assoziation: der umgang mit der krise in deutschland (2)
die beiträge dieser kleinen reihe - hier geht´s zum ersten teil - stellen einen versuch dar, das thema besonders aus der perspektive weit verbreiteter psychophysischer strukturen in der hiesigen bevölkerung zu beleuchten. diese in jedem fall zunächst individuell vorhandenen strukturen prägen aufgrund historisch gewachsener und tradierter ähnlichkeiten wie eine größtenteils unsichtbare matrix unser aller verhalten, auch und gerade bei kollektiven reaktionen. und das gilt nochmal besonders und verschärft bei realen oder auch "nur" potenziellen existenziellen bedrohungen diverser art, welche die krise bereits jetzt (und zukünftig noch in größerem maßstab) für viele menschen mit sich bringt. das ist, sehr kurzgefasst, mein "arbeitsansatz" bei diesen beiträgen.
*
der fiktive brief des hyperion im ersten beitrag "...lässt sich durchaus nach meinem verständnis als sehr frühe psychohistorische studie lesen.". dabei beziehe ich mich vor allem auf die arbeiten des us-amerikanischen psychohistorikers lloyd deMause, von dem eine zusammenfassung seiner arbeiten hier mit einigen seiner zentralen thesen näher vorgestellt wird.
und die basis dessen, was da von hölderlin mittels der kunstfigur hyperion über die damalige deutsche bevölkerung und ihre eigenarten im sozialverhalten konstatiert wird, lässt sich anhand von deMause bzw. den arbeiten deutscher psychohistoriker wie folgt begreifen:
(...)"Kindesmord und Säuglingssterblichkeit waren gegen Ende des 19.Jahrhunderts in Deutschland und Österreich weit mehr verbreitet als in England, Frankreich, Italien und Skandinavien. Neugeborene wurden nicht als vollwertige Menschen betrachtet, weil man dachte, sie besäßen in den ersten 6 Wochen noch keine Seele und konnten so »in einer Art später Abtreibung getötet werden«. Vielfach bekamen gebärende Mütter in Deutschland »ihre Babies im Abort und behandelten die Geburt wie eine Evakuation«. Geburten, die als »Stuhlgang erfahren wurden, ermöglichten den Frauen ihre Kinder auf eine sehr grobe Art umzubringen, durch Zerschmettern ihrer Schädel wie bei Geflügel oder Kleintieren«.
Andere, die beobachteten, wie Mütter ihre Kinder töteten, bemerkten an diesen keine Gewissensbisse, »voll von Gleichgültigkeit, Kälte und Gefühllosigkeit [und vermittelten] den Eindruck allgemeiner Gefühlsarmut« gegenüber ihren Kindern. Auch wenn der Säugling überleben durfte, konnte er leicht vernachlässigt und zuwenig gefüttert, und somit »direkt in den Himmel geschickt« werden. Die Sterblichkeitsraten von Säuglingen reichten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von 21 Prozent in Preußen bis zu erstaunlichen 58 Prozent in Bayern, wobei sich die Zahlen im Süden teilweise aus der Praxis des Nichtstillens erklären, denn von Hand gefütterte Babies starben dreimal so häufig wie Gestillte. Die besten Zahlen für ganz Deutschland gegen Ende des Jahrhunderts lagen immer noch über 20 Prozent, doppelt so hoch wie in Frankreich und England."(...)
(...)Klöden schreibt, das Motto deutscher Eltern gegen Ende des 19.Jahrhunderts wäre simpel gewesen: »Kinder können nie genug geschlagen werden.«Obwohl wenige deutsche Eltern der Vergangenheit sich für ihr Schlagen heute einer Gefängnisstrafe entziehen könnten, bekamen die
Kinder Ende des 19. Jahrhunderts wenig Schutz von der Gesellschaft, da ihre eigenen Worte und nicht einmal die körperlichen Spuren ihrer
schweren Misshandlung nichts zählten. Endes Erhebung beschreibt typische Gerichtsverfahren, so ein Nachbar Anzeige erstattete, wegen »eines dreijährigen Mädchens, [deren] Körper mit Striemen übersäht war. Lippen, Nase und Zahnfleisch waren offene Wunden. Der Körper zeigte zahlreiche eiternde wunde Stellen. Das Kind wurde auf einen glühend roten eisernen Herd gesetzt - zwei Wunden auf den Pobacken eiterten«, aber das Gericht sprach die Eltern frei."(...)
