschen ein "Hiatus" an, der es ihm überhaupt erst ermöglicht, über sich hinaus zu fragen und sich zu sich und zur Welt in Bezug zu setzen. Dieses Vermögen, zu reflektieren, ein Bewußtsein auszubilden, einen Standpunkt einzunehmen, intentional zu sein, sich frei zu setzen, sich und der Welt Sinn und Bedeutung zu verleihen und diese als Symbol oder Sprache auszudrücken, wird gemeinhin als Geist bezeichnet.

Geist macht die exponierte Stellung des Menschen im Kosmos aus, er bewirkt des Menschen "existentielle Entbundenheit vom Organischen, seine Freiheit, Ablösbarkeit - oder doch die seines Daseinszentrums - von dem Bann, von dem Druck, von der Abhängigkeit vom Organischen, vom 'Leben'" (Scheler). Gleichzeitig läßt uns diese Entbundenheit erst in eine Situation geraten, in der wir unsere Beziehungen zum Organischen und zum ganzen Kosmos zwar freier als die Tiere gestalten können, dafür aber auch Verantwortung übernehmen und Konsequenzen ziehen müssen.

Anders als das Tier, das in einer "Umwelt" lebt, existiert der Mensch aufgrund seiner geistigen Fähigkeiten in einer "Welt". Als geistiges Wesen ist er dauernd zur Welt hin geöffnet, "weltoffen". Als Träger des "personalen Geistes" wächst der Mensch in eine Welt, in einen Raum des "objektiven" und des "objektivierten Geistes" (Hartmann) hinein. Diese geistige oder auch "gelichtete" Welt (Heidegger), an deren Gestaltung Generationen von Menschen beteiligt waren, wird als "kulturelle" Welt der natürlichen Welt entgegengesetzt. Ohne menschliche Existenz mangelte es an "Lichtung", es gäbe keine "gelichtete", erkannte oder sinnhafte Welt. Das Auftauchen des Menschen im Kosmos bedeutete das Ende der Weltnacht.

Das "In-der-Welt-Sein" des Menschen bedeutet auch, daß jeder Einzelne in einem spezifischen Raum lebt, und zwar fundamental unterschieden von der Statik oder Dynamik eines Gegenstandes im Raum. Für alle nicht-menschlichen Objekte gelten lediglich die Gesetze der Geometrie, für den Menschen gibt es außerdem den ganz eigenen, subjektiven Raum.

So konstituiert sich je nach Gestimmtheit, Offenheit, Expansivität, Mut, Wachheit, Vorwissen und Bildung des Betreffenden - für jeden Menschen neu und andauernd wechselnd - der Raum um ihn als ein subjektiver und "hodologischer" (K.Lewin). Der Raum unterscheidet sich in seiner Weite und Fülle von Individuum zu Individuum, aber auch - bezogen auf ein Individuum - von Tag zu Tag. Bisweilen verändert dieser individuelle Raum seine Dimensionen auch schlagartig, beispielsweise, wenn Schmerz die Aufmerksamkeit und Expansivität eines Menschen auf die Ausmaße seiner kleinen Zehe schrumpfen läßt.

Analog zum Raum lebt jeder Mensch auch in seiner sehr eigenen "hodologischen" Zeit. Dies mag zunächst befremdlich klingen, denn wir sind gewohnt, den öffentlichen und intersubjektiven Charakter zu Zeit zu betonen. Sie ist als eine Summe von Jetzt-Punkten datierbar, für jeden Menschen mit einigermaßen gutem Willen die gleiche oder zumindest vergleichbar, ein öffentliches "Hab und Gut", auf das "man" sich geeinigt hat und zu dem in Relation zu leben wir gewohnt sind.

Die Zeit ist auf den Menschen bezogen, sie stellt ein Phänomen dar, das erst mit dem Menschen in die Welt kam und das nur er mißt und erkennt. Gleichzeitig mischt sich jedoch die Zeit in alle Verhältnisse des Menschen zur Welt und haftet dann auch an leblosen, materiellen Dingen.

