Ich halte Siegels Beschreibung für völlig unzutreffend. Wenn wir uns darauf einigen, dass Paranoia wohl nicht die allgemeine, aus dem Altgriechischen abgeleitete Beschreibung für ein "neben-seinen-Gedanken-Stehen" sondern die konkrete Angststörung bezeichnet (diesen Seitenhieb kann ich mir nicht verkneifen), dann ist es völlig falsch, das limbische System als "Sitz" dieser Paranoia zu verorten. Das limbische System ist weder das "Versteck des Dämon Paranoia", noch ist es der unheimliche Ort des "Es fühlt" , über den nur bedauernd festgestellt werden kann: "Wir können diese Gefühle nicht abschütteln". Diese Sätze entlarven den Autor als Vertreter jener Kaste von Psychologen, die Gefühle schlicht als Irritationen begreifen und irrigen Vorstellungen hinsichtlich der Überlegenheit der Ratio erliegen. Zur Paranoia soll hier vorläufig einmal angemerkt werden, dass die Vernunft einen nicht unwesentlichgen Anteil an ihrer Entstehung hat.
Das limbische System ist eine unverzichtbare Überlebenssteuerung und sie funktioniert bei der überwiegenden Mehrheit der Säugetiere völlig problemlos, ohne dass diese jemals Gefahr liefen, paranoid zu werden. Zu einer derart verzerrten Beschreibung dieses Gehirnteils kann Siegel nur kommen, indem er die Entstehungsbedingungen der Paranoia ausblendet. Paranoia entsteht gerade dann, wenn die Bewältigungsmechanismen, die das limbische System anbietet, nämlich Flucht oder Verteidigung, eben nicht genutzt werden können oder dürfen. Wenn etwa Verletzungen durch Bezugspersonen, auf die ein Kleinkind angewiesen ist, zugefügt werden, und das Kind entweder noch nicht in der Lage ist oder daran gehindert wird, sich zu seiner Rettung zu verteidigen oder zu fliehen. Die eingeleiteten Stressreaktionen können so nicht ausgeführt werden, die Erregung des limbischen Systems wird chronifiziert.
Erst im Zusammenspiel mit den rationalen Bewältigungsmeschanismen entsteht dann so etwas wie Paranoia. Der Intellekt muss für die vorhandene Hypervigilanz, Übererregung und Angst eine Erklärung finden und sucht nach Mustern, um diese Erklärung geben zu können. So entsteht das, was wir paranoides System nennen: eine ausgefeilte Rationalisierung für das Fortbestehen des ursprünglichen Schreckens, der zum Zeitpunkt seines Entstehens eine natürliche Stressantwort war.
Paranoia ist eine Überlebensstrategie - die erst im Zusammenspiel mit dem Neocortex entsteht. Wenn man freilich an diese Sache so ahistorisch herangeht wie Siegel, wird man alle möglichen Begleiterscheinungen, die das paranoide System so mit sich bringt, kausal erklären wollen und das geht daneben.
Kontrollzwang ist etwa auch eine Folge der Gefahrenabwehr und daher eine Überlebensstrategie. Sie unterscheidet sich aber qualitativ von der Kontrolllust der soziopathischen Persönlichkeit. Vermutlich sind die Wurzeln des Kontrollverhaltens bei Soziopathen wie Paranoikern gar nicht so verschieden: es liegt aber nahe, dass die physiologische Schädigung beim Soziopathen wesentlich schwerer ist als beim Paranoiker.
Etwas anderes noch: Der Fall "Gladio" ist ein denkbar schlechtes Beispiel für eine Verschwörungstheorie. Seine Umstände und die historische Realität dieser "Strategie der Spannung" konnten vom Schweizer Historiker Daniele Ganser detailliert untersucht und erhellt werden und wurden von führenden Persönlichkeiten der italienischen Politik (z.B. Andreotti) bestätigt. Die Gladio-Verschwörung ist eine unwiderlegbare historische Realität. "Nur weil man paranoid ist, heisst das noch lange nicht, dass man nicht tatsächlich verfolgt wird" ;-))
anmerkungen dazu: siegel ist kein psychologe, sondern - nach dem, was sich seinen büchern entnehmen lässt - ein als forensiker tätiger psychiater, der sehr neurobiologisch ausgerichtet ist. ich denke, die daraus folgenden blinden flecken seiner wahrnehmung, besonders was die möglichen hintergründe vieler paranoider zustände betrifft, habe ich benannt.
und das er sich meiner meinung nach zu sehr auf bestimmte prozesse im gehirn - unter vernachlässigung des jeweiligen weiteren kontextes - focussiert, habe ich zumindest umschrieben. wobei ich finde, das seine betonung des limbischen systems in der frage der entstehung eher eine sache der perspektive ist: vermutlich ist es eh in den meisten fällen unzutreffend, für einen beliebigen psychophysischen zustand immer eine bestimmte hirnregion als "verursachend" zu benennen, wenn man aber diese ansicht nicht teilt - und das unterstelle ich siegel - dürfte schlüsse wie seiner durchaus logisch erscheinen. vielleicht können wir uns für den moment darauf einigen, dass das limbische system bei der von dir genannten unterdrückung der eigentlich vorgesehenen reaktionen bezgl flucht/kampf erst in einen zustand gerät, der die paranoia erzeugt?
zu anderen aspekten wird demnächst noch ein update des beitrags kommen.
ach ja, gladio: habe ich etwas anderes behauptet? mir ging es eher darum zu zeigen, das nicht alles, was zunächst wie eine verschwörungstheorie aussieht, auch nur eine theorie ist. gladio ist eher ein beleg dafür, wie real selbst die wüstesten geschichten sein können.
viele grüße,
mo
sansculotte - 16. Jun, 16:13
Hallo Monoma
*gg* Durch meine gestrige Fixierung auf den Ärger (halbsowild), vergaß ich ganz, mich bei Dir für all die Mühe der Aufarbeitung und Aufbereitung dieses Themas zu bedanken. Inhaltlich können wir uns definitiv auf die von Dir vorgeschlagene Formel zu Siegel einigen.
Bei nochmaligem Lesen ist mir deutlich geworden, dass Du Gladio tatsächlich als reale Verschwörung begreifst. Hab ich zunächst überlesen, sry dafür.
Eine erste Verärgerung
Das limbische System ist eine unverzichtbare Überlebenssteuerung und sie funktioniert bei der überwiegenden Mehrheit der Säugetiere völlig problemlos, ohne dass diese jemals Gefahr liefen, paranoid zu werden. Zu einer derart verzerrten Beschreibung dieses Gehirnteils kann Siegel nur kommen, indem er die Entstehungsbedingungen der Paranoia ausblendet. Paranoia entsteht gerade dann, wenn die Bewältigungsmechanismen, die das limbische System anbietet, nämlich Flucht oder Verteidigung, eben nicht genutzt werden können oder dürfen. Wenn etwa Verletzungen durch Bezugspersonen, auf die ein Kleinkind angewiesen ist, zugefügt werden, und das Kind entweder noch nicht in der Lage ist oder daran gehindert wird, sich zu seiner Rettung zu verteidigen oder zu fliehen. Die eingeleiteten Stressreaktionen können so nicht ausgeführt werden, die Erregung des limbischen Systems wird chronifiziert.
Erst im Zusammenspiel mit den rationalen Bewältigungsmeschanismen entsteht dann so etwas wie Paranoia. Der Intellekt muss für die vorhandene Hypervigilanz, Übererregung und Angst eine Erklärung finden und sucht nach Mustern, um diese Erklärung geben zu können. So entsteht das, was wir paranoides System nennen: eine ausgefeilte Rationalisierung für das Fortbestehen des ursprünglichen Schreckens, der zum Zeitpunkt seines Entstehens eine natürliche Stressantwort war.
Paranoia ist eine Überlebensstrategie - die erst im Zusammenspiel mit dem Neocortex entsteht. Wenn man freilich an diese Sache so ahistorisch herangeht wie Siegel, wird man alle möglichen Begleiterscheinungen, die das paranoide System so mit sich bringt, kausal erklären wollen und das geht daneben.
Kontrollzwang ist etwa auch eine Folge der Gefahrenabwehr und daher eine Überlebensstrategie. Sie unterscheidet sich aber qualitativ von der Kontrolllust der soziopathischen Persönlichkeit. Vermutlich sind die Wurzeln des Kontrollverhaltens bei Soziopathen wie Paranoikern gar nicht so verschieden: es liegt aber nahe, dass die physiologische Schädigung beim Soziopathen wesentlich schwerer ist als beim Paranoiker.
Etwas anderes noch: Der Fall "Gladio" ist ein denkbar schlechtes Beispiel für eine Verschwörungstheorie. Seine Umstände und die historische Realität dieser "Strategie der Spannung" konnten vom Schweizer Historiker Daniele Ganser detailliert untersucht und erhellt werden und wurden von führenden Persönlichkeiten der italienischen Politik (z.B. Andreotti) bestätigt. Die Gladio-Verschwörung ist eine unwiderlegbare historische Realität. "Nur weil man paranoid ist, heisst das noch lange nicht, dass man nicht tatsächlich verfolgt wird" ;-))
Gruß, s
hallo sansculotte,
anmerkungen dazu: siegel ist kein psychologe, sondern - nach dem, was sich seinen büchern entnehmen lässt - ein als forensiker tätiger psychiater, der sehr neurobiologisch ausgerichtet ist. ich denke, die daraus folgenden blinden flecken seiner wahrnehmung, besonders was die möglichen hintergründe vieler paranoider zustände betrifft, habe ich benannt.
und das er sich meiner meinung nach zu sehr auf bestimmte prozesse im gehirn - unter vernachlässigung des jeweiligen weiteren kontextes - focussiert, habe ich zumindest umschrieben. wobei ich finde, das seine betonung des limbischen systems in der frage der entstehung eher eine sache der perspektive ist: vermutlich ist es eh in den meisten fällen unzutreffend, für einen beliebigen psychophysischen zustand immer eine bestimmte hirnregion als "verursachend" zu benennen, wenn man aber diese ansicht nicht teilt - und das unterstelle ich siegel - dürfte schlüsse wie seiner durchaus logisch erscheinen. vielleicht können wir uns für den moment darauf einigen, dass das limbische system bei der von dir genannten unterdrückung der eigentlich vorgesehenen reaktionen bezgl flucht/kampf erst in einen zustand gerät, der die paranoia erzeugt?
zu anderen aspekten wird demnächst noch ein update des beitrags kommen.
ach ja, gladio: habe ich etwas anderes behauptet? mir ging es eher darum zu zeigen, das nicht alles, was zunächst wie eine verschwörungstheorie aussieht, auch nur eine theorie ist. gladio ist eher ein beleg dafür, wie real selbst die wüstesten geschichten sein können.
viele grüße,
mo
Hallo Monoma
Bei nochmaligem Lesen ist mir deutlich geworden, dass Du Gladio tatsächlich als reale Verschwörung begreifst. Hab ich zunächst überlesen, sry dafür.
Viele Grüße, s