(auszüge aus lloyd deMause, "das emotionale leben der nationen", siehe literaturliste oder den link oben)
das sind zustände, wie sie sich nicht plötzlich erst in der beschriebenen epoche entwickelt haben, sondern auch vorher (zb. in der zeit von hölderlin) vorhanden waren - und spätestens seit den arbeiten verschiedener, v.a. ursprünglich "klassisch" psychoanalytischer dissidentInnen wie arno gruen und besonders alice miller, fortgeführt und ergänzt durch eigene ansätze von der psychohistorie und vielfältig belegt und gestützt durch die untersuchungen der aktuellen psychotraumatologie könnten eigentlich alle wissen, dass ein derartig destruktiver umgang innerhalb unserer eigenen spezies - gegenüber dem nachwuchs - nicht nur nicht ohne schwere negative konsequenzen für die direkt betroffenen bleibt, sondern auch das potenzial besitzt, ganze gesellschaften in ihrer sozialen basis schwer zu schädigen, wenn nicht sogar mittel ständiger zwanghafter re-inszenierungen der destruktivität auf den pfad der selbstzerstörung zu treiben.
ein ganz fataler mechanismus bei traumatischen prozessen stellt dabei die eigenschaft von traumata dar, sich zu tradieren - d.h., dass traumatisierte menschen, bei denen ohne bewussten umgang mit den trauma ihr ganzes leben von selbigen in vielfältiger art und weise totalitär bestimmt werden kann - in sachen körperlicher verfassung, körperlichem ausdruck, wertesysteme, weltvertrauen, soziales verhalten, beziehungsfähigkeiten, selbst- und fremdwahrnehmung - in einem bestimmten sinne gar nicht anders können, als ihre gesamte soziale umgebung und besonders "eigene" kinder ständig mit traumatischen und auch traumatisierenden strukturen im alltag zu konfrontieren und zu beeinflussen. und das auch, ohne das die kinder selbst als traumatisch zu bezeichnende erlebnisse am eigenen leib erlebt haben müssen. der gleich prozeß kann sich dann, selbst ohne neues traumatisches material, in abgeschwächter und modifizierter form noch in den nächsten generationen manifestieren. weitere informationen zu tradierten traumata im blog bspw. hier, hier , da und dort.
*
ich glaube dabei, dass die informationen, die hinter der wahrnehmung der tatsache, dass traumata dazu neigen, sich in gewisser - und vielfältiger - weise fortzupflanzen stecken, noch nicht annähernd in ihrer vollen bedeutung und allen konsequenzen verstanden worden sind. auch ich möchte mir das nicht anmaßen, habe aber aus meiner inzwischen jahrelangen und teils sehr persönlichen beschäftigung damit immer wieder durch vage gefühle und bestimmte aha!-erlebnisse öfter den eindruck, als würde hier eine entscheidende weggabelung unserer weiteren evolutionären entwicklung liegen. will sagen, das es für mich in manchen momenten so erscheint, das es ohne ein breites sowohl individuelles als auch kollektives verständnis des prozesses "trauma" die erwähnte entwicklung nicht (mehr) geben wird. und die spezies insgesamt in einer phase der agonie, gewalttätigkeit, allgemeiner antisozialer atmosphäre und psychophysischer verwahrlosung enden wird (alles typische mögliche symptome eines traumas, zu besichtigen schon in vielen weltregionen). und, das sollte und muss dazu gesagt werden: es wird ein sehr qualvolles ende für die meisten sein, die das möglicherweise miterleben müssen.
deutschland stellt dabei eine art mikroskop dafür dar, was weit verbreitete - und primär durch den über jahrhunderte extrem brutalen und erbärmlichen umgang mit kleinen menschen erzeugte - traumata in massenhaften dimensionen innerhalb einer gesellschaft anrichten können. ich habe im letzten beitrag bereits das, was so allgemein unter dem begriff der "deutschen mentalität" verstanden wird, kurz umrissen. und sowohl die autoritätsängste (wurden und werden bis heute zuerst in den familien verankert) als auch bereitwillige unterwürfigkeit (dito) stellen ebenso wie die brutalität gegen alles anscheinend "schwächere" (wird bis heute von den sog. "eliten" benutzt) tatsächlich zwei zusammengehörige seiten einer medaille dar. je nach betroffenem mensch, der zugehörigen sozialisation sowie dem jeweiligen sozialen umfeld im näheren und weiteren (gesellschaftliche verhältnisse) sinne können traumatische strukturen sich mal im extrem in der einen oder der anderen weise ausdrücken. aber beides gehört funktional untrennbar zusammen.