Die Zeit jedoch, die jeder von uns "hat" und die wir auf ganz eigene Art erleben, definieren und füllen, unterscheidet sich merklich von der öffentlichen und gemessenen Zeit. Die Zeit liegt nicht wie ein Gegenstand vor uns. Kein Ding und auch kein außerhalb unserer Person ablaufender Prozeß, in den wir ein- oder aussteigen könnten, ist also die Zeit. Sie ist vielmehr die Art und Weise, wie wir unser Dasein "zeitigen" und leben - und damit sind wir selbst unsere ganz individuelle, unvergleichliche, "hodologische" Zeit. Diese erleben wir nicht als eine Aneinanderreihung von Jetzt-Punkten, sondern vielmehr als Spanne oder Dauer, als träge dahinfließende oder uns davonlaufende Zeit, als lange zurückliegend oder auch als weit in die Zukunft reichend.

Die Zukunft ist die zeitliche Dimension, die dem Menschen Freiheit, Entwicklung, Veränderung, Metamorphose und Glück verheißt. Wer seinen eigenen Entwurf wagt und gestaltet, wer seine persönliche und kollektive Geschichte kennt und wer seine Zukunft als Raum der Entwicklung, der Metamorphose und - wie Rilke es ausdrückte - des "drängenden Auftrags nach Verwandlung" begreift, scheint sich am ehesten dem anzunähern, was wir im weiteren Verlauf noch als "Sorge um uns selbst" bezeichnen werden.

Ähnlichen Einfluß auf das In-der-Welt-Sein des Individuums wie seine Räumlichkeit und seine Zeitlichkeit nimmt seine Stimmung respektive seine Befindlichkeit. Jeder von uns erwacht morgens mit einer je eigenen Stimmung, die von vielerlei Faktoren, von Träumen, Erwartungen, Erlebnissen, Begegnungen usf. geprägt und beeinflußt wird. Unsere Befindlichkeit, die sich aus vielen derartigen momentanen Stimmungen und darüber hinaus aus Gewesenem, aus Charakter und Biographie zusammensetzt, zieht sich oftmals wie ein immer wiederkehrendes Motiv oder Thema durch einen Tag, eine Woche, ein Jahr oder auch ein ganzes Leben. Wie der Schußfaden in ein Gewebe, so ist die jeweilige Stimmung in den Ablauf unserer Existenz verwoben und bestimmt maßgeblich deren Muster, Tönung und Farben.

Manche Stimmungen, etwa die Hoffnung, die Zuversicht, der Humor oder die Liebe, ermöglichen einen umfassenden und reichen Weltkontakt. Sie weiten das In-der-Welt-Sein des Menschen und bewirken, daß er sich den anderen gegenüber überhaupt fürsorgend einstellen kann. Ärger, Angst, Melancholie, Wut, Haß oder Langeweile, die man auch als Verstimmungen bezeichnen kann, reduzieren die Intensität des Weltkontakts und treiben das Individuum in den Schmollwinkel der Einsamkeit, des Rückzugs und des Verstummens. Solche Verstimmungen oder Affekte gehen oft jahrelang (psycho-) somatischen Erkrankungen voraus oder mit ihnen einher. Sie müssen daher als weit in körperliche Sphären hinein wirkende, pathogenetische Faktoren ersten Ranges verstanden werden.

Stimmungen auch sind verantwortlich dafür, ob und wie wir uns zur Welt hingezogen fühlen, besonders zum interessantesten "Objekt", dem der Mensch in seinem In-der-Welt-Sein begegnet: zum Anderen, zum Mitmenschen. Im mitmenschlichen Nexus, im Kontakt zur Sozietät erst wird der Mensch zum Menschen, reift unsere Existenz zu einer humanen, zu einer kooperativen und kommunikativen Daseinsform. Die einzelne Person gibt es nur im Kontakt mit anderen Personen. Der biologische, soziale, sprachliche, kulturelle Nexus, der von anderen Personen "verkörpert", gestaltet und getragen wird, ermöglicht erst die Ausbildung, Prägung und Fixierung von Person-Kernen sowie die Entwicklung und Weitung der Person. Ohne die Existenz personaler Anderer, ohne Das dialogische Prinzip (M.Buber) eines Du gäbe es kein Ich. Das Individuum findet sich je schon in der Rolle des Mitmenschen - oder es findet sich nicht! Nur schwerlich können wir für uns die Rolle des Mitmenschen ausschlagen oder leugnen, da wir ja jede unserer menschlichen Leistungen und sogar unsere organische Existenz anderen zu verdanken haben, in deren Kontext wir hineingeboren wurden und mit deren Muster wir verwoben sind.

