assoziation: der umgang mit der krise in deutschland (1) [update am 01.05.09]
und quasi als passenden prolog zum thema hören wir zunächst eine stimme aus schon recht weit entfernter vergangenheit, eine jener stimmen, die meistens unter der rubrik "deutsche klassiker" geführt werden - und ich finde es immer wieder eine schöne ironie der geschichte, wenn von hiesigen nationalisten gerade der verweis auf diese "klassiker" mit stolzgeschwellter brust herausgetönt wird, um die "überlegenheit" des volks der "dichter & denker" (die entsprechende metamorphose dieser sentenz in richter & henker ist nach wie vor höchst angemessen) zu belegen. der folgende auszug aus dem roman hyperion von hölderlin, entstanden ende des 18. jahrhunderts, eignet sich immer wieder sehr gut, um den oben genannten die erwähnte brust wieder recht schnell zusammenfallen zu lassen. und gleichfalls - das werden die vermutlich zwei weiteren folgebeiträge dieser minireihe zeigen - hat hölderlin da bereits vor langer zeit einige typische atmosphärische und verhaltensmässige folgen von weit verbreiteten traumatischen sozialstrukturen mittels wortgewaltiger sprache eingefangen, die sich insgesamt zu etwas komprimieren lassen, was unter dem in die irre führenden begriff von der "deutschen mentalität" bis heute davon zeugt, dass sich mehr oder weniger große teile der hiesigen bevölkerung immer noch nicht über ihr eigenes sein und dessen bedingungen auch nur einigermaßen im klaren sind.
mit der aktuellen situation in der heutigen krise hat das, was gleich im brief von hyperion an seinen freund bellarmin zu lesen sein wird, in meinen augen deshalb etwas zu tun, weil die spezifisch hiesigen autoritätsängste, die unfähigkeit zum widerstand gegen angemaßte autorität sowie die damit zusammenhängende bereitschaft zur aggression gegen alles als "schwächer" wahrgenommenes - oder auch gegen sich selbst - , eine lange und unheilvolle tradition besitzen, deren prägnanteste wegmarken nicht nur all die fehlgeschlagenen bzw. nicht stattgefundenen revolutionen darstellen, sondern ebenfalls all das, was sich in den verschiedenen deutschen diktaturen - mit dem monströsen, aber folgerichtigen "exzess" des nationalsozialismus an der spitze - wie ein giftiges konzentrat gebündelt hat - militarismus, rassismus, antisemitismus, sexismus und der in den weltkriegen jeweils in den offenen wahn kumulierende nationalismus. all das sind natürlich keine rein deutschen spezialitäten, und trotzdem sind die meisten erscheinungsformen der eben genannten herrschaftsverhältnisse in diesem land immer noch eine stufe ekliger, krasser, brutaler und mittels staatlicher duldung und unterstützung besser organisiert (= mörderischer) ausgefallen als anderswo. was ohne entsprechende dispositonen in relevanten teilen der bevölkerung eben nicht möglich gewesen wäre.
und das gilt in modifizierter form bis heute (dazu muss man sich zb. nur den verbreiteten umgang mit erwerbslosen, noch deutlicher den gegenüber "ausländern", betrachten). die in diesem zusammenhang verbreitete rede eines angeblich "deutschen nationalcharakters" oder auch der von der schon erwähnten "deutschen mentalität" besitzt dabei trotz aller sonstigen irreführung (beides sind rein gedankliche konstrukte objektivistischer art) einen realen kern in der art, dass beide begriffe etwas zu erfassen suchen, was sich als tradierte kollektive erfahrungs- und verhaltensmuster beschreiben liesse. dabei geht es aber primär immer um individuelle erfahrungen von solcher verbreitung, dass sie regelmässig als "typisch" und "normal" (fehl-)wahrgenommen werden - letzteres deshalb, weil sie vielleicht typisch für eine bestimmte - nämlich traumatische - gesellschaftliche matrix sein mögen, aber gerade deshalb keinesfalls als "normalität" begriffen werden können und sollten.
und der folgende brief des hölderlin macht deutlich, dass diese matrix bereits seit langer zeit in unseren breiten hier wirksam ist - und auch die aktuellen und noch kommenden reaktionen auf die krise zu einem großen teil mit gestalten wird. der text lässt sich durchaus nach meinem verständnis als sehr frühe psychohistorische studie lesen. und es empfiehlt sich sehr, ihn sacken und wirken zu lassen. in den nächsten tagen kommt dann die zweite folge.
