assoziation: anmerkungen zum ganzen komplex schule/heime, kirche, gewalt gegen kinder etc. (3)

zum ersten und zweiten teil.

*

4. vor den im letzten beitrag geschilderten hintergründen wird vielleicht deutlich, warum ich bspw. die diskussion um das sog. zölibat in der katholischen kirche für nicht weitreichend genug halte - das zölibat sowie die spezifisch ideologischen inhalte der sekte - strafender gott, die konzepte von schuld, sühne, büße etc. - werden mit einiger wahrscheinlichkeit innerhalb des rahmens von totalen institutionen die verhältnisse nochmals verschärfen / brutalisieren, spezifisch ausformen und vielleicht auch für die auffällige menge sexualisierter gewalt innerhalb kirchlicher gemäuer mitverantwortlich sein, ursächlich jedoch - und dafür reicht ein blick auf und in andere totale institutionen mit anderem ideologischen background - scheinen sie mir nicht im zentrum zu stehen.

5. ich muss selbst sagen, dass mir die ganze mögliche tragweite der geschichte der
ehemaligen heimkinder der alten brd trotz sporadischer beschäftigung bis dato nie so recht deutlich geworden ist. die beiträge jetzt dienen auch für mich dazu, diesbezgl. bildungslücken zu beseitigen und ein gefühl für die realität dieses - ja, nennen wir es ruhig terrorsystems, zu erhalten. und womöglich müssen im weiteren verlauf sowohl die offizielle geschichte der alten brd als auch ihr selbstbild stark korrigiert werden - die folgende geschichte jedenfalls hat mich zum staunen gebracht - der aufstand von glückstadt:

(...) "Erst seit wenigen Jahren interessiert sich die Öffentlichkeit überhaupt für das Schicksal von Heimkindern in der Bundesrepublik der fünfziger und sechziger Jahre. Seit Februar 2009 beschäftigt sich auf Initiative des Bundestags sogar ein „Runder Tisch Heimkinder“ mit dem Thema. Frühere Heiminsassen verlangen vehement Aufklärung über das geschehene Unrecht. Eine Einrichtung im schleswig-holsteinischen Glückstadt tat sich in dieser Hinsicht besonders hervor. Vor genau 40 Jahren, in der Nacht vom 7. zum 8. Mai 1969, gab es dort einen Aufstand von Heimzöglingen, der möglicherweise sogar mit Hilfe von Marinesoldaten niedergeschlagen wurde. Unter den rebellierenden Jugendlichen, die als Strafe teilweise KZ-Kleidung tragen mussten, war auch der spätere RAF-Terrorist Peter-Jürgen Boock. (...)

Seit dem 1. April 1951 nannte sich die Einrichtung Landesfürsorgeheim, in das Jugendliche und junge entmündigte Erwachsene beiderlei Geschlechts eingewiesen werden konnten. Aus Mangel an geeignetem Personal griff man in dieser Zeit auch auf „vorbelastete“ Beschäftigte aus der NS-Zeit zurück. Das haben Nachforschungen der Heiminsassen beim United States Holocaust Memorial Museum in Washington ergeben. Die Besserungsanstalt war daher eher vom Charakter des Verwahrens und Wegschließens als von einer pädagogischen Erziehung geprägt. Und alle Heimzöglinge wurden zudem zu Zwangsarbeiten herangezogen. Verweigerung und Widerstand wurden mit Isolationshaft und Schlägen gemaßregelt. (...)

Der heute 57-jährige Otto Behnck aus dem schleswig-holsteinischen Schwedeneck, der im Herbst 1970 für drei Monate nach Glückstadt eingewiesen wurde, sagt rückblickend: „Man wollte uns brechen.“ Der in Kiel lebende Frank Leesemann (54) war als Jugendlicher von September 1969 bis Mitte 1971 in Glückstadt. Dort schlief er noch auf einer Matratze mit Reichsadler und Hakenkreuz. In der Kleiderkammer fiel ihm grau-weiß gestreifte Kleidung des ehemaligen NS-Arbeitslagers auf. Nach einem ersten von insgesamt über 20 Ausbruchsversuchen bekam er ein KZ-Hemd mit rotem Winkel und der Aufschrift „Außenkommando“ verpasst. Bei seiner Entlassung ließ er seine Karteikarte mitgehen, auf der das Wort Arbeitserziehungslager per Hand in Landesfürsorgeheim verändert wurde, aus „Häftling“ wurde „Zögling“, aus dem „Lagerkommandanten“ der „Heimleiter“.