wie die deutsche, von deMause inspirierte, psychohistorische forschung ausserdem darlegt, gibt es auffällige entwicklungsunterschiede zwischen deutschland und anderen europäischen ländern (zb. frankreich) im umgang mit kindern. und diese sind bruchlos bis 1945 zu konstatieren, erst nach dem ende der nazis lässt sich ansatzweise eine sehr langsame verbesserung wahrnehmen (und relikte der üblichen und "normalen" sog. erziehung bis 45 haben sich in der alten brd, aber wahrscheinlich auch in der ddr, mindestens bis in die 1970er jahre gehalten - stichwort heimkinder.) ebenfalls ist die mehrheitlich - zumindest öffentlich - entsetzte reaktion auf die immer wieder neuen fälle von verschiedener gewalt gegen kinder (siehe auch den index hier im blog, wo viele dieser fälle dokumentiert sind) eine für deutschland historisch recht neue reaktion, zumal die jeweiligen praktiken - kindermorde durch eltern, vernachlässigung, prügel - hier über jahrhunderte im bewusstsein viel zu vieler menschen als "normal" gegolten haben.
natürlich haben dann die historischen traumatischen kollektiverfahrungen durch diktaturen, kriege, flucht, vertreibung und auch all die gescheiterten bzw. teils "verratenen" revolutionen (wozu übrigens "1989" aus meiner sicht nicht zu zählen ist, denn das war eine systemimplosion und keine revolution) dann auf die eh schon vorhandene basis jeweils noch eins draufgesetzt bzw. diese basis immer wieder getriggert. und trotzdem halte ich den eingangs skizzierten unterdurchschnittlichen hiesigen umgang mit kindern für eine entscheidende - zumindest psychophysisch wirksame - quelle des ganzen deutschen desasters.
und eine der vielfältigen ausdrücke davon lässt sich nach meinem verständnis bspw. auch in den folgenden aussagen betrachten, mit denen ich dann wieder den bogen zur aktuellen situation schlagen möchte - stichwort "mentalitätsunterschiede":
(...)"Die Revolution fand vor zweihundert Jahren in Frankreich statt, nicht in Deutschland", sagt Rudolf Heim von der Chemiegewerkschaft IG BCE. "Das sind unterschiedliche Mentalitäten." Dabei ist die Wut auch in Deutschland groß: "Conti stellt die Systemfrage", erklärt Heim. Es gebe eine Betriebsvereinbarung, dass es zu keinen betriebsbedingten Kündigungen in Stöcken kommt. "Damit wird eine rechtsverbindliche Vereinbarung gebrochen." Doch diesen Streit will man geordnet juristisch austragen, obwohl auch die IG BCE weiß, dass "man langfristig vor Gericht die Standorte nicht sichern kann".(...)
Heim fürchtet nicht, dass Conti-Mitarbeiter derweil die Geduld verlieren könnten und einfach ohne ihre Gewerkschaft beschließen, das Werk in Stöcken zu besetzen. "In Frankreich haben wilde Streiks Tradition, doch nicht in Deutschland."
So sieht es auch Gewerkschaftsexperte Hans-Jürgen Arlt: In Frankreich gebe es eine Protestkultur, in Deutschland eine Verhandlungskultur."(...)
so kann man sich eigene autoritätsängste und damit vorhandene konfliktscheu bzw. -unfähigkeit auch schönreden. ich würde ja den begriff einer unterwerfungskultur eher realistisch finden. aber diese realität soll und darf bis dato nicht ausgesprochen werden:
(...)"Heitmeyer: Frankreich besitzt eine ganz andere Protestgeschichte und auch eine gewaltanfällige Protestkultur. Außerdem ist Frankreich eine Klassengesellschaft. Darin entstehen viel eher Protestbewegungen, weil die Menschen sich aufgrund ihrer Klassenzugehörigkeit leichter zusammenfinden.
sueddeutsche.de: Ist es auch eine Mentalitätsfrage?
Heitmeyer: Ja, auch. In Deutschland ist es bisher undenkbar, dass deutsche Arbeiter ihre Manager festhalten und als Geisel nehmen, so wie es jetzt in Frankreich passiert."(...)
starkes stück von heitmeyer, die tatsache der existenz einer klassengesellschaft in deutschland schlicht zu leugnen. und dann noch die nichterklärung mittels der "anderen mentalität". etwas quasinatürliches, vielleicht "genetisch bedingtes", wird damit suggeriert, was bei näherer betrachtung zur durchaus selbstproduzierten sozialen realität wird - selbstproduziert durch all die jahrhunderte voller schläge, grausamkeiten, beschimpfungen, anklagen und erzeugter schuldgefühle.
heribert prantl nähert sich dem ganzen komplex mit einem weiteren aspekt , der das bisherige ergänzt:
(...)"Ist jetzt Freiheit - oder ist noch Ordnung? Dieser fragende Satz aus den Fliegenden Blättern von 1848 ist ein deutscher Schlüsselsatz, er erklärt den deutschen Anti-Chaos-Reflex. Freiheit galt hierzulande lange nicht als Inhalt und Teil der Ordnung, sondern als ein Synonym für Unruhe und Chaos. Ordnung ist gut, Freiheit ist schlecht. Das klingt noch heute in den politischen Debatten durch, mit denen neue Sicherheitsgesetze begründet werden; die Beschränkung der Freiheitsrechte soll mehr Sicherheit bringen. Ruhe ist erste Bürgerpflicht, Unruhe eine Pflichtverletzung. Das wurzelt tief im kollektiven Hintergrundbewusstsein."(...)
und der vorletzte satz war schlicht und einfach jahrhundertelang eine maxime des deutschen umgangs mit kindern. und auch vor diesem hintergrund ist ein ganz wichtiger satz zu lesen:
"Die gewalttätigsten Zeiten waren in Deutschland diejenigen, in denen keinerlei Unruhe geduldet wurde."
und an anderer stelle in der gleichen zeitung ist die folgende selbstbeschreibung zu lesen:
"Wir gelten, das ist unser gerechtfertigter internationaler Ruf, als duldsam, zuverlässig, berechenbar und flippen auch in Krisenzeiten nicht aus."
der zusatz "noch nicht" ist eine option auf die zukunft, bei der weder die genaue art des möglichen "ausflippens" (in der vergangenheit hat das bereits zweimal fast die ganze welt zu einem militärischen eingreifen gezwungen) noch die möglichen ziele benannt sind. ebenfalls finde ich es verdammt fraglich, ob duldsamkeit in irgendeiner form nun eine besonders positive eigenschaft ist (wölfe mögen bekanntlich besonders sanfte schafe...)
und irgendwie ist dieses merkwürdig unformulierte, im vagen gelassene, unaus- oder auch nicht-zuende-geprochene, zwischen den zeilen offen gelassene zumindest in meinen augen typisch für viele der beiträge, die sich in den vergangenen tagen medial mit den berüchtigten "sozialen unruhen" beschäftigten. mir fiel dabei immer wieder ein satz von theweleit aus den "männerphantasien" ein, der sinngemäß in etwa lautete, dass in deutschland alleine die vorstellung eines bürgerkriegs (die höchste zuspitzung sozialer unruhen bzw. der eskalierte klassenkampf) deshalb in einem merkwürdig obszönen geruch stehe, weil man da "an den eigenen eltern rummachen" würde - er hat das vor dem hintergrund seiner spezifischen psychoanalytischen herangehensweise mit einer sexuellen note verknüpft, die ich nicht unbedingt sehe - aber der satz macht trotzdem sinn, wenn man davon ausgeht, dass sich die "eliten" immer wieder gerne, bewusst oder unbewusst, auch als elternfiguren inszenieren. was nur deshalb funktionieren kann, weil sich relevante teile der bevölkerung davon aufgrund ihrer eigenen psychophysischen struktur ansprechen lassen. und den eltern widerspricht man bekanntlich nicht, zumindest nicht in deutschland.
*
ich vergesse bei all dem durchaus nicht, dass es spätestens seit den vielgeschmähten 68ern durchaus relevante und breiter wirksame veränderungen im umgang mit kindern hier gegeben hat; ebenfalls müssen heute die diversen gruppen von einwanderern und migrantInnen berücksichtigt werden (wobei ich die herkömmliche türkische kindererziehung nach meinem wissen ähnlich kritisch wie die deutsche bewerten würde), dazu kommen selbstverständlich auch noch ganz andere einflüsse, die über die frage des umgangs mit der krise hier mitentscheiden werden (wie die mögliche strategische und taktische intelligenz unserer antisozialen "eliten" bspw.), aber für mich ist das ausgeführte eben ein ganz entscheidender - und bspw. in den vielen aktuellen vergleichen zwischen deutscher und französischer "protestkultur" auch immer präsenter - historischer hintergrund, der von all jenen menschen, die sich hier emanzipatorische veränderungen wünschen und dafür arbeiten, keineswegs unterschätzt werden darf, was mehrheitlich leider immer noch der fall ist.