*
Hyperion an Bellarmin
So kam ich unter die Deutschen. Ich forderte nicht viel und war gefaßt, noch weniger zu finden. Demütig kam ich, wie der heimatlose blinde Oedipus zum Tore von Athen, wo ihn der Götterhain empfing; und schöne Seelen ihm begegneten -
Wie anders ging es mir!
Barbaren von alters her, durch Fleiß und Wissenschaft und selbst durch Religion barbarischer geworden, tiefunfähig jedes göttlichen Gefühls, verdorben bis ins Mark zum Glück der heiligen Grazien, in jedem Grad der Übertreibung und der Ärmlichkeit beleidigend für jede gutgeartete Seele, dumpf und harmonielos, wie die Scherben eines weggeworfenen Gefäßes - das, mein Bellarmin! waren meine Tröster.
Es ist ein hartes Wort und dennoch sag ichs, weil es Wahrheit ist:
ich kann kein Volk mir denken, das zerrißner wäre, wie die Deutschen. Handwerker siehst du, aber keine Menschen, Denker, aber keine Menschen, Priester, aber keine Menschen, Herrn und Knechte, Jungen und gesetzte Leute, aber keine Menschen - ist das nicht, wie ein Schlachtfeld, wo Hände und Arme und alle Glieder zerstückelt untereinander liegen, indessen das vergoßne Lebensblut im Sande zerrinnt?
Ein jeder treibt das Seine, wirst du sagen, und ich sag es auch. Nur muß er es mit ganzer Seele treiben, muß nicht jede Kraft in sich ersticken, wenn sie nicht gerade sich zu seinem Titel paßt, muß nicht mit dieser kargen Angst, buchstäblich heuchlerisch das, was er heißt, nur sein, mit Ernst, mit Liebe muß er das sein, was er ist, so lebt ein Geist in seinem Tun, und ist er in ein Fach gedrückt, wo gar der Geist nicht leben darf, so stoß ers mit Verachtung weg und lerne pflügen! Deine Deutschen aber bleiben gerne beim Notwendigsten, und darum ist bei ihnen auch so viele Stümperarbeit und so wenig Freies, Echterfreuliches. Doch das wäre zu verschmerzen, müßten solche Menschen nur nicht fühllos sein für alles schöne Leben, ruhte nur nicht überall der Fluch der gottverlaßnen Unnatur auf solchem Volke.
Die Tugenden der Alten sei'n nur glänzende Fehler, sagt' einmal, ich weiß nicht, welche böse Zunge; und es sind doch selber ihre Fehler Tugenden, denn da noch lebt' ein kindlicher, ein schöner Geist, und ohne Seele war von allem, was sie taten, nichts getan. Die Tugenden der Deutschen aber sind ein glänzend Übel und nichts weiter; denn Notwerk sind sie nur, aus feiger Angst, mit Sklavenmühe, dem wüsten Herzen abgedrungen, und lassen trostlos jede reine Seele, die von Schönem gern sich nährt, ach! die verwöhnt vom heiligen Zusammenklang in edleren Naturen, den Mißlaut nicht erträgt, der schreiend ist in all der toten Ordnung dieser Menschen.
Ich sage dir: es ist nichts Heiliges, was nicht entheiligt, nicht zum ärmlichen Behelf herabgewürdigt ist bei diesem Volk, und was selbst unter Wilden göttlichrein sich meist erhält, das treiben diese allberechnenden Barbaren, wie man so ein Handwerk treibt, und können es nicht anders, denn wo einmal ein menschlich Wesen abgerichtet ist, da dient es seinem Zweck, da sucht es seinen Nutzen, es schwärmt nicht mehr, bewahre Gott! es bleibt gesetzt, und wenn es feiert und wenn es liebt und wenn es betet und selber, wenn des Frühlings holdes Fest, wenn die Versöhnungszeit der Welt die Sorgen alle löst, und Unschuld zaubert in ein schuldig Herz, wenn von der Sonne warmem Strahle berauscht, der Sklave seine Ketten froh vergißt und von der gottbeseelten Luft besänftiget, die Menschenfeinde friedlich, wie die Kinder, sind - wenn selbst die Raupe sich beflügelt und die Biene
schwärmt, so bleibt der Deutsche doch in seinem Fach und kümmert sich nicht viel ums Wetter!
Aber du wirst richten, heilige Natur! Denn, wenn sie nur bescheiden wären, diese Menschen, zum Gesetze nicht sich machten für die Bessern
unter ihnen! wenn sie nur nicht lästerten, was sie nicht sind, und möchten sie doch lästern, wenn sie nur das Göttliche nicht höhnten! -
Oder ist nicht göttlich, was ihr höhnt und seellos nennt? Ist besser, denn euer Geschwätz, die Luft nicht, die ihr trinkt? der Sonne Strahlen, sind sie edler nicht, denn all ihr Klugen? der Erde Quellen und der Morgentau erfrischen euern Hain; könnt ihr auch das? ach! töten könnt ihr, aber nicht lebendig machen, wenn es die Liebe nicht tut, die nicht von euch ist, die ihr nicht erfunden. Ihr sorgt und sinnt, dem Schicksal zu entlaufen und begreift es nicht, wenn eure Kinderkunst nichts hilft; indessen wandelt harmlos droben das Gestirn. Ihr entwürdiget, ihr zerreißt, wo sie euch duldet, die geduldige Natur, doch lebt sie fort, in unendlicher Jugend, und ihren Herbst und ihren Frühling könnt ihr nicht vertreiben, ihren Aether,
den verderbt ihr nicht.
O göttlich muß sie sein, weil ihr zerstören dürft, und dennoch sie nicht altert und trotz euch schön das Schöne bleibt! -
Es ist auch herzzerreißend, wenn man eure Dichter, eure Künstler sieht, und alle, die den Genius noch achten, die das Schöne lieben und es pflegen. Die Guten! Sie leben in der Welt, wie Fremdlinge im eigenen Hause, sie sind so recht, wie der Dulder Ulyß, da er in Bettlersgestalt an seiner Türe saß, indes die unverschämten Freier im Saale lärmten und fragten, wer hat uns den Landläufer gebracht? Voll Lieb und Geist und Hoffnung wachsen seine Musenjünglinge dem deutschen Volk heran; du siehst sie sieben Jahre später, und sie wandeln, wie die Schatten, still und kalt, sind, wie ein Boden, den der Feind mit Salz besäete, daß er nimmer einen Grashalm treibt; und wenn sie sprechen, wehe dem! der sie versteht, der in der stürmenden Titanenkraft, wie in ihren Proteuskünsten den Verzweiflungskampf nur sieht, den ihr gestörter schöner Geist mit den Barbaren kämpft, mit denen er zu tun hat.
Es ist auf Erden alles unvollkommen, ist das alte Lied der Deutschen. Wenn doch einmal diesen Gottverlaßnen einer sagte, daß bei ihnen nur so unvollkommen alles ist, weil sie nichts Reines unverdorben, nichts Heiliges unbelastet lassen mit den plumpen Händen, daß bei ihnen nichts gedeiht, weil sie die Wurzel des Gedeihns, die göttliche Natur nicht achten, daß bei ihnen eigentlich das Leben schal und sorgenschwer und übervoll von kalter stummer Zwietracht ist, weil sie den Genius verschmähn, der Kraft und Adel in ein menschlich Tun, und Heiterkeit ins Leiden und Lieb und Brüderschaft den Städten und den Häusern bringt.
Und darum fürchten sie auch den Tod so sehr, und leiden, um des Austernlebens willen, alle Schmach, weil Höhers sie nicht kennen, als ihr Machwerk, das sie sich gestoppelt. O Bellarmin! wo ein Volk das Schöne liebt, wo es den Genius in seinen Künstlern ehrt, da weht, wie Lebensluft, ein allgemeiner Geist, da öffnet sich der scheue Sinn, der Eigendünkel schmilzt, und fromm und groß sind alle Herzen und Helden gebiert die Begeisterung. Die Heimat aller Menschen ist bei solchem Volk und gerne mag der Fremde sich verweilen. Wo aber so beleidigt wird die göttliche Natur und ihre Künstler, ach! da ist des Lebens beste Lust hinweg, und jeder andre Stern ist besser, denn die Erde. Wüster immer, öder werden da die Menschen, die doch alle schöngeboren sind; der Knechtsinn wächst, mit ihm der grobe Mut, der Rausch wächst mit den Sorgen, und mit der Üppigkeit der Hunger und die Nahrungsangst; zum Fluche wird der Segen jedes Jahrs und alle Götter fliehn.
Und wehe dem Fremdling, der aus Liebe wandert, und zu solchem Volke kömmt, und dreifach wehe dem, der, so wie ich, von großem Schmerz
getrieben, ein Bettler meiner Art, zu solchem Volke kömmt! -
Genug! du kennst mich, wirst es gut aufnehmen, Bellarmin! Ich sprach in deinem Namen auch, ich sprach für alle, die in diesem Lande sind
und leiden, wie ich dort gelitten.
(hölderlin: hyperion; zweiter band, zweites buch)
*
edit am 1. mai: wie zur bestätigung des obigen lesen sich passagen aus einem gerade veröffentlichten artikel unter der überschrift "Der neue Mensch" - zwei auszüge:
(...)"Wir alle drücken dem System, das ohne Alternative ist, die Daumen. Wir alle wünschen uns, dass es gewinnt, allerdings modifiziert, unter wachsam befolgten Regeln und Teilnahme engagierter Bürger."(...)
Es geht um Werte wie Bedürfnis-Aufschub, Disziplin, Dienst, Pflicht. Um das, was Max Weber die protestantische Arbeitsethik nannte."(...)
ist das nun
[ ] überlautes pfeifen im walde seitens eines kapitalistischen lohnschreibers
[ ] das bis zum erbrechen widerholte diktat des TINA-prinzips ("there is no alternative") seitens eines kapitalistischen lohnschreibers
[ ] unverschämtes appellieren zum maßhalten im sinne von "wir-sind-ja-alle-irgendwie-mitschuld" seitens eines kapitalistischen lohnschreibers oder auch
[ ] die öffentliche zurschaustellung der eigenen sklavenmentalität seitens eines kapitalistischen lohnschreibers?
mal davon abgesehen, dass ich einen realen kern in dem ganzen dreisten elaborat sehe - denn ohne verschiedenen arten von grundsätzlichem, primär auf kompensierenden konsum zielenden, verzicht (wobei die wahrnehmung dessen, ob etwas als verzicht oder als bereicherung angesehen wird, durchaus aus verschiedenen perspektiven jeweils ganz unterschiedlich aussehen kann) wird´s auch meiner meinung nach keine sinnvollen veränderungen geben können -, sind die aussagen des autors in diesen zeiten von einer derartigen frechheit, das mir fast die spucke wegblieb.
jahrelang haben die kapitalisten zwecks profitakkumulation das lied vom fröhlichen konsum als lebenssinn vorgegeben; jetzt, wo das damit assoziierte system, angelangt an seinen inneren und den äußeren physikalischen grenzen, förmlich zerbröselt, kommt der rückgriff auf - kirchlich untermauerte - "preussische tugenden", zu denen hyperion oben schon das notwendige gesagt hat? ein schlechter witz.
ach ja, falls mir der autor irgendwann mal über den weg laufen sollte, gibt´s für das "wir alle" einen tritt. auch kapitalistische lohnschreiber müssen irgendwann erkennen, dass es grenzen der eigenen erbärmlichkeit gibt.
*
und während ein mainstreammedium von "disziplin, dienst und pflicht" deliriert, ist ganz aktuell in dortmund zu besichtigen, wie leute, bei denen diese einfältige dreifaltigkeit ebenfalls hoch im kurs steht, krisenbewältigung in ihrem sinne verstehen: hunderte nazis greifen maikundgebung des dgb an. nicht die erste konfrontation zwischen gewerkschafterInnen und nazis in diesem jahr. und voraussichtlich auch nicht letzte. das sind nun wahrhaft deutsche zustände, und es stellt sich mehr und mehr die frage für die gewerkschaften, wie sie sich zu diesen positionieren wollen.
mit der aktuellen situation in der heutigen krise hat das, was gleich im brief von hyperion an seinen freund bellarmin zu lesen sein wird, in meinen augen deshalb etwas zu tun, weil die spezifisch hiesigen autoritätsängste, die unfähigkeit zum widerstand gegen angemaßte autorität sowie die damit zusammenhängende bereitschaft zur aggression gegen alles als "schwächer" wahrgenommenes - oder auch gegen sich selbst - , eine lange und unheilvolle tradition besitzen, deren prägnanteste wegmarken nicht nur all die fehlgeschlagenen bzw. nicht stattgefundenen revolutionen darstellen, sondern ebenfalls all das, was sich in den verschiedenen deutschen diktaturen - mit dem monströsen, aber folgerichtigen "exzess" des nationalsozialismus an der spitze - wie ein giftiges konzentrat gebündelt hat - militarismus, rassismus, antisemitismus, sexismus und der in den weltkriegen jeweils in den offenen wahn kumulierende nationalismus. all das sind natürlich keine rein deutschen spezialitäten, und trotzdem sind die meisten erscheinungsformen der eben genannten herrschaftsverhältnisse in diesem land immer noch eine stufe ekliger, krasser, brutaler und mittels staatlicher duldung und unterstützung besser organisiert (= mörderischer) ausgefallen als anderswo. was ohne entsprechende dispositonen in relevanten teilen der bevölkerung eben nicht möglich gewesen wäre.
und das gilt in modifizierter form bis heute (dazu muss man sich zb. nur den verbreiteten umgang mit erwerbslosen, noch deutlicher den gegenüber "ausländern", betrachten). die in diesem zusammenhang verbreitete rede eines angeblich "deutschen nationalcharakters" oder auch der von der schon erwähnten "deutschen mentalität" besitzt dabei trotz aller sonstigen irreführung (beides sind rein gedankliche konstrukte objektivistischer art) einen realen kern in der art, dass beide begriffe etwas zu erfassen suchen, was sich als tradierte kollektive erfahrungs- und verhaltensmuster beschreiben liesse. dabei geht es aber primär immer um individuelle erfahrungen von solcher verbreitung, dass sie regelmässig als "typisch" und "normal" (fehl-)wahrgenommen werden - letzteres deshalb, weil sie vielleicht typisch für eine bestimmte - nämlich traumatische - gesellschaftliche matrix sein mögen, aber gerade deshalb keinesfalls als "normalität" begriffen werden können und sollten.
und der folgende brief des hölderlin macht deutlich, dass diese matrix bereits seit langer zeit in unseren breiten hier wirksam ist - und auch die aktuellen und noch kommenden reaktionen auf die krise zu einem großen teil mit gestalten wird. der text lässt sich durchaus nach meinem verständnis als sehr frühe psychohistorische studie lesen. und es empfiehlt sich sehr, ihn sacken und wirken zu lassen. in den nächsten tagen kommt dann die zweite folge.
*
Hyperion an Bellarmin
So kam ich unter die Deutschen. Ich forderte nicht viel und war gefaßt, noch weniger zu finden. Demütig kam ich, wie der heimatlose blinde Oedipus zum Tore von Athen, wo ihn der Götterhain empfing; und schöne Seelen ihm begegneten -
Wie anders ging es mir!
Barbaren von alters her, durch Fleiß und Wissenschaft und selbst durch Religion barbarischer geworden, tiefunfähig jedes göttlichen Gefühls, verdorben bis ins Mark zum Glück der heiligen Grazien, in jedem Grad der Übertreibung und der Ärmlichkeit beleidigend für jede gutgeartete Seele, dumpf und harmonielos, wie die Scherben eines weggeworfenen Gefäßes - das, mein Bellarmin! waren meine Tröster.
Es ist ein hartes Wort und dennoch sag ichs, weil es Wahrheit ist:
ich kann kein Volk mir denken, das zerrißner wäre, wie die Deutschen. Handwerker siehst du, aber keine Menschen, Denker, aber keine Menschen, Priester, aber keine Menschen, Herrn und Knechte, Jungen und gesetzte Leute, aber keine Menschen - ist das nicht, wie ein Schlachtfeld, wo Hände und Arme und alle Glieder zerstückelt untereinander liegen, indessen das vergoßne Lebensblut im Sande zerrinnt?
Ein jeder treibt das Seine, wirst du sagen, und ich sag es auch. Nur muß er es mit ganzer Seele treiben, muß nicht jede Kraft in sich ersticken, wenn sie nicht gerade sich zu seinem Titel paßt, muß nicht mit dieser kargen Angst, buchstäblich heuchlerisch das, was er heißt, nur sein, mit Ernst, mit Liebe muß er das sein, was er ist, so lebt ein Geist in seinem Tun, und ist er in ein Fach gedrückt, wo gar der Geist nicht leben darf, so stoß ers mit Verachtung weg und lerne pflügen! Deine Deutschen aber bleiben gerne beim Notwendigsten, und darum ist bei ihnen auch so viele Stümperarbeit und so wenig Freies, Echterfreuliches. Doch das wäre zu verschmerzen, müßten solche Menschen nur nicht fühllos sein für alles schöne Leben, ruhte nur nicht überall der Fluch der gottverlaßnen Unnatur auf solchem Volke.
Die Tugenden der Alten sei'n nur glänzende Fehler, sagt' einmal, ich weiß nicht, welche böse Zunge; und es sind doch selber ihre Fehler Tugenden, denn da noch lebt' ein kindlicher, ein schöner Geist, und ohne Seele war von allem, was sie taten, nichts getan. Die Tugenden der Deutschen aber sind ein glänzend Übel und nichts weiter; denn Notwerk sind sie nur, aus feiger Angst, mit Sklavenmühe, dem wüsten Herzen abgedrungen, und lassen trostlos jede reine Seele, die von Schönem gern sich nährt, ach! die verwöhnt vom heiligen Zusammenklang in edleren Naturen, den Mißlaut nicht erträgt, der schreiend ist in all der toten Ordnung dieser Menschen.
Ich sage dir: es ist nichts Heiliges, was nicht entheiligt, nicht zum ärmlichen Behelf herabgewürdigt ist bei diesem Volk, und was selbst unter Wilden göttlichrein sich meist erhält, das treiben diese allberechnenden Barbaren, wie man so ein Handwerk treibt, und können es nicht anders, denn wo einmal ein menschlich Wesen abgerichtet ist, da dient es seinem Zweck, da sucht es seinen Nutzen, es schwärmt nicht mehr, bewahre Gott! es bleibt gesetzt, und wenn es feiert und wenn es liebt und wenn es betet und selber, wenn des Frühlings holdes Fest, wenn die Versöhnungszeit der Welt die Sorgen alle löst, und Unschuld zaubert in ein schuldig Herz, wenn von der Sonne warmem Strahle berauscht, der Sklave seine Ketten froh vergißt und von der gottbeseelten Luft besänftiget, die Menschenfeinde friedlich, wie die Kinder, sind - wenn selbst die Raupe sich beflügelt und die Biene
schwärmt, so bleibt der Deutsche doch in seinem Fach und kümmert sich nicht viel ums Wetter!