Den anderen als Mitmenschen, als Meinesgleichen, die Welt als Mitwelt zu erleben, ist ein ursprünglicher Akt. In ein Wir, in eine Gemeinschaft, in einen Kommunikationszusammenhang werden wir hineingeboren, und nur mit Hilfe dieses Zusammenhangs glückt unsere Individuation.

Nur die belebte Natur kennt das Phänomen des Fremden. Unbelebtes kann sich nicht von anderem Unbelebten unterscheiden, keinem Stein gelingt die Abgrenzung zum Nachbarstein oder zum Regentropfen, der ihn trifft. Einzeller hingegen vermögen bereits zwischen "eigen" und "fremd" zu differenzieren und sind in der Lage, adäquat und aktiv darauf zu reagieren.

Auch der Mensch verfügt über diese Fähigkeit, Eigenes von Fremden zu differenzieren, das andere und den anderen in Gegensatz zum Selbst zu setzen. Sartre beschreibt diesen Prozeß als "Nichtung": Das andere, die Welt, die Natur, die Dinge, die Mitmenschen sind das "Nicht-Ich". Im menschlichen Immunsystem findet diese ontologische Tatsache ihre biologische Antwort und Ausgestaltung.

Im Unterschied nun zur Natur, zu den Dingen und Sachen sind die anderen Menschen dadurch ausgezeichnet, daß sie von derselben Seinsart, in derselben Weise da sind wie ich selbst. Unbeschadet dessen, daß sie andere sind, sind sie doch Meinesgleichen. Dies ist auch der Grund dafür, von einem "Verhältnis" im eigentlichen Sinne des Wortes in Bezug von einem Menschen zu einem anderen Menschen sprechen zu können. Nur im zwischenmenschlichen Bereich ist ein gegenseitiges "Verhalten" auf gleichem Form- und Gestaltniveau möglich. Sorge um sich und Fürsorge um den anderen sind daher im Bereich des menschlichen Daseins anders geartet wie beispielsweise die "Sorge um die Natur".

Im Verhältnis zu anderen Menschen begegnet mir der andere als Subjekt und als Objekt, als Mittelpunkt seiner Welt, an deren Peripherie ich angesiedelt werde, und als "Gegenstand" an der Peripherie meiner Welt, deren Mittelpunkt ich bin. Als "alter ego" verbindet mich mit dem anderen eine basale Vertrautheit - er ist "meinesgleichen". Als Zentrum seiner Welt, seiner Freiheit bleibt mir der andere immer letztlich unerreichbar und fremd - nie wird er "wie ich" sein, und nie werde ich seine Welt mit seinen Augen sehen und erleben können. Vertrautheit und Fremdheit, Symbiose und Einsamkeit sind die Pole, zwischen die das Verhältnis der Menschen zueinander gespannt ist.

Sehr erhellend hat bereits Hegel dieses Verhältnis der Menschen untereinander beschrieben. In seinem Buch Phänomenologie des Geistes (1806/07) gibt es ein seit jeher viel beachtetes Kapitel mit dem Titel "Herr und Knecht". Hegel sagt darin, daß bei der Begegnung zweier "Selbstbewußtseine" immer ein Kampf um die Überlegenheit stattfindet. Wenn Menschen einander begegnen, stellt sich immer die Frage, wer Herr und wer Knecht sein soll. Mit anderen Worten: Jedes Selbstbewußtsein will sich selbst als Subjekt definieren; um das zu ermöglichen, soll der andere oder müssen die anderen Objekte sein. In allen geschichtlichen und sozialen Situationen erkennt Hegel das untergründige Ringen der Menschen um Überlegenheit. Zum Herrn wird jener, der die Macht und Unabhängigkeit höher ansetzt als das Leben. Der Knecht jedoch "wählt" das Überleben um jeden Preis, und das führt ihn in ein Sklavendasein. Aber Hegel weiß auch schon, daß kein Mensch die Unterjochung leicht erträgt. Daher träumt der Sklave immer von Herrschaft, und wenn es die Verhältnisse erlauben, revoltiert er und entmachtet seine Unterdrücker. Man sieht, daß in Hegel sein Fortsetzer und Widersacher Marx bereits angelegt ist.