*
im dritten teil der reihe wird es dann u.a. genauer um die (öffentliche) diskussion der "sozialen unruhen" hierzulande gehen.
*
der fiktive brief des hyperion im ersten beitrag "...lässt sich durchaus nach meinem verständnis als sehr frühe psychohistorische studie lesen.". dabei beziehe ich mich vor allem auf die arbeiten des us-amerikanischen psychohistorikers lloyd deMause, von dem eine zusammenfassung seiner arbeiten hier mit einigen seiner zentralen thesen näher vorgestellt wird.
und die basis dessen, was da von hölderlin mittels der kunstfigur hyperion über die damalige deutsche bevölkerung und ihre eigenarten im sozialverhalten konstatiert wird, lässt sich anhand von deMause bzw. den arbeiten deutscher psychohistoriker wie folgt begreifen:
(...)"Kindesmord und Säuglingssterblichkeit waren gegen Ende des 19.Jahrhunderts in Deutschland und Österreich weit mehr verbreitet als in England, Frankreich, Italien und Skandinavien. Neugeborene wurden nicht als vollwertige Menschen betrachtet, weil man dachte, sie besäßen in den ersten 6 Wochen noch keine Seele und konnten so »in einer Art später Abtreibung getötet werden«. Vielfach bekamen gebärende Mütter in Deutschland »ihre Babies im Abort und behandelten die Geburt wie eine Evakuation«. Geburten, die als »Stuhlgang erfahren wurden, ermöglichten den Frauen ihre Kinder auf eine sehr grobe Art umzubringen, durch Zerschmettern ihrer Schädel wie bei Geflügel oder Kleintieren«.
Andere, die beobachteten, wie Mütter ihre Kinder töteten, bemerkten an diesen keine Gewissensbisse, »voll von Gleichgültigkeit, Kälte und Gefühllosigkeit [und vermittelten] den Eindruck allgemeiner Gefühlsarmut« gegenüber ihren Kindern. Auch wenn der Säugling überleben durfte, konnte er leicht vernachlässigt und zuwenig gefüttert, und somit »direkt in den Himmel geschickt« werden. Die Sterblichkeitsraten von Säuglingen reichten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von 21 Prozent in Preußen bis zu erstaunlichen 58 Prozent in Bayern, wobei sich die Zahlen im Süden teilweise aus der Praxis des Nichtstillens erklären, denn von Hand gefütterte Babies starben dreimal so häufig wie Gestillte. Die besten Zahlen für ganz Deutschland gegen Ende des Jahrhunderts lagen immer noch über 20 Prozent, doppelt so hoch wie in Frankreich und England."(...)
(...)Klöden schreibt, das Motto deutscher Eltern gegen Ende des 19.Jahrhunderts wäre simpel gewesen: »Kinder können nie genug geschlagen werden.«Obwohl wenige deutsche Eltern der Vergangenheit sich für ihr Schlagen heute einer Gefängnisstrafe entziehen könnten, bekamen die
Kinder Ende des 19. Jahrhunderts wenig Schutz von der Gesellschaft, da ihre eigenen Worte und nicht einmal die körperlichen Spuren ihrer
schweren Misshandlung nichts zählten. Endes Erhebung beschreibt typische Gerichtsverfahren, so ein Nachbar Anzeige erstattete, wegen »eines dreijährigen Mädchens, [deren] Körper mit Striemen übersäht war. Lippen, Nase und Zahnfleisch waren offene Wunden. Der Körper zeigte zahlreiche eiternde wunde Stellen. Das Kind wurde auf einen glühend roten eisernen Herd gesetzt - zwei Wunden auf den Pobacken eiterten«, aber das Gericht sprach die Eltern frei."(...)
(auszüge aus lloyd deMause, "das emotionale leben der nationen", siehe literaturliste oder den link oben)
das sind zustände, wie sie sich nicht plötzlich erst in der beschriebenen epoche entwickelt haben, sondern auch vorher (zb. in der zeit von hölderlin) vorhanden waren - und spätestens seit den arbeiten verschiedener, v.a. ursprünglich "klassisch" psychoanalytischer dissidentInnen wie arno gruen und besonders alice miller, fortgeführt und ergänzt durch eigene ansätze von der psychohistorie und vielfältig belegt und gestützt durch die untersuchungen der aktuellen psychotraumatologie könnten eigentlich alle wissen, dass ein derartig destruktiver umgang innerhalb unserer eigenen spezies - gegenüber dem nachwuchs - nicht nur nicht ohne schwere negative konsequenzen für die direkt betroffenen bleibt, sondern auch das potenzial besitzt, ganze gesellschaften in ihrer sozialen basis schwer zu schädigen, wenn nicht sogar mittel ständiger zwanghafter re-inszenierungen der destruktivität auf den pfad der selbstzerstörung zu treiben.
ein ganz fataler mechanismus bei traumatischen prozessen stellt dabei die eigenschaft von traumata dar, sich zu tradieren - d.h., dass traumatisierte menschen, bei denen ohne bewussten umgang mit den trauma ihr ganzes leben von selbigen in vielfältiger art und weise totalitär bestimmt werden kann - in sachen körperlicher verfassung, körperlichem ausdruck, wertesysteme, weltvertrauen, soziales verhalten, beziehungsfähigkeiten, selbst- und fremdwahrnehmung - in einem bestimmten sinne gar nicht anders können, als ihre gesamte soziale umgebung und besonders "eigene" kinder ständig mit traumatischen und auch traumatisierenden strukturen im alltag zu konfrontieren und zu beeinflussen. und das auch, ohne das die kinder selbst als traumatisch zu bezeichnende erlebnisse am eigenen leib erlebt haben müssen. der gleich prozeß kann sich dann, selbst ohne neues traumatisches material, in abgeschwächter und modifizierter form noch in den nächsten generationen manifestieren. weitere informationen zu tradierten traumata im blog bspw. hier, hier , da und dort.
*
ich glaube dabei, dass die informationen, die hinter der wahrnehmung der tatsache, dass traumata dazu neigen, sich in gewisser - und vielfältiger - weise fortzupflanzen stecken, noch nicht annähernd in ihrer vollen bedeutung und allen konsequenzen verstanden worden sind. auch ich möchte mir das nicht anmaßen, habe aber aus meiner inzwischen jahrelangen und teils sehr persönlichen beschäftigung damit immer wieder durch vage gefühle und bestimmte aha!-erlebnisse öfter den eindruck, als würde hier eine entscheidende weggabelung unserer weiteren evolutionären entwicklung liegen. will sagen, das es für mich in manchen momenten so erscheint, das es ohne ein breites sowohl individuelles als auch kollektives verständnis des prozesses "trauma" die erwähnte entwicklung nicht (mehr) geben wird. und die spezies insgesamt in einer phase der agonie, gewalttätigkeit, allgemeiner antisozialer atmosphäre und psychophysischer verwahrlosung enden wird (alles typische mögliche symptome eines traumas, zu besichtigen schon in vielen weltregionen). und, das sollte und muss dazu gesagt werden: es wird ein sehr qualvolles ende für die meisten sein, die das möglicherweise miterleben müssen.
deutschland stellt dabei eine art mikroskop dafür dar, was weit verbreitete - und primär durch den über jahrhunderte extrem brutalen und erbärmlichen umgang mit kleinen menschen erzeugte - traumata in massenhaften dimensionen innerhalb einer gesellschaft anrichten können. ich habe im letzten beitrag bereits das, was so allgemein unter dem begriff der "deutschen mentalität" verstanden wird, kurz umrissen. und sowohl die autoritätsängste (wurden und werden bis heute zuerst in den familien verankert) als auch bereitwillige unterwürfigkeit (dito) stellen ebenso wie die brutalität gegen alles anscheinend "schwächere" (wird bis heute von den sog. "eliten" benutzt) tatsächlich zwei zusammengehörige seiten einer medaille dar. je nach betroffenem mensch, der zugehörigen sozialisation sowie dem jeweiligen sozialen umfeld im näheren und weiteren (gesellschaftliche verhältnisse) sinne können traumatische strukturen sich mal im extrem in der einen oder der anderen weise ausdrücken. aber beides gehört funktional untrennbar zusammen.
wie die deutsche, von deMause inspirierte, psychohistorische forschung ausserdem darlegt, gibt es auffällige entwicklungsunterschiede zwischen deutschland und anderen europäischen ländern (zb. frankreich) im umgang mit kindern. und diese sind bruchlos bis 1945 zu konstatieren, erst nach dem ende der nazis lässt sich ansatzweise eine sehr langsame verbesserung wahrnehmen (und relikte der üblichen und "normalen" sog. erziehung bis 45 haben sich in der alten brd, aber wahrscheinlich auch in der ddr, mindestens bis in die 1970er jahre gehalten - stichwort heimkinder.) ebenfalls ist die mehrheitlich - zumindest öffentlich - entsetzte reaktion auf die immer wieder neuen fälle von verschiedener gewalt gegen kinder (siehe auch den index hier im blog, wo viele dieser fälle dokumentiert sind) eine für deutschland historisch recht neue reaktion, zumal die jeweiligen praktiken - kindermorde durch eltern, vernachlässigung, prügel - hier über jahrhunderte im bewusstsein viel zu vieler menschen als "normal" gegolten haben.
natürlich haben dann die historischen traumatischen kollektiverfahrungen durch diktaturen, kriege, flucht, vertreibung und auch all die gescheiterten bzw. teils "verratenen" revolutionen (wozu übrigens "1989" aus meiner sicht nicht zu zählen ist, denn das war eine systemimplosion und keine revolution) dann auf die eh schon vorhandene basis jeweils noch eins draufgesetzt bzw. diese basis immer wieder getriggert. und trotzdem halte ich den eingangs skizzierten unterdurchschnittlichen hiesigen umgang mit kindern für eine entscheidende - zumindest psychophysisch wirksame - quelle des ganzen deutschen desasters.
und eine der vielfältigen ausdrücke davon lässt sich nach meinem verständnis bspw. auch in den folgenden aussagen betrachten, mit denen ich dann wieder den bogen zur aktuellen situation schlagen möchte - stichwort "mentalitätsunterschiede":
(...)"Die Revolution fand vor zweihundert Jahren in Frankreich statt, nicht in Deutschland", sagt Rudolf Heim von der Chemiegewerkschaft IG BCE. "Das sind unterschiedliche Mentalitäten." Dabei ist die Wut auch in Deutschland groß: "Conti stellt die Systemfrage", erklärt Heim. Es gebe eine Betriebsvereinbarung, dass es zu keinen betriebsbedingten Kündigungen in Stöcken kommt. "Damit wird eine rechtsverbindliche Vereinbarung gebrochen." Doch diesen Streit will man geordnet juristisch austragen, obwohl auch die IG BCE weiß, dass "man langfristig vor Gericht die Standorte nicht sichern kann".(...)
Heim fürchtet nicht, dass Conti-Mitarbeiter derweil die Geduld verlieren könnten und einfach ohne ihre Gewerkschaft beschließen, das Werk in Stöcken zu besetzen. "In Frankreich haben wilde Streiks Tradition, doch nicht in Deutschland."
So sieht es auch Gewerkschaftsexperte Hans-Jürgen Arlt: In Frankreich gebe es eine Protestkultur, in Deutschland eine Verhandlungskultur."(...)
so kann man sich eigene autoritätsängste und damit vorhandene konfliktscheu bzw. -unfähigkeit auch schönreden. ich würde ja den begriff einer unterwerfungskultur eher realistisch finden. aber diese realität soll und darf bis dato nicht ausgesprochen werden:
(...)"Heitmeyer: Frankreich besitzt eine ganz andere Protestgeschichte und auch eine gewaltanfällige Protestkultur. Außerdem ist Frankreich eine Klassengesellschaft. Darin entstehen viel eher Protestbewegungen, weil die Menschen sich aufgrund ihrer Klassenzugehörigkeit leichter zusammenfinden.
sueddeutsche.de: Ist es auch eine Mentalitätsfrage?
Heitmeyer: Ja, auch. In Deutschland ist es bisher undenkbar, dass deutsche Arbeiter ihre Manager festhalten und als Geisel nehmen, so wie es jetzt in Frankreich passiert."(...)
starkes stück von heitmeyer, die tatsache der existenz einer klassengesellschaft in deutschland schlicht zu leugnen. und dann noch die nichterklärung mittels der "anderen mentalität". etwas quasinatürliches, vielleicht "genetisch bedingtes", wird damit suggeriert, was bei näherer betrachtung zur durchaus selbstproduzierten sozialen realität wird - selbstproduziert durch all die jahrhunderte voller schläge, grausamkeiten, beschimpfungen, anklagen und erzeugter schuldgefühle.
heribert prantl nähert sich dem ganzen komplex mit einem weiteren aspekt , der das bisherige ergänzt:
(...)"Ist jetzt Freiheit - oder ist noch Ordnung? Dieser fragende Satz aus den Fliegenden Blättern von 1848 ist ein deutscher Schlüsselsatz, er erklärt den deutschen Anti-Chaos-Reflex. Freiheit galt hierzulande lange nicht als Inhalt und Teil der Ordnung, sondern als ein Synonym für Unruhe und Chaos. Ordnung ist gut, Freiheit ist schlecht. Das klingt noch heute in den politischen Debatten durch, mit denen neue Sicherheitsgesetze begründet werden; die Beschränkung der Freiheitsrechte soll mehr Sicherheit bringen. Ruhe ist erste Bürgerpflicht, Unruhe eine Pflichtverletzung. Das wurzelt tief im kollektiven Hintergrundbewusstsein."(...)
und der vorletzte satz war schlicht und einfach jahrhundertelang eine maxime des deutschen umgangs mit kindern. und auch vor diesem hintergrund ist ein ganz wichtiger satz zu lesen:
"Die gewalttätigsten Zeiten waren in Deutschland diejenigen, in denen keinerlei Unruhe geduldet wurde."
und an anderer stelle in der gleichen zeitung ist die folgende selbstbeschreibung zu lesen:
"Wir gelten, das ist unser gerechtfertigter internationaler Ruf, als duldsam, zuverlässig, berechenbar und flippen auch in Krisenzeiten nicht aus."
der zusatz "noch nicht" ist eine option auf die zukunft, bei der weder die genaue art des möglichen "ausflippens" (in der vergangenheit hat das bereits zweimal fast die ganze welt zu einem militärischen eingreifen gezwungen) noch die möglichen ziele benannt sind. ebenfalls finde ich es verdammt fraglich, ob duldsamkeit in irgendeiner form nun eine besonders positive eigenschaft ist (wölfe mögen bekanntlich besonders sanfte schafe...)
und irgendwie ist dieses merkwürdig unformulierte, im vagen gelassene, unaus- oder auch nicht-zuende-geprochene, zwischen den zeilen offen gelassene zumindest in meinen augen typisch für viele der beiträge, die sich in den vergangenen tagen medial mit den berüchtigten "sozialen unruhen" beschäftigten. mir fiel dabei immer wieder ein satz von theweleit aus den "männerphantasien" ein, der sinngemäß in etwa lautete, dass in deutschland alleine die vorstellung eines bürgerkriegs (die höchste zuspitzung sozialer unruhen bzw. der eskalierte klassenkampf) deshalb in einem merkwürdig obszönen geruch stehe, weil man da "an den eigenen eltern rummachen" würde - er hat das vor dem hintergrund seiner spezifischen psychoanalytischen herangehensweise mit einer sexuellen note verknüpft, die ich nicht unbedingt sehe - aber der satz macht trotzdem sinn, wenn man davon ausgeht, dass sich die "eliten" immer wieder gerne, bewusst oder unbewusst, auch als elternfiguren inszenieren. was nur deshalb funktionieren kann, weil sich relevante teile der bevölkerung davon aufgrund ihrer eigenen psychophysischen struktur ansprechen lassen. und den eltern widerspricht man bekanntlich nicht, zumindest nicht in deutschland.
*
ich vergesse bei all dem durchaus nicht, dass es spätestens seit den vielgeschmähten 68ern durchaus relevante und breiter wirksame veränderungen im umgang mit kindern hier gegeben hat; ebenfalls müssen heute die diversen gruppen von einwanderern und migrantInnen berücksichtigt werden (wobei ich die herkömmliche türkische kindererziehung nach meinem wissen ähnlich kritisch wie die deutsche bewerten würde), dazu kommen selbstverständlich auch noch ganz andere einflüsse, die über die frage des umgangs mit der krise hier mitentscheiden werden (wie die mögliche strategische und taktische intelligenz unserer antisozialen "eliten" bspw.), aber für mich ist das ausgeführte eben ein ganz entscheidender - und bspw. in den vielen aktuellen vergleichen zwischen deutscher und französischer "protestkultur" auch immer präsenter - historischer hintergrund, der von all jenen menschen, die sich hier emanzipatorische veränderungen wünschen und dafür arbeiten, keineswegs unterschätzt werden darf, was mehrheitlich leider immer noch der fall ist.
*
im dritten teil der reihe wird es dann u.a. genauer um die (öffentliche) diskussion der "sozialen unruhen" hierzulande gehen.
monoma - 2. Mai, 15:10