assoziation: cyborgs oder der dringende wunsch, den eigenen körper verlassen zu wollen

das, was z.b. in diesem artikel an theoretischen fragmenten dargestellt wird - das ist etwas, was ich mittlerweile ebenso wenig als nette intellektuelle spielerei verstehe wie die entsprechenden entwürfe in science fiction oder auch in den einschlägigen wissenschaftlichen sparten, hier v.a. die gen- und biotechnologien sowie der bereich "künstliche intelligenz".

woher kommt dieser wunsch, sich selbst in etwas anderes zu verwandeln? unter welchen sozialen bedingungen entstehen derlei - hm, bedürfnisse?

etwas, was ich selbst vor ca. 5 bis 6 jahren geschrieben habe:


Ich möchte ein Cyborg sein
in all diesen Welten
in all m e i n e n Welten
Völlig synthetisch
zwischen Quecksilberbergen
an Cadmiumstränden
bestrichen von Wellen aus purer Säure
Einsam und stolz
stände ich da
mit Infrarotblick
und Ultraschallgehör
Frostklare Wahrnehmung
präzisester Ordnung
Wandelnd auf Stahlgelenken
in unendlich leerer Weite
Ohne Schmerzen
Ohne Hunger
Ohne Gefühle
Endlich FREI!


raten Sie mal, wie´s mir in dieser phase ging - richtig, beschissen. viele "psychos", und ein grundsätzliches unwohl-fühlen in mir selbst, mit mir selbst, in letzter konsequenz natürlich mit meinem körper, der ich bin. ich kann diese tendenz jetzt verstehen als quasi impulsiven versuch, das, was mir in solchen momenten unerträglich scheint, grundsätzlich zu verlassen. unsere wahrnehmung, auf der die welt letztlich basiert - in dem sinne, das die menschliche wahrnehmung die pforte, das nadelöhr darstellt, durch das wir quasi "in die welt" und umgekehrt kommen - unsere wahrnehmung ist voll und ganz gebunden an unsere materielle körperlichkeit. und das bedeutet nicht nur nase, ohren und augen, sondern eben auch solche eher unbekannten, nichtsdestotrotz elementaren wahrnehmungsarten wie die propriozeptive und vestibuläre wahrnehmung, die nach allem, was wir heute wissen können, einen wesentlichen teil der grundlagen unseres selbstgefühls ausmacht. das, was als "psychische störungen" bekannt ist, dürfte real tatsächlich in einer absoluten mehrzahl aller fälle damit zu tun haben, das aus bestimmten gründen diese körperliche basis, v.a. die grundlegenden wahrnehmungsfähigkeiten (die propriozeptive form ist aus heutiger perspektive vermutlich die allererste wahrnehmungsebene, die sich in der pränatalen phase zuerst entwickelt), nicht (mehr) "erreichbar", nicht (mehr) bestandteil der eigenen erlebten subjektivität sind. und wenn das passiert, wird die welt im wahrsten sinne des wortes un-sicher. (btw: bei menschen mit klassisch autistischen störungen sind immer auch genau diese elementaren wahrnehmungsebenen mehr oder weniger stark in ihrer funktion, vermutlich sogar strukturell, eingeschränkt.)

als ausweichoption bietet sich dann mehr oder weniger zwangsläufig der eigene kopf an, mit den spezifisch menschlichen fähigkeiten der instrumentellen vernunft und des verstandes - das reich der grenzenlosen intellektualität, mit deren hilfe sich erklärungen, fiktionen etc. zusammenkonstruieren lassen - quasi als ersatz für die ausgefallene realitätsgewißheit, die uns ansonsten eben über unseren körper quasi selbstverständlich vermittelt wird. fluchtpunkt und refugium (wie bspw. in tagträumen), wenn das, was über die wahrnehmungskanäle hereinströmt, entweder völlig unerträglich oder aber aus sonstigen gründen nicht mehr zu bewältigen ist (zu diesen sonstigen gründen zählen im übrigen auch strukturelle schäden in gehirn und nervensystem(-en), wo der "korrekte" empfang und die verarbeitung der wahrnehmungsimpulse stattfindet).

ich habe selbst einige therapieerfahrung, wobei eben gerade die körpertherapeutischen ansätze mir am meisten geholfen haben. das ich hier und anderen stellen im netz für etliche sehr intellektuell und rational rüberkomme, hat einfach damit zu tun, dass das in meinen augen die dem netz angemessene darstellungsebene bildet - als quasi autistisches, weil komplett virtuelles, d.h. "kopfgebundenes" medium, ist das internet völlig ungeeignet, tatsächlich sinnliche erfahrungen zu transportieren. das geht einfach nicht, weil dafür die grundvoraussetzungen schlicht fehlen, wie z.b. die körperlich-sinnliche anwesenheit anderer menschen. und alles, was im netz an kontakten stattfindet, kann letztlich nur einleitenden charakter für reale begegnungen besitzen. mit einer ausnahme: diese ausnahme sind diejenigen, für die sich ihre ganze existenz quasi sowieso bereits im kopf, d.h. virtuell, abspielt. für diese bilden die elektronischen beziehungssurrogate, die sich hier finden lassen, in einem teils erschreckenden ausmaß ihre ganze realität. eine defekte form der realität, um es genau zu sagen. es sind die, die in der matrix leben - mit weitgehend lahmgelegtem körper, der nicht wirklich als identisch mit dem eigenen selbst empfunden werden kann.

und damit bin ich wieder beim cyborg angelangt, bzw. bei den wünschen und bedürfnissen, die sich u.a. auch in meinen eigenen zeilen oben widerspiegeln. ich bin inzwischen der meinung, dass die grundlegende motivation, die sich in solchen kulturellen produktionen zeigt, tatsächlich etwas mit der real vorhandenen zwischenmenschlichen gewalt zu tun hat - gewalt u.a. solcher "qualität", wie sie hier in anderen beiträgen inzwischen oft genug beschrieben und dargestellt wurde. konkret und real ist gewalt
  • tatsächlich für uns menschen unerträglich
  • greift die volle subjektivität an
  • zwingt - um zu überleben - zur wahrnehmungsreduktion ("das ist nicht wirklich mir passiert", eine ausgangsposition für das, was in der psychologie als dissoziation bekannt ist)
  • greift direkt oder indirekt die menschliche körperlichkeit an (gerade mit verheerenden folgen bei sexualisierter gewalt - aber nicht nur dort)
  • und darüber kann es eben auch zu beeinträchtigungen bis schweren störungen der gesamten wahrnehmungsfähigkeiten kommen
die mögliche - und oft zu beobachtende - folge ist eine quasi unfreiwillige und teils extreme distanzierung vom eigenen körper - "aus sich selbst vertrieben worden sein", so ist z.b. mein spontaner eindruck von vielen menschen, von denen ich weiß, dass sie selbst gewalt in verschiedensten formen erleben mussten (und auch eine, glücklicherweise seltener werdende, eigene wahrnehmung meiner selbst).

es dürfte auch kein zufall sein, dass einer der vorläufer der heutigen cyborgs - der golem der jüdischen mythologie - von seinen erschaffern als mächtiger helfer gegen die damalige real verfolgende mitwelt gedacht war. von hier bis zur konsequenz, selbst zu einer art unbesiegbarem und unverwundbaren geschöpf zu werden, ist es nur noch ein kleiner schritt.

warum aber sollte jemand, der/die sich in sich und seiner/ihrer körperlichkeit sicher und wohl fühlt, den wunsch entwickeln, sich eben von dieser körperlichkeit und den damit untrennbar verbundenen vielfältigen beschränkungen und grenzen "befreien" zu wollen, sich eine neue identität verschaffen zu wollen? es macht, egal aus welcher perspektive betrachtet, keinen sinn - es macht aber dann einen sinn, wenn die ureigene menschliche körperlichkeit eben nicht mehr oder nur noch fragmentarisch als eigenes selbst empfunden wird bzw. werden kann - die bewegung hin zu fiktiven sphären, in denen die heimat ebenso fiktiver selbstentwürfe oder der konstruktion von mächtigen wesen zu suchen ist, stellt sich aus dieser perspektive als eine determinierte, also unfreie und defensive reaktion auf tatsächlich unerträgliche realitäten dar. und das ist eben vielleicht auch am besten in jenen feministischen strömungen zu sehen, die ernsthaft in der "befreiung" von der eigenen körperlichkeit letztlich eine tendenz weiterführen, die ebenso ein nietzsche in seinem konzept vom "übermenschen" bereits entwirft. zufällig ist das weder im einen noch im anderen fall - gerade frauen haben eine vielfältige und leidvolle erfahrung mit angriffen auf die eigene subjektivität und körperlichkeit (bei männern dürfte das imo ebenfalls eine rolle spielen, wobei hier die bereits sowieso weiter fortgeschrittene entfremdung von eigener körperlichkeit und sinnlichkeit eine rolle spielt).

eine kultur aber, die derartige erlösungsphantasien produziert bzw. überhaupt als bedürfnis entstehen lässt - eine solche kultur verweist selbst auf grundsätzliche fehler in ihrem begriff vom menschsein und leben überhaupt. und ich persönlich würde das zuspitzen: eine solche kultur hat ausgespielt und ist erledigt - quasi ein zombie, der noch nicht bemerkt hat, dass er bereits mausetot ist.
Wednesday (Gast) - 2. Sep, 14:55

zB Tiere

Menschen haben sich anscheinend auch immer schon mit Tieren identifizieren können, durch magische Riten Verwandlungen erlebt; ich erinnere mich, daß ich als Kind ein bestimmtes, Stärke und Stolz symbolisierendes Tier sein wollte, um wegzurennen und frei in der Wildnis zu leben. Naja. ;-)

Vielleicht ist der Cyborg ein sehr fremder, seltsamer _Fortschritt_. Tiere jedenfalls waren in fast allem dem Menschen voraus, in Größe, Kraft, Gewandtheit besonders spezialisiert und zumeist nicht angewiesen auf komplizierte Behausungen, Wärmequellen und selbsterdachte Werkzeuge, weil spezialisiert auf ihre Umgebung. Ein Unterschied ist aber wohl der, daß der, der sich in einem Ritus in einen Adler verwandelt, sich trotzdem auch in seinem menschlichen Körper zuhause und vollständig fühlt. Fiel mir in der Mittagspause ein, ist vielleich Quatsch und passt net so recht hierher.

monoma - 2. Sep, 15:49

ja, im schamanismus z.b. ....

...wobei ich selbst bisher den eindruck habe, dass es tatsächlich einige phänomene gibt - wie z.b. die dissoziation, welche in form diverser trance-techniken von verschiedensten schamanistischen richtungen genutzt wird - deren jeweilige interpretation und bedeutung völlig kulturabhängig ist.

passt "irgendwie" aber schon - es gibt imo eine palette menschlicher optionen der wahrnehmung, von denen jede bekannte kultur jeweils nur bestimmte "farben" nutzt, und die "falschen" sogar notfalls bekämpft. worum es mir in diesem blog u.a. geht, ist ein in meinen augen extremes ungleichgewicht innerhalb dieser kultur zugunsten all dessen, was als "objektivität" gehandelt wird. ich glaube, gerade aus verschiedenen schamanistischen strömungen lässt sich auch für uns einiges relevante lernen - über uns selbst.

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