Aber Hegel ist nicht nur der Diagnostiker des ubiquitären Willens zur Macht in der Menschengemeinschaft. Er beschreibt auch die Möglichkeit, daß die Selbstbewußtseine einander akzeptieren und sich solidarisieren. Da das menschliche Selbst etwas sehr Fragiles ist, benötigt es dringend diese Unterstützung durch ein Du. Hegel formuliert sogar: "Das Sein des Selbstbewußtseins liegt in der Anerkennung durch ein anderes Selbstbewußtsein." Dieses Verhältnis nennen wir Achtung, Wohlwollen oder gar Liebe. Nach Hegel gedeiht der Mensch nur in dieser Atmosphäre der wechselseitigen Bejahung, und es macht das Glück und Unglück seines Lebens aus, ob er derlei in ausreichendem Maße findet.

Das ist eine sehr moderne Erkenntnis, die z.B. durch die Tiefenpsychologie vielfach bestätigt wird. Schon das Kleinkind benötigt für sein Wachsen und Werden die schier uneingeschränkte mütterliche Zuwendung, die Anerkennung in höchstem Maße ist. Später im Leben gelten ähnliche Bedingungen. Menschen, die nicht mehr an Bejahung durch ein Du glauben, erkranken physisch oder psychisch und können auch einem Wahn anheimfallen.

Aber warum ist wechselseitige Bejahung im Menschenleben so schwierig und so selten? Auch hier weiß Hegel bereits Bescheid. In seinem genannten Werk postuliert er, daß auf "der Ebene der Begierde" jedes Selbstbewußtsein "auf den Tod des anderen Selbstbewußtseins" auszugehen pflegt. Anders ausgedrückt: Wenn uns Begierde und Angst antreiben, kommen wir erst zur Ruhe, wenn der Mitmensch sich in eine Objektrolle fügt und uns "zur Verfügung steht". Gelingt es uns aber, ihm liebend zu begegnen, dann wollen wir nicht die Auslöschung seiner Freiheit und seines Bewußtseins. Wir können neben ihm frei sein und auch ihm die Freiheit gönnen.

Sartre, der diese Ausführungen Hegels trefflich benützt, bringt diese Einsichten unter in seiner berühmten Analyse des "Blicks". Er erörtert, was geschieht, wenn ein Mensch allein in der Landschaft ist. Dann überblickt er nämlich alle Dinge und Gegebenheiten und ist "souveränes Bewußtsein". Kreuzt aber ein Mitmensch auf, der ihn auch anblickt, dann wird man auf die "Conditio humana" zurückgeworfen und ist eben Subjekt und Objekt zugleich. Das erträgt man nur, wenn man eine gewisse Stärke in sich fühlt. Je schwächer der Mensch ist, umso radikaler will er nur Subjekt (und das heißt fast "gottähnlich") sein. In jedem Menschen steckt nach Sartre das bewußte oder unbewußte Verlangen, Gott zu werden - und das ist nun einmal zum Scheitern verurteilt.

Aber wiederum kann man korrigierend sagen, daß es auch die Möglichkeit des "liebenden Blicks" gibt. Da wird nicht via Anschauen und Beobachten um Herrschaft gekämpft, sondern man faßt den anderen ins Auge, um sein Wohl und seine Entwicklung anzustreben. Nicolai Hartmann hat diesen Gesichtspunkt in seiner "Ethik" (1926) lichtvoll erörtert. Die große Frage ist die, wie man die Menschen dazu anleitet, mit einem liebenden Blick in die Welt zu schauen. Derlei fehlt uns an allen Ecken und Enden.

Man sieht also, daß das Verhältnis Mensch und Mitmensch viel komplexer ist, als man zunächst meint. Auch Martin Buber hat in verschiedenen Schriften ("Ich und Du"; "Zwiesprache"; "Das Problem des Menschen") diese Problematik geistvoll diskutiert. Er ist der Meinung, daß der Mensch nur insofern Mensch ist, als er ein "dialogisches Leben" führt. Nur in der Zwiesprache wächst der Mensch zur Menschlichkeit heran. Hört die Kommunikation auf, dann zerfällt das "Menschliche". Zwischen Ich und Du wird demnach die Substanz des Menschendaseins konstelliert. Wären wir dialogfähiger, dann könnten wir möglicherweise die Menschenwelt in Ordnung bringen.

Man lehrt uns zu wenig hinsichtlich der Wichtigkeit dieses Anthropinons, d.h. des Wesensmerkmals des Menschen. Wir wissen eventuell, wie wir uns ernähren und physisch pflegen sollen; aber daß geordnete und gute menschliche Beziehungen so unentbehrlich sind wie der Sauerstoff zum Atmen, wird uns nicht beigebracht. Deshalb jagen wir äußeren Gütern nach und vernachlässigen die Beziehungswelt, die die wahre Heimat des Menschen ist.

Gewiß ist hieran auch unser Gesellschaftssystem mit der dazugehörigen Ideologie schuldig. Wir huldigen dem "Kampf aller gegen alle" und denken, daß trotzdem eine soziale Harmonie zustandekommen soll. Das ist wahrscheinlich ein schrecklicher Irrtum. Soll jemals eine intakte Menschenwelt entstehen, dann müssen Kommunikation und Kooperation der Leitstern jeglichen Handelns werden. Fast alle Utopien zeichnen einen solchen Zustand, und wenn sie auch manchmal etwas verstiegen anmuten, haben sie tendenziell recht, wenn sie diese Zielrichtung angeben.

Auch für die Selbstentfaltung brauchen wir immer den Mitmenschen als Helfer, Partner und "Gefährten unserer Entwicklung". Manche Phänomenologen betonen sogar, daß jedes Werden des Menschen ein "Mit-Werden" (E.Minkowski) ist. Nehme ich nicht den anderen oder die anderen auf meinem Wege mit, dann sind meine eigenen Bestrebungen zur Sterilität und zum Scheitern verurteilt. Fürwahr: Dasein ist Mit-Sein, und das in einem Grade, wie es sich der Laienverstand kaum träumen läßt.

Die Tatsache also, daß es andere gibt, kann von uns Menschen im Sinne des Kampfes um Dominanz und Herrschaft über die anderen oder aber im Sinne der Fürsorge um die anderen beantwortet werden. Letztere Haltung bedeutet, sich gegenseitig im Prozeß der Selbstwerdung zu unterstützen, ohne dem anderen die Last und die Bürde der Individuation abzunehmen. Eine solche Haltung ist eng mit der Haltung der Sorge um sich selbst verknüpft; beide bedingen und steigern sich gegenseitig. Was aber bedeuten diese beiden Begriffe nun vor dem Hintergrund dessen, was bisher ausgeführt wurde?

Viel beachtet wurde Heideggers These, daß wir das Daseins des Menschen zunächst und zumeist in der kümmerlichen Form des Man-selbst-Seins vorfinden. Der Mensch lebt überall im Kollektiv; und die Gesellschaft sowie die Gemeinschaften sozialisieren ihn so vollständig, daß er nur auf mühevollen Wegen zum Bewußtsein seiner Individualität gelangt. Nach Heideggers elitärer Auffassung sind ein Großteil der Menschen fast komplett eingeebnet und nivelliert. Sie denken, was man denkt; sie fühlen, was man fühlt; sie handeln, wie man handelt; und sie verachten die Masse, wie man als Massenmitglied die Masse zu verachten pflegt. Primär kann niemand dem Schicksal des Man-selbst-Seins entrinnen.

Heidegger betont nachdrücklich, daß es unsere Aufgabe ist, ein eigentliches Selbst zu werden. Wir müssen uns auf den Weg zur Entdeckung unseres Ich-selbst-Seins begeben. Aber wie wird man Individualität im eigentlichen Sinne des Wortes?

Nach Heidegger bedarf es eines Aktes der Losreißung aus der Alltäglichkeit, wenn man das Selbstsein anstrebt. Dazu sind die vorhin schon erwähnten Stimmungen wesentlich. Stimmung wurde ja vorhin schon definiert als eine Form der Welterschließung und des Weltkontakts. Merkwürdigerweise ist es nun die Grundstimmung der Angst, die das Eingeschläfertsein in der Massenexistenz durchbricht und uns zum Selbstsein aufruft. Denn die Angst ist ein "Schwindel der Freiheit", ein "Zurückweichen des Seienden im Ganzen", ein "Hineingehaltensein in das Nichts". Wer den Mut zur Angst hat, erfährt, daß er grundsätzlich ganz auf sich selbst gestellt ist. In den fundamentalen Fragen des Daseins bleiben wir allein. Auch in der Selbstschöpfung unserer Persönlichkeit können uns andere dies und das vermitteln, aber wenn wir nicht selbst das Entscheidende tun, bleibt unsere Person oder unsere Einmaligkeit "ungeboren".

Nur die zum Bewußtsein ihrer Eigenständigkeit und Eigentlichkeit erwachte Person hat nach Heidegger eine authentische Seins-, Welt- und Lebenserfahrung. Wer mit dem Kollektiv denkt, bewegt sich in Schablonen, Klisches, Vorurteilen und Banalitäten. Er klammert auch die "Grenzsituationen" des Daseins aus, nämlich Angst, Tod, Scheitern, Schuld, Einsamkeit und Authentizität.

Nur innerhalb dieses echten und eigentlichen Ich-selbst-Seins weisen wir Menschen nach Heidegger das auf, was wir "Sorge" (um uns selbst) nennen. Dieser Begriff meint nun nicht, daß der Mensch per se immer Sorgen hat - was zwar auch nicht ganz falsch ist. Nach unserem Philosophen jedoch wird damit im Bereich der "hodologischen Zeit" die Zukunftsorientierung des Daseins anvisiert. Der Mensch lebt, wenn er sich um sich sorgt, weitgehend in der Dimension der Zukunft. Immer ist er sich selbst voraus, existiert in Plänen, Entwürfen, Wünschen, Hoffnungen und Befürchtungen. Menschsein heißt: Fast permanent mit einem Großteil der seelischen Energien "zukünftig" zu sein.

Heidegger legt den Akzent auf die Zukünftigkeit der Zeit. Denn nur aus der Zukunft, die sich ein Mensch gibt oder entwirft, kann man seine Gegenwart und seine Vergangenheit verstehen. Darin liegt auch ein Spielraum der Freiheit. Unsere Vergangenheit ist abgetan und festgelegt; sie determiniert auch in hohem Maße unsere Gegenwart. Aber da der Mensch für die Zukunft offen ist, kann er durch mehr oder minder "freie Entwürfe" dem Gegenwärtigen und Vergangenen jeweils einen für ihn passenden Sinn geben. Aus der gestaltbaren Zukunft und der Sorge darum erwachsen alle Sinnmöglichkeiten des Daseins, erwächst die Dimension von Sinn überhaupt und erwächst die Möglichkeit des Ich-selbst-Werdens.

Ausgehend von dieser Beschreibung der Sorge können wir nun auch besser verstehen, was Heidegger mit dem Begriff der Fürsorge meint. Heidegger unterscheidet bei der Fürsorge eine "vorausspringende" und eine "einspringende" Form. Die vorausspringende Fürsorge versucht, dem Mitmenschen die Voraussetzungen zu vermitteln, den Prozeß des Ich-selbst-Werdens bei sich ins Auge zu fassen und zu realisieren. Diese Form der Fürsorge beläßt den anderen in seiner Aufgabe, ein Einzelner und ein unverwechselbares Individuum zu werden.

