assoziation: der umgang mit der krise in deutschland (4)

(zu den vorherigen teilen.)

*

(...)"So ist es ja immer gewesen, dass die Deutschen entweder andere das Fürchten lehrten oder sich vor sich selber fürchteten. Nun merken wir, dass etwas sich verändert hat; das heißt, die anderen merken es. Roger Cohen, der Berlin-Korrespondent der New York Times, schrieb kürzlich in der Süddeutschen: »Die Welt steht Kopf – die Lage ist fürchterlich, aber die Deutschen sind glücklich!«(...)

ein kurzer auszug aus einem
essay, der die frage stellt, "was eigentlich aus der german angst geworden ist". ich komme auf diesen artikel später nochmal zurück. vorher grabe ich nochmal im letzten herbst, genauer ende oktober, wo ich folgendes skizziert hatte:

(...)"es ist vor dem eben umrissenen eigentlich kein wunder, dass bei der aussicht auf derart gewaltige um- und zusammenbrüche eine mehrheit der hiesigen bevölkerung nichts mitbekommen will - ja, will. denn auch wenn die materie gerade bezgl. der ökonomie komplex ist, so sind doch für alle interessierten die nötigen informationen (noch) vorhanden, um sich ein wie rudimentär auch immer ausfallendes bild der situation machen zu können. bezgl. dieses punktes gibt es keine entschuldigung. es muss also etwas mit der eigenen motivation, den verbreiteten inneren strukturen und auch mit der eigenen wahrnehmung zu tun haben, wenn hier bisher weiter "alltag" gespielt wird. ein wichtiger punkt ist dabei sicherlich die schon neulich aufgegriffene soziale trance, zu der die propagierung von "privatheit" (in der form als synonym von vereinzelung) sicher viel beiträgt. will sagen: uns fällt jetzt die allgemeine schädigung der beziehungsfähigkeiten (und damit auch schädigung der fähigkeiten zum kollektiven handeln) voll auf die füße. und als eine folge davon werden wir im zuge der weiteren eskalation der krise mit zunehmend destruktiver werdenden ängsten und aggressionen rechnen müssen"(...)

jetzt, ein gutes halbes jahr später, scheint mir der zeitpunkt gekommen zu sein, um die im letzten satz genannte these erstmals auf ihre plausibilität zu überprüfen. das kann ich naturgemäß nur auszugsweise, weil ich weder über die möglichkeiten noch über die zeit verfüge, entsprechendes bundesweit gültiges datenmaterial zu sammeln und zu sichten. datenmaterial, welches ich vor allem in den rubriken der "unpolitischen", "privaten" und "alltäglichen" gewalt suchen würde, denn - und den zusatz hatte ich damals nicht gemacht - gerade in diesen bereichen vermute ich das erste sichtbarwerden der destruktiven kollektiven tiefendynamik, welche diese umfassende systemkrise innerhalb einer bevölkerung unfehlbar mit sich bringen wird, die mehrheitlich nicht (mehr) fähig erscheint, sich qualitativ andere lebens- und existenzbedingungen auch nur vorzustellen und den herrschenden kapitalismus plus seine totalitär verdinglichenden wirkungen im gesamten sozialen leben als quasi-"natürliches" ansieht.

fangen wir also mal an mit dem kleinen und nicht repräsentativen überblick von entsprechenden meldungen, die mir in den letzten wochen und monaten so im gedächtnis hängen geblieben sind. da wären zum einen etliche großereignisse wie bspw. der
rheinische karneval im februar:

"Nachdem es schon an Weiberfastnacht teils aggressiv und gewalttätig zuging, kam es auch am Rosenmontag vor allem in Köln zu zahlreichen Schlägereien. In den anderen Karnevalshochburgen des Landes wurde nach Angaben der Polizei weitgehend friedlich gefeiert."

aber:

(...)"An allen Karnevalstagen zusammen haben die Beamten weniger Einsätze absolvieren müssen als im Vorjahr. Nur an Weiberfastnacht sei es gewalttätiger als sonst zugegangen, resümiert Baldes.

Die Bundespolizei im Kölner Hauptbahnhof verzeichnet einen sprunghaften Anstieg der Gewalt. Von Weiberfastnacht bis zum Abend des Rosenmontags wurden 19 Körperverletzungen gemeldet."(...)


nur ein großstadtphänomen?

(...)"Doch nicht nur der Kölner Karneval wird von gewalttätigen Jecken massiv gestört. Auch die Polizei im Rheinisch-Bergischen Kreis bemerkte eine zunehmende Gewaltbereitschaft. "Mit von Jahr zu Jahr zunehmender Tendenz ist festzustellen, dass junge Leute kaum noch Interesse an Karneval selbst haben, sondern die Tage gemeinsam nutzen, um sich in jede Richtung auszuleben", erklärt Norbert Knappe von der Polizei in Bergisch Gladbach. Die Einsätze wegen körperlicher Gewalt sind von 69 Delikten im vergangenen Jahr auf 103 angestiegen."(...)

und als bewohnerin von köln hatte
somlu damals in bezug auf karneval einen aspekt erwähnt, der auch in allen folgenden meldungen fast immer eine nicht unwesentliche rolle spielen wird - alkohol.

von karneval in den april vor meine haustür nach bremen, wo bspw.
folgendes zu verzeichnen war:

"Bei drei verschiedenen Einsätzen wurde am Wochenende Widerstand gegen die einschreitenden Polizeibeamten geleistet. Auf dem Vegesacker Bahnhofsplatz trat und schlug ein 23 Jahre alter Mann auf Polizisten ein und zertrümmerte die Scheibe eines Streifenwagens. Am Werdersee trat eine 14 Jahre alte Jugendliche mit Füßen nach den Beamten und beschädigte die Tür eines Streifenwagens und in Bremen-Burg widersetzte sich ein 29 Jahre alter Bremer seiner vorläufigen Festnahme mit Fußtritten gegen die Beamten."(...)

alle beteiligten waren im alter bis ca. 25, also nach allgemeinem verständnis noch jugendliche. bei zwei der fälle war ebenfalls alkohol im spiel. und bemerkenswert - selbst die polizeitypische überhöhung von "widerstandshandlungen" abgerechnet - fand ich vor allem das spontane attackieren der polizei seitens der verhafteten.

ostern war zumindest hier bisher eine art festivität, die nicht durch irgendwelche besonders exzessiven "feiern" geprägt war - bis zu diesem jahr. wer sich ein wenig mit der geschichte der straßenkrawalle in der (alten) brd beschäftigt hat, wird den namen
sielwallkreuzung vermutlich schon mal gehört haben:

"In den frühen Morgenstunden des Ostersonntages blockierten zirka 250 bis 300 zum Teil erheblich angetrunkene Menschen die Sielwallkreuzung. Es wurde unkontrolliert Fußball gespielt und dabei auch die Oberleitungen der Straßenbahn getroffen. Der ÖPNV wurde daraufhin umgeleitet. Durchfahrende Taxen wurden von der Menge umringt und als Polizeikräfte vor Ort erschienen, wurden diese mit Flaschenwürfen attackiert."(...)

hieß es in den ersten meldungen der lokalpresse seitens der polizei noch, das wäre alle ein werk von "autonomen" im zusammenspiel mit "erlebnishungrigen jugendlichen" gewesen, so wurde das später revidiert - es blieben nur die letzteren übrig. es kam übrigens in den letzten wochen noch öfter zu solchen fussballspielen nachts auf der
gleichen kreuzung - "Heute Morgen hielten sich ca. 150 Personen im Bereich der Sielwallkreuzung in größtenteils aggressiver Grundstimmung auf. Sie spielten auf der Kreuzung Fußball, feuerten Leuchtraketen ab und hatten mitten auf der Kreuzung ein 120 Liter fassendes Müllgefäß in Brand gesetzