basis: weiteres am roten faden - oder aus der vergangenheit für heute lernen

"(...) Die Partei übernimmt die Funktion der bisherigen Gesellschaft, das ist es, was ich Ihnen klar machen wollte. Die Partei ist allumfassend. Sie regelt das Dasein in seiner ganzen Breite und Tiefe. Es ist daher notwendig, daß wir Gliederungen entwickeln, in denen sich das ganze Einzelleben abspielen muß. Jede Tätigkeit und jedes Bedürfnis jedes einzelnen wird demnach von der durch die Partei vertretenen Allgemeinheit geregelt. Es gibt keine Willkür mehr, es gibt keine freien Räume, in denen der einzelne sich selbst gehört (!). (...) Die Zeit des persönlichen Glücks ist vorbei (!!!). Wir werden dafür ein Gemeinschaftsglück empfinden. Gibt es etwas Beglückenderes als eine nationalsozialistische Versammlung, in der man sich eins fühlt, Redner und Zuhörer? Es ist das Glück der Gemeinsamkeit (...)"

(Hermann Rauschning, "Gespräche mit Hitler", S. 176 - 181; zitiert nach: Bloch, Charles: "Die SA und die Krise des NS-Regimes 1934", S.146/147, Suhrkamp 1970)


* (edit am 02.03.06: zum obigen zitat ist eine korrektur wegen der folgenden informationen dringend notwendig:

"Aus Rauschnings Werk "Gespräche mit Hitler" wurde lange Zeit von Historikern umfangreich zitiert. 1985 veröffentlichte der Schweizer Geschichtslehrer Wolfgang Hänel aber das Geständnis des Presseagenten und Verlegers Imre Révész (alias Emery Reeves), der den Exilanten Rauschning im Sommer 1939 in Zürich überredet hatte, seine Begegnungen mit Hitler mit möglichst vielen wörtlichen Zitaten aufzuschreiben. Dem kam der damals mittellose Rauschning nach, und es entstand ein Bestseller. Historikern wie Theodor Schieder war schon vorher aufgefallen, dass Rauschning mit Hitler keineswegs so eng befreundet war, wie er glauben machen wollte: Nur ganz wenige Begegnungen zwischen den beiden sind wirklich belegt, und alle fanden im öffentlichen Rahmen statt. Die Gespräche werden deshalb fast überall in der akademischen Forschung als Fälschung angesehen."

die oben zitierte wiedergabe aus einem ansonsten durchaus lesenswerten buch von c. bloch kann als beispiel für die erwähnte "umfangreiche zitierung" gelten - mir waren diese infos bis vor kurzem nicht bekannt, und deshalb möchte ich mich für das fehlzitat bei den leserInnen hier entschuldigen. vielleicht aber als anmerkung noch das: auch wenn rauschning also einen klassischen fake produziert hat, so ist doch die inhaltliche tendenz der hitler zugeschriebenen äußerungen imo nicht völlig an den haaren herbeigezogen - es existieren von diversen naziführern überlieferte (und verbürgte) äußerungen, die in ihrer tendenz auf ein ähnliches szenario hinauslaufen, wie rauschning es oben fiktiv hitler zuschreibt. dazu dürften seine ganz eigenen erfahrungen innerhalb des ns kommen, die er gleichfalls als inspiration für seine konstrukte genutzt haben mag. trotzdem rechtfertigt das keinesfalls eine direkte fälschung der art, wie ich sie oben zur ansicht stehenlasse.)*

zwei der grössten fehler bei einer beschäftigung mit dem nationalsozialismus (ns) sind imo diese: einmal das desinteresse bzw. die unfähigkeit dazu, den charakter des ns als den einer echten anti-utopie mit tatsächlich im wahrsten sinne des wortes wahnsinniger zielsetzung nachvollziehbar herauszuarbeiten. und zum anderen, die faszination eben dieses wahnsinns für viele zeitgenossen damals heute nachvollziehbar (soweit möglich) zu machen. und dergestalt a) ein echtes verständnis zu wecken und darüber b) letztlich auch resistenz gegenüber dieser faszination zu erzeugen. gerade diese faszination des ns wird heute immer noch stark tabuisiert - und das ist ein gefährlicher fehler, der sich noch einmal ganz böse bemerkbar machen könnte.