Im Gegensatz dazu wird bei der einspringenden Form der Fürsorge der andere meist dieser Aufgabe enthoben. Statt dessen findet ein oftmals umfängliches Programm der Verwöhnung statt, das den Mitmenschen eher daran hindert, den Prozeß der Individuation für sich zu wagen und in Angriff zu nehmen. Die einspringende Fürsorge führt zwar fast immer zu rascher Beruhigung und Minderung von Angst und Unsicherheit des Gegenüber; gleichzeitig beläßt sie ihn aber im Status des Man-selbst-Seins, im Status des uneigentlichen Existierens und in einer gewissen Form der Abhängigkeit.

Die Tugend der Fürsorge darf nicht verwechselt werden mit der Untugend des "Verfallen-Seins" an Dinge oder an andere Menschen. Vorrangig in sogenannt "helfenden Berufen" kennen wir mannigfache Versuchungssituationen, in denen wir die Sorge um unsere eigene Individuation hinter der dann oftmals einspringenden Fürsorge für andere zurückstellen.

Das entscheidende Kriterium für diese Verwechselung ist eine Abnahme an Freiheit und Autonomie sowie eine Zunahme an Abhängigkeit des Fürsorgenden. Diese Form des Verfallen-Seins führt nach Heidegger unweigerlich zur "Uneigentlichkeit" der eigenen Existenz und damit erneut zum Man-selbst-Sein. Das eigentliche Selbstsein gibt es nur um den Preis von Angst und Vereinsamung. Es besteht nicht im billigen "Nein", sondern im mühsamen Aufbruch zum ureigensten Wesen. Diese Form der Existenz aber widerspricht der Form der einspringenden Fürsorge für andere, die zum Surrogat der eigenen Entwicklung wird.

Sowohl die Sorge um das eigene Ich-selbst-Werden wie auch die vorausspringende Fürsorge um die anderen gipfelt nach Heidegger in der sogenannten Transzendenz. Heidegger versteht darunter die Fähigkeit des Menschen, seinen status quo immer wieder zu überschreiten und zu verändern. Erst in der Veränderung, in der andauernden Metamorphose und Entwicklung, im stetigen Werden, das dem statischen Sein entgegengesetzt ist, verwirklicht sich der Mensch eigentlich und lebt er seinem innersten Wesen gemäß.

Die Transzendenz des eigenen Daseins ist auch die beste Voraussetzung dafür, sich nicht nur konkreten anderen Mitmenschen, sondern auch dem gesamten "Experiment Menschheit", der ganzen Kultur, der Natur und dem Kosmos gegenüber "vorausspringend" fürsorglich einzustellen und zu verhalten. Ein Mensch, der dauernd bemüht ist, seinen eigenen Wert zu steigern, kann gar nicht anders, als mit "liebendem Blick" auch den Wert seiner Mitmenschen und seiner ihn umgebenden Welt zu steigern oder zumindest zu erhalten. Wertsteigerung, Sorge und vorausspringende Fürsorge können als synonyme Begriffe gebraucht werden.

Diesen Facetten und Aspekten der Sorge und der Fürsorge werden wir demnach nur dann gerecht, wenn wir Menschen uns und unser Leben dem beschwerlichen Prozeß der Individuation und des Einzelner-Werdens verschreiben und diesen Prozeß auch unseren Mitmenschen zumuten. Seit Jahrtausenden wird dieses Ziel des Einzelner-Werdens von Philosophen, Künstlern und Wissenschaftlern formuliert und angestrebt. Nietzsche wollte das "Herdentier" in uns überwinden, Heidegger das "Man-selbst-Sein" gegen die Segnungen des "Ich-selbst-Sein" eintauschen. Beide verbanden mit der Geburt des Individuums die Vorstellung der seelisch-geistigen Reife und Souveränität sowie der Eigentlichkeit des Seins.

Fehlen dem Einzelnen die Freiräume künstlerischer und spielerischer Lebensgestaltung und nähert er seine Existenz auf Dauer dem dumpf-monotonen Rhythmus von Maschinen oder Institutionen an, läuft er Gefahr, seine Individualität zu verlieren und an Leib und Seele ernsthaft zu erkranken. Nur wer seinem individuellen Wesen Ausdruck verleiht und die Spanne seines Daseins dem "Programm" der Lebenskunst widmet, sorgt tatsächlich um sich und wirkt als überzeugendes Modell, das sich guten Gewissens der vorausspringenden Fürsorge um andere zuwenden kann.