Angesichts der Erzählungen von ehemaligen Heiminsassen in Glückstadt, die von Drill und Drangsalierung, von sexuellen Übergriffen und Misshandlungen berichten, die sich ausgebeutet und zum Teil um Jahre ihrer Jugend beraubt fühlen, versteht man Ulrike Meinhofs Frage in ihrem 1971 veröffentlichten Buch Bambule nach der „Fürsorge – Sorge für wen?“. Es handelte sich dabei nicht nur um Einzelschicksale, sondern um ein gesellschaftliches Phänomen, das rund 800.000 Kinder und Jugendliche betraf - mit zum Teil psychischen Folgen bis zum heutigen Tag." (...)


es sind schlicht faschistische kontinuitäten, die sichtbar werden - und zwar in sehr deutlicher offenheit, was für andere bereiche in der brd, die eher im öffentlichen licht waren und sind, nicht in dieser art zutraf - dort war zur beruhigung des publikums mehr demokratiesimulation angesagt. heimkinder hingegen? uninteressante schicksale.

all das mehr als gute gründe für eine massive revolte:

(...) "Der Auslöser des Aufstandes war dabei eher banal. Später hieß es, dass Päckchen, die den Zöglingen von Familienangehörigen zugeschickt wurden, nicht ausgehändigt worden seien. (...)

Die in Haus 1 und 2 untergebrachten 80 Heimzöglinge zündeten Matratzen und Kleidungsstücke an, rissen sanitäre Anlagen aus den Wänden, zertrümmerten Fenster wie Möbel und attackierten das Heimpersonal. Einer der Rebellierenden war der damals 17-jährige Peter-Jürgen Boock, der nach der Heimrevolte in das hessische Jugendhaus von Rengshausen verlegt wurde. Dort kam er unter anderem mit Andreas Baader und Gudrun Ensslin in Kontakt, die sich wie Meinhof für die Interessen von Heiminsassen einsetzten, und fand kurze Zeit später Unterschlupf in deren WG, ehe er selbst zum Terroristen der zweiten Generation wurde." (...)


und jetzt kommt etwas, was sich bei einer verifikation nur als echter hammer bezeichnen ließe, der die mythen der alten brd ordentlich mit rissen versehen könnte:

"Brisant im Zusammenhang mit der Glückstädter Heimrevolte sind die Aussagen des gelernten Rohrschlossers Gerd Meyer aus Schleswig. Dieser war als damaliger Zögling Augenzeuge. Der heute 57-Jährige beteuert, gesehen zu haben, wie in Glückstadt stationierte Marinesoldaten im Innenhof vorfuhren und unter Einsatz von Tränengas den Aufstand niederschlugen. „Ich kannte doch den Unterschied von Polizei- und Bundeswehruniformen, von Polizei- und Militärfahrzeugen“, sagt Meyer. Auch Boock hatte bereits auf den verfassungswidrigen Bundeswehreinsatz hingewiesen, doch wollte man ihm keinen Glauben schenken. Im Bericht des damaligen Heimleiters Walter Blank hieß es dagegen, nur 20 Heiminsassen hätten sich an den Aktionen beteiligt und man habe noch bevor die gerufene Polizei und Feuerwehr eingreifen mussten, die Lage wieder in den Griff bekommen." (...)

warum ich das gleichfalls in mehrfacher hinsicht brisant finde, erzähle ich gleich - vorher aber noch zu weiteren folgen des aufstands:

"Als einen von zwei verantwortlichen Rädelsführern benannte Oberamtmann Blank Harry Radunz, der am 31. Mai 1969 erhängt in seiner Arrestzelle aufgefunden wurde. In der Folge häufen sich kritische Zeitungsberichte über die Zustände in Glückstadt. Die Nordwoche titelte etwa „Terror im Erziehungsheim“ und „Methoden aus dem Mittelalter“. Sogar im Kieler Landtag wurde daraufhin über Glückstadt gestritten – am Ende zunächst ohne Folgen. Das anfangs stets mit 140 Zöglingen belegte Heim wurde erst wegen rückläufiger Zahlen zum 31. Dezember 1974 geschlossen.