Aber du wirst richten, heilige Natur! Denn, wenn sie nur bescheiden wären, diese Menschen, zum Gesetze nicht sich machten für die Bessern
unter ihnen! wenn sie nur nicht lästerten, was sie nicht sind, und möchten sie doch lästern, wenn sie nur das Göttliche nicht höhnten! -
Oder ist nicht göttlich, was ihr höhnt und seellos nennt? Ist besser, denn euer Geschwätz, die Luft nicht, die ihr trinkt? der Sonne Strahlen, sind sie edler nicht, denn all ihr Klugen? der Erde Quellen und der Morgentau erfrischen euern Hain; könnt ihr auch das? ach! töten könnt ihr, aber nicht lebendig machen, wenn es die Liebe nicht tut, die nicht von euch ist, die ihr nicht erfunden. Ihr sorgt und sinnt, dem Schicksal zu entlaufen und begreift es nicht, wenn eure Kinderkunst nichts hilft; indessen wandelt harmlos droben das Gestirn. Ihr entwürdiget, ihr zerreißt, wo sie euch duldet, die geduldige Natur, doch lebt sie fort, in unendlicher Jugend, und ihren Herbst und ihren Frühling könnt ihr nicht vertreiben, ihren Aether,
den verderbt ihr nicht.
O göttlich muß sie sein, weil ihr zerstören dürft, und dennoch sie nicht altert und trotz euch schön das Schöne bleibt! -
Es ist auch herzzerreißend, wenn man eure Dichter, eure Künstler sieht, und alle, die den Genius noch achten, die das Schöne lieben und es pflegen. Die Guten! Sie leben in der Welt, wie Fremdlinge im eigenen Hause, sie sind so recht, wie der Dulder Ulyß, da er in Bettlersgestalt an seiner Türe saß, indes die unverschämten Freier im Saale lärmten und fragten, wer hat uns den Landläufer gebracht? Voll Lieb und Geist und Hoffnung wachsen seine Musenjünglinge dem deutschen Volk heran; du siehst sie sieben Jahre später, und sie wandeln, wie die Schatten, still und kalt, sind, wie ein Boden, den der Feind mit Salz besäete, daß er nimmer einen Grashalm treibt; und wenn sie sprechen, wehe dem! der sie versteht, der in der stürmenden Titanenkraft, wie in ihren Proteuskünsten den Verzweiflungskampf nur sieht, den ihr gestörter schöner Geist mit den Barbaren kämpft, mit denen er zu tun hat.
Es ist auf Erden alles unvollkommen, ist das alte Lied der Deutschen. Wenn doch einmal diesen Gottverlaßnen einer sagte, daß bei ihnen nur so unvollkommen alles ist, weil sie nichts Reines unverdorben, nichts Heiliges unbelastet lassen mit den plumpen Händen, daß bei ihnen nichts gedeiht, weil sie die Wurzel des Gedeihns, die göttliche Natur nicht achten, daß bei ihnen eigentlich das Leben schal und sorgenschwer und übervoll von kalter stummer Zwietracht ist, weil sie den Genius verschmähn, der Kraft und Adel in ein menschlich Tun, und Heiterkeit ins Leiden und Lieb und Brüderschaft den Städten und den Häusern bringt.
Und darum fürchten sie auch den Tod so sehr, und leiden, um des Austernlebens willen, alle Schmach, weil Höhers sie nicht kennen, als ihr Machwerk, das sie sich gestoppelt. O Bellarmin! wo ein Volk das Schöne liebt, wo es den Genius in seinen Künstlern ehrt, da weht, wie Lebensluft, ein allgemeiner Geist, da öffnet sich der scheue Sinn, der Eigendünkel schmilzt, und fromm und groß sind alle Herzen und Helden gebiert die Begeisterung. Die Heimat aller Menschen ist bei solchem Volk und gerne mag der Fremde sich verweilen. Wo aber so beleidigt wird die göttliche Natur und ihre Künstler, ach! da ist des Lebens beste Lust hinweg, und jeder andre Stern ist besser, denn die Erde. Wüster immer, öder werden da die Menschen, die doch alle schöngeboren sind; der Knechtsinn wächst, mit ihm der grobe Mut, der Rausch wächst mit den Sorgen, und mit der Üppigkeit der Hunger und die Nahrungsangst; zum Fluche wird der Segen jedes Jahrs und alle Götter fliehn.
Und wehe dem Fremdling, der aus Liebe wandert, und zu solchem Volke kömmt, und dreifach wehe dem, der, so wie ich, von großem Schmerz
getrieben, ein Bettler meiner Art, zu solchem Volke kömmt! -
Genug! du kennst mich, wirst es gut aufnehmen, Bellarmin! Ich sprach in deinem Namen auch, ich sprach für alle, die in diesem Lande sind
und leiden, wie ich dort gelitten.
(hölderlin: hyperion; zweiter band, zweites buch)
*
edit am 1. mai: wie zur bestätigung des obigen lesen sich passagen aus einem gerade veröffentlichten artikel unter der überschrift "Der neue Mensch" - zwei auszüge:
(...)"Wir alle drücken dem System, das ohne Alternative ist, die Daumen. Wir alle wünschen uns, dass es gewinnt, allerdings modifiziert, unter wachsam befolgten Regeln und Teilnahme engagierter Bürger."(...)
Es geht um Werte wie Bedürfnis-Aufschub, Disziplin, Dienst, Pflicht. Um das, was Max Weber die protestantische Arbeitsethik nannte."(...)
ist das nun
[ ] überlautes pfeifen im walde seitens eines kapitalistischen lohnschreibers
[ ] das bis zum erbrechen widerholte diktat des TINA-prinzips ("there is no alternative") seitens eines kapitalistischen lohnschreibers
[ ] unverschämtes appellieren zum maßhalten im sinne von "wir-sind-ja-alle-irgendwie-mitschuld" seitens eines kapitalistischen lohnschreibers oder auch
[ ] die öffentliche zurschaustellung der eigenen sklavenmentalität seitens eines kapitalistischen lohnschreibers?
mal davon abgesehen, dass ich einen realen kern in dem ganzen dreisten elaborat sehe - denn ohne verschiedenen arten von grundsätzlichem, primär auf kompensierenden konsum zielenden, verzicht (wobei die wahrnehmung dessen, ob etwas als verzicht oder als bereicherung angesehen wird, durchaus aus verschiedenen perspektiven jeweils ganz unterschiedlich aussehen kann) wird´s auch meiner meinung nach keine sinnvollen veränderungen geben können -, sind die aussagen des autors in diesen zeiten von einer derartigen frechheit, das mir fast die spucke wegblieb.
jahrelang haben die kapitalisten zwecks profitakkumulation das lied vom fröhlichen konsum als lebenssinn vorgegeben; jetzt, wo das damit assoziierte system, angelangt an seinen inneren und den äußeren physikalischen grenzen, förmlich zerbröselt, kommt der rückgriff auf - kirchlich untermauerte - "preussische tugenden", zu denen hyperion oben schon das notwendige gesagt hat? ein schlechter witz.
ach ja, falls mir der autor irgendwann mal über den weg laufen sollte, gibt´s für das "wir alle" einen tritt. auch kapitalistische lohnschreiber müssen irgendwann erkennen, dass es grenzen der eigenen erbärmlichkeit gibt.
*
und während ein mainstreammedium von "disziplin, dienst und pflicht" deliriert, ist ganz aktuell in dortmund zu besichtigen, wie leute, bei denen diese einfältige dreifaltigkeit ebenfalls hoch im kurs steht, krisenbewältigung in ihrem sinne verstehen: hunderte nazis greifen maikundgebung des dgb an. nicht die erste konfrontation zwischen gewerkschafterInnen und nazis in diesem jahr. und voraussichtlich auch nicht letzte. das sind nun wahrhaft deutsche zustände, und es stellt sich mehr und mehr die frage für die gewerkschaften, wie sie sich zu diesen positionieren wollen.
monoma - 25. Apr, 13:17
WooooW
voll auf den Punkt getroffen. Danke :)
Liebe Grüße
kandinsky