Als ein überzeugendes Beispiel für diese Form von Sorge um die eigene Person, die eng mit dem Werden und der Entwicklung der eigenen wie auch fremder Existenzen verschwistert war, galt und gilt Goethe, von dem schon Nietzsche bewundernd in Götzendämmerung meinte:


Er löste sich nicht vom Leben ab, er stellte sich hinein; er war nicht verzagt und nahm so viel als möglich auf sich, über sich, in sich. Was er wollte, das war Totalität; er bekämpfte das Auseinander von Vernunft, Sinnlichkeit, Gefühl, Wille
... er disciplinirte sich zur Ganzheit, er schuf sich.

Sternwolke (Gast) - 11. Mär, 18:10

Heidegger´s Zukunftsperspektive

Hallo Kandinsky,

ich bin beim Lesen im blog auf den Text von Gerhard Danzer "Anthropologische Aspekte der Sorge und Fürsorge" gestossen. Auch, wenn es schon einige Zeit her ist, seit der Text geschrieben wurde, möchte ich gern etwas dazu antworten.
Ich fand den Text sehr anregend. Nun habe ich ihn eine Weile in mir wirken lassen und bezüglichs Heideggers Zukunftsorientierung des Daseins sind in mir einige Überlegungen aufgetaucht:

Stimmt das so? Dass der Mensch nur er-selbst-werden kann mit dem Blick auf die Zukunft?
„Immer ist er sich selbst voraus, existiert in Plänen, Entwürfen, Wünschen, Hoffnungen und Befürchtungen.“ Ist das gut so, wenn er sich immer selbst voraus ist? Kann er denn dann sehen, wie er wirklich ist? Ist es nicht so, dass er erst, wenn er sieht, wer er wirklich ist, Stück für Stück die Hürden aus dem Weg räumen kann, die ihn daran hindern, so zu sein, wie er sein möchte?

Und: Wird er überhaupt dahinten ankommen, in dem Bild, was er sich von sich gemacht hat, wie er sein möchte? Wird es nicht eher so sein, dass er ein Teil des Bildes in sich und seinem Leben umsetzen kann und wird, aber nicht das gesamte Bild? Ist es nicht besser, sich selbst kennen zu lernen und heraus zu finden, was sich wirklich entwickeln lässt, ohne sich selbst in ein Bild, einen Entwurf zu bringen, sich möglicherweise dorthin zu peitschen? Sich zu fordern, ohne sich zu überfordern?

Und: Ist es überhaupt gut, mit einem Großteil der Energien zukünftig zu sein? Ist es nicht besser, sich mit einem Großteil seiner Energien auf die Gegenwart zu konzentrieren, diese sich seiner Schwächen und Stärken selbst bewusst zu leben und in diesem Tun die Zukunft entstehen zu lassen?

Diese Fragen beschäftigen mich jetzt. Viele Grüße!
Faroer (Gast) - 27. Jun, 02:34

Lesestoff

1. Günter Anders: Die Antiquiertheit des Menschen
2. Günter Anders: Die molussische Katakombe
3. George Thompson: The First Philosophers; dt.: Die ersten Philosophen (DäDäRäh)
4. Karl Kraus: eigentlich alles, insbesondere Die vierte Walpurgisnacht

mfg Faroer

monoma - 30. Jun, 13:40

danke für die tipps - g. anders fange ich gerade erst an, zu entdecken ("wir eichmannsöhne" sowie seine überlegungen zur gewaltfrage) - thompson hingegen ist mir bisher völlig unbekannt gewesen.

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monoma - 12. Sep, 14:48
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Den Spiegel-Artikel gibt's übrigens hier im Netz: http://www.spiegel.de/spie gel/spiegelspecial/d-45964 806.html
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Texte E.Mertz
Schönen guten Tag allerseits, ich bin seit geraumer...
Danfu - 2. Sep, 21:15

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