Heute weiß man von diversen als Suizide registrierten Todesfällen." (...)


wenn man sich also dieses gesamte szenario so betrachtet - die offene nazi-kontinuität mit aller brutalität, die vielen todesfälle, den möglichen bundeswehreinsatz gegen kinder - und dazu die namen ulrike meinhof und peter-jürgen boock liest, so stellen sich im hinblick auf die raf einige zumindest für mich ganz neue fragen.

*

fragen bspw. solcher art: besitzt die bis heute immer als "abstrus" bezeichnete wahrnehmung der ersten raf-generation von der brd als quasi-faschistischem staat in den realen erfahrungen ihrer ersten beiden (gründungs-)generationen ihre eigentliche basis?

denn diese beiden ersten "terroristischen" "generationen" setzten sich zu einem großteil aus menschen zusammen, die entweder am eigenen leib - bspw. der schon genannte peter-jürgen boock,
stefan wisniewskioder auch inge viett (bewegung 2. juni), unmittelbare persönliche erfahrungen mit dem heimsystem der brd hatten oder aber, wie bspw. ulrike meinhof als journalistin, nach intensiven recherchen von diesen zuständen in den heimen wussten.

und es gibt aber noch ein zweite art der totalen institution, die zur quelle späterer raf-mitgliedschaften wurde: die psychiatrie. hier heisst das stichwort
sozialistisches patientenkollektiv:

"Einige Mitglieder des SPK wechselten (...) zur RAF, darunter Klaus Jünschke, Margrit Schiller, Lutz Taufer, Bernhard Rössner, Hanna Krabbe und Siegfried Hausner, Elisabeth von Dyck, Ralf Baptist Friedrich, Sieglinde Hofmann und mutmaßlich Friederike Krabbe."

wer die zustände in der bundesdeutschen psychiatrie ende der 1960er jahre kennt, kann etliche strukturelle gemeinsamkeiten mit der situation in den heimen entdecken. auch das dürfte für einige der raf-mitglieder, die nicht alle als patientInnen ins spk kamen, eine sehr prägende lektion gewesen sein.

und vor diesem hintergrund wird die raf-spezifische wahrnehmung des staates brd durchaus nachvollziehbarer, wie ich finde - ebenso wie die täter-opfer-dialektik es verständlicher machen kann, warum betroffene aus den totalen institutionen militant zurückschlugen gegen einen staat, der ihnen aus eigenem erleben tatsächlich mit einer faschistischen fratze begegnete.

beide aspekte halte ich zumindest für diskussionswürdig.
monoma - 8. Mär, 01:32

ergänzend...

...gehört hier noch dieser hinweis dazu.

sansculotte - 8. Mär, 15:01

Weiteres zum Thema

Wieder mal - aus leider bestürzenden Anlassfällen - eine Analyse, die es auf den Punkt bringt. Weiteres zum Thema auch auf dieser Seite

monoma - 8. Mär, 20:23

danke, den link zu emak hatte ich vergessen.
monoma - 8. Mär, 20:37

zum aufstand in glückstadt...

...findet sich online - wen wundert´s - fast nichts. 2007 brachten sowohl die "süddeutsche" als auch die "zeit" fast ähnliche artikel zum thema, die zwar die nazi-kontinuität einigermaßen korrekt beschreiben, aber mit keinem wort auf den verdacht bezgl. der rolle von bundeswehreinheiten bei der niederschlagung eingehen - zur info verlinke ich trotzdem beide:

Schläge, Zwangsarbeit und Naziuniformen

Brutale Fürsorge

inhaltlich genauer auf die zustände in diesem "heim" ging 2008 eine radiosendung ein:

"Man wollte uns brechen"