ich habe hier zwei zitate aneinander gestellt, in denen die beiden oben erwähnten aspekte deutlich werden: das hitler-zitat macht sehr deutlich, was mit dem wort "totalitär" bzgl. des ns gemeint ist - tatsächlich war die völlige auslöschung jeglicher individualität angestrebt! und die nazis haben auf ihrem weg dahin auch nicht gezögert. der sofort nach der machtübernahme beginnende ausbau der parteistruktur der nsdap zu einem parallelstaat, mit eigenen behörden und ämtern, die zu den "regulären" staatlichen institutionen sofort in eine teils erbitterte konkurrenz (was die zuständigkeiten und entscheidungsbefugnisse anging) trat, lässt sich als der erste schritt zum oben erwähnten ziel deuten.

der "nationalsozialistische geist" sollte derart in allen relevanten gesellschaftlichen bereichen fuß fassen und dadurch wirklich jeden "volksgenossen" zu einer reaktion zwingen, welche dann weitere maßnahmen nach sich ziehen konnte. wer einmal die gelegenheit hat,die flut von richtlinien, direktiven, anordnungen, denkschriften usw. zu besichtigen, mittels derer im ns auch noch die politikfernste frage oder alltägliche problemstellung angegangen worden ist, wird beeindruckt sein (ich bin´s jedenfalls immer wieder). es gab praktisch kein denkbares feld für die nazis - sei es nun der sport, die technik, die moralischen vorstellungen der leute oder auch ihr intimleben - bei dem nicht eine völlige transformation der bisher existierenden gesellschaftlichen normen und regeln auf dem plan gestanden hätte.

"die zeit des persönlichen glücks ist vorbei" - mag solcher ausspruch heute auch für die meisten (glücklicherweise) völlig absurd klingen, so war er doch vom harten kern der nazibewegung bitter ernst gemeint. ich nenne das anti-utopie pur. was stattdessen an diese stelle treten sollte, und in einem gewissen rahmen auch getreten ist, macht das folgende zitat deutlich:

"(...) Es gibt ein weiteres Schlüsselerlebnis für mich in der Hitlerjugend, von dem ich meine, daß es ganz typisch ist. Kein intellektuelles Erlebnis, aber es schließt an die Frage an, die Sie mir gestellt haben. Bei einer Sonnwendfeier hatte ich meinen ersten Orgasmus. Da war ich zwölf. Die ganze aufkommende Sexualität wurde umgelenkt auf diese Erlebnisse. Es war im Herbst 1933.

Ich erlebte die erste große Kundgebung der Hitlerjugend, der Jungen und Mädel zwischen 10 und 18. Es war in Hameln. Wir hatten uns versammelt auf einem Platz, die Fackeln wurden ausgeteilt, jeder kriegte eine. Das hatte ich bisher nur bei Erwachsenen gesehen. Dann mußten wir uns - was vorher sehr geübt worden war - aufstellen im Glied. Dann ging jemand um und steckte die Fackeln an. Ich erinnere mich noch an ein umheimlich tolles Gefühl von Weihe und Heiligkeit und unerhörter Verzauberung, wie ich dann dieses Feuer in der Hand hatte. Dann bewegte sich dieser ellenlange Zug durch Hameln, und die Leute standen am Straßenrand. Da sah man keine Gesichter, sondern nur eine unklare Mauer von Menschen. Und es waren viele, die am Straßenrand standen. Viele, viele - dieses Gefühl von vieIe“!

Das ist überhaupt bei mir mit diesem Erlebnis verbunden - von "unheim1ich viele“ und ein kleiner Bestandteil von etwas ungeheuerlich Großem zu sein! Die Reihen bewegten sich, voran hörte man die Musik, im Gleichschritt war ich als ein Glied dieses glühenden Zuges eingeschlossen. Und der Gedanke war in mir, dieses Gefühl, in dem alles sonst verbrennt: Wir, das sind wir. Und dann kommen wir ins Stadion. Fanferen schmettern von oben her. In der Mitte des Stadions brannte ein riesengroßer Holzstoß, auf der Tribüne waren Pylonen, mit Feuern, die ganze Tribüne war voller Fahnen. Die HJ hatte ja die rote Fahne mit dem weißen Querbalken in dem weißen Feld mit dem Hakenkreuz in der Mitte. Wir zogen an diesen lodernden Flammen, von denen die rotlodernden Fahnen nicht zu unterscheiden waren, vorbei, und jeder warf seine Fackel im Vorbeigehen in den großen Holzstoß hinein, jeder machte ihn so noch heller und heißer. Das Gefühl, ich werde selbst ein Teil von diesem großen Brand. Das ist mein Begriff heute. Ich habe das damals bestimmt nicht gedacht, aber empfunden. Ich konnte fast nicht mehr atmen vor Beklemmung, ich bin nun auch ganz besonders eindrucksfahig, das weiß ich, aber ähnlich haben das bestimmt alle empfunden, die dabei waren.

Ich habe nicht etwa das Gefühl von Ausgelöschtsein, sondern ganz im Gegenteil dieses Gefühl von Aufgehobensein gehabt. Und dann sind wir auf die Tribünen verteilt worden, das war ja alles glänzend organisiert. Es wurde langsam dunkler. Auf den Rängen in diesem Stadion standen sie nun alle, die Jungen in ihren braunen Hemden, die Mädel in weißen Blusen und dunkelblauen Röcken. Wir standen gegenüber von diesen Pylonen und Fahnen. Und da stand dann auch ein ganz großer Fanfarenzug. Und die spielten während des ganzen Einzugs. Das weiß ich noch. Es war so ein einziger, sehr gekonnter Eintopf von Musik und akustischen und optischen und was weiß ich für Eindrücken.

Sinnliche Eindrücke, das ist ganz wichtig! Und zwar mit Absicht sinnliche Eindrücke! Das war gekonnt gemacht. Und dann auf einmal schwiegen die Fanfaren, sank eine Stille über dieses Riesenstadion, in dem man nur noch das Feuer knistern ~ und den Lichtschein sich mit den Sternen am Himmel verbinden sah. Und einmal brachen diese Fanfaren los, mit einem einzigen Stoß, und die vielen hundert jungen Stimmen in diesem Stadion in dieser feuerlodernden Nacht jubelten hinaus: ... “....ein junges Volk steht auf zum Sturm bereit!“ Also wie ein Schrei! - Ein tolles Lied - "... zum Sturm bereit, reißt die Fahnen höher, Kameraden, wir fühlen nahen unsre Zeit, die Zeit der jungen Soldaten!“ Ich muß es beinahe singen!

(Doris K.: "Wer sich dem Reich verschrieb, ist ein Gezeichneter". Erinnerungen einer Frau vom Jahrgang 1924; in: Steinbach, Lothar: Ein Volk, ein Reich, ein Glaube? Ehemalige Nationalsozialisten und Zeitzeugen berichten über ihr Leben im Dritten Reich, S. 79/80; ISBN 3-8012-0084-1)


*

"Von dem schmählichen Glauben, daß das Leben zur Lust da sei, von dieser echt jüdischen Lustseuche, will ein Unfaßbares in den Massen ja schon lange los; der `Himmel auf Erden´ zieht nicht mehr recht..."

(Alfred Rosenberg [chefideologe der nsdap] im Vorwort zu: Dietrich Eckart, Ein Vermächtnis; zitiert nach: Theweleit, Klaus "Männerfantasien", Bd. 2, Stroemfeld/Roter Stern 1985, S. 14)


*

wie dieses neue "paradies", welches auf ganz bestimmten psychophysischen voraussetzungen gründete, zu denen auch eine unbedingte totale hierarchisierung zählte, für diejenigen aussah, die in dieser hierarchie nicht nur ganz unten standen, sondern über kurz oder lang mittels massenmord systematisch herausbefördert werden sollten, macht - neben einigen anderen sehr interessanten dingen - das folgende, schon berühmte zitat des italienischen auschwitz-überlebenden primo levi deutlich, der sich als chemiker eine zwangsarbeitsstelle im kz "ergattern" konnte, welche ihm das physische überleben gesichert hat:

"Pannwitz ist hochgewachsen, mager und blond; er hat Augen, Haare und Nase, wie alle Deutschen sie haben müssen, und er thront fürchterlich hinter einem wuchtigen Schreibtisch. Ich, Häftling 174 517, stehe in seinem Arbeitszimmer, einem richtigen Arbeitszimmer, klar, sauber und ordentlich, und mir ist, als müßte ich überall, wo ich hinkomme, Schmutzflecken hinterlassen.

Wie er mit Schreiben fertig ist, hebt er die Augen und sieht mich an.

Von Stund an habe ich oft und unter verschiedenen Aspekten an diesen Doktor Pannwitz denken müssen. Ich habe mich gefragt, was wohl im Innern dieses Menschen vorgegangen sein mag und womit er neben der Polymerisation und dem germanischen Bewußtsein seine Zeit ausfüllte; seit ich wieder ein freier Mensch bin, wünsche ich mir besonders, ihm noch einmal zu begegnen, nicht aus Rachsucht, sondern aus Neugierde auf die menschliche Seele.

Denn dieser Blick wurde nicht zwischen zwei Menschen ausgetauscht. Könnte ich mir aber bis ins letzte die Eigenart jenes Blicks erklären, der wie durch die Glaswand eines Aquariums zwischen zwei Lebewesen getauscht wurde, die verschiedene Elemente bewohnen, so hätte ich damit auch das Wesen des großen Wahnsinns im Dritten Reich erklärt.

Was wir alle über die Deutschen sagten und dachten, war in dem Augenblick unvermittelt zu spüren. Der jene blauen Augen und gepflegten Hände beherrschende Verstand sprach: `Dieses Dingsda vor mir gehört einer Spezies an, die auszurotten selbstverständlich zweckmäßig ist. In diesem besonderen Fall gilt es, festzustellen, ob nicht ein verwertbarer Faktor in ihm vorhanden ist.´ Und in meinem Kopf, gleich Kernen in einem hohlen Kürbis: `Die blauen Augen und blonden Haare sind von Grund auf böse. Jede Verständigung ist ausgeschlossen. Ich bin spezialisiert in Bergbau-Chemie. Ich bin spezialisiert in organischen Synthesen. Ich bin spezialisiert...."

(Primo Levi "Ist das ein Mensch?"; Hanser, München 1988; S. 112 - 113; ISBN 3-446-15 125-7)


der pannwitzblick ist irgendwann als begriff v.a. in der selbsthilfebewegung von behinderten menschen als synonym für einen durch und durch kalten, objektivistischen und selektierenden blick - oder besser, die mentalität - noch besser: einen bestimmten wahrnehmungsmodus hinter diesem blick - übernommen worden.

levi hat hier etwas beschrieben, dessen volle bedeutung sich erst dann erschliesst, wenn ein verständnis für menschliche möglichkeiten bezgl. der eigenen wahrnehmungsmodi vorhanden ist. ich möchte für den moment nur zwei punkte anmerken:

erstens spricht einiges dafür, den pannwitzblick als einen extrem autistischen blick im sinne von objektwahrnehmung und empathielosigkeit anzusehen.

zweitens aber: dieser blick ist eine allgemein menschliche option, die allerdings nur unter ganz bestimmten bedingungen im sozialen bereich aktiviert wird, wo sie definitiv wegen ihrer unglaublichen destruktiven potenz nicht hingehört. aber genau das letztere ist eben heute, hier und jetzt in dieser kultur nicht erst seit gestern der fall. die basis des naziwahns, die basis von auschwitz ist damit weiterhin als virulent und aktiv anzusehen.
quirinus - 12. Aug, 03:21

Aber nicht doch. Dergleichen gibt es, wie der Fall Sabine H. zeigt, nur im proletarisierten Osten.

monoma - 12. Aug, 20:35

"wir leben im westen, im westen ist´s am besten...."

"...lieber blau als grau", sangen "extrabreit" dazu passend schon vor zwei jahrzehnten. wobei sich der text realistischerweise so interpretieren lässt, dass der vergleich des angebotes an alkoholika aller art - in diesem land immer noch das beliebteste quasi-psychopharmaka, vermutlich weil amnesie und dummgeschwalle gleichzeitig gefördert werden - in der innerdeutschen systemkonkurrenz ständig zuungunsten der ddr ausging. nunja.

trotz allem möchte ich auch Sie hier willkommen heissen, von blog zu blog grüßen - und danke für die verlinkung sagen.

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