*

auch ulrike meinhofs "bambule"-film ist übrigens online nicht vorhanden, ich weiß allerdings nicht, ob er nach seiner erstausstrahlung 1994 in einigen dritten programmen überhaupt noch mal gesendet worden ist. dabei wäre er heute eigentlich sehr aktuell und aufschlussreich, um einen anderen blick auf das milieu der heime ende der der 1960er zu bekommen.

archenoe - 12. Mär, 16:32

Gedankenfetzen

- Zusammenhang von Heim - Schule - Gefängnis etc. nicht zertrennen, "Horrorgeschichten" der Heimkinder sind Teil der "Normalität"? Vielleicht noch mal Foucault, "Überwachen und Strafen" lesen.
- "Terrorsystem" als Ausdruck des Herrschaftssystems? Radikalisierung des "Normalen"? Vielleicht mal wieder den frühen Fromm ("Wege aus einer kranken Gesellschaft") oder einen späteren noch nicht esoterisch-religiösen ("Anatomie der menschlichen Destruktivität") lesen?
- Sozialisationsprozesse nachzeichnen? Traumaforschung mit den sozialpsychologischen Studien der 1960er/1970er Jahren verbinden (z.B. Vinnai, "Sozialpsychologie der Arbeiterklasse. Identitätszerstörung im Erziehungsprozess") oder noch mal nachschauen, was die Auseinandersetzung zwischen Marxismus und Psychoanalyse in den 1920er/1930er und dann noch einmal in den 1960er/1970er Jahren auch heute noch sagen kann? Vielleicht auch die Deformationsanalysen eines Duhm, als er noch nicht durchgedreht war ("Angst im Kapitalismus") oder die Gewaltanalysen eines Huisken bis heute verfolgen?
- Innehalten und die "Terror- und Horrorgeschichten" aus Heimen, Internaten, Schulen usw. einerseits nicht als typisch fürs Ganze, obwohl Ausdruck des Ganzen und andererseits nicht als singuläre Abweichung begreifen?
- Ist das Menschenverwertungsprinzip so tief im Bewusstsein und der Herrschaftspraxis verankert, dass die ganz normale Deformation (Was wird da deformiert? Wie kommt man bei solcher Reflexion ohne die falsche Prämisse des naturhaft ausgestatteten Menschen aus, der ohne das "System" völlig frei wäre?) denen vorbehalten ist, die relativ problemlos verwertbar sind, während die Verwertungseingeschränkten und "Unverwertbaren" allesamt den gesteigerten Terror zu befürchten haben, der von denen fortgesetzt wird, die ihn selbst erlebt haben oder erleben?
- Irrt Harald Welzer ("Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden.") mit seiner These, dass organisierter Massenmord nicht von Sadisten, sondern von "normalen" Menschen ausgeführt wird? Ist die "normale Deformation" bereits so tief, dass auch die "Normalen" Kranke, Alte, Heimkinder, Behinderte usw. quälen können oder gar wollen?
- Wie halte ich das alles aus? Reicht mir die Beruhigung, dass ich ja noch Glück gehabt habe und "nur ganz normal deformiert" bin?
- Wie kann angesichts derartiger Verhältnisse die nötige Differenzierung einerseits und die nötige Gesamtschau der gesellschaftlichen Totalität andererseits gedanklich durchgehalten werden? Ist dieser Anspruch von vornherein zum Scheitern verurteilt? Werde ich, werden wir irgendwann "zuschlagen", wenn unsere Fähigkeit zu ertragen, aufgebraucht ist?
- Das Schwanken zwischen Zorn, Zynismus und Ohnmacht macht mich wütend.

che2001 (Gast) - 13. Mär, 18:55

Vollkommen off topic, aber Du fandest es interessant

Deswegen habe ich especially for you noch etwas ausgearbeitet:


http://che2001.blogger.de/stories/1595010/#1598375

monoma - 15. Mär, 14:56

yo...

...eine antwort jetzt bei dir.
monoma - 21. Mär, 00:03

einen weiteren nachtrag...

...gibt´s jetzt hier.

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WikiLeaks

...und hier geht´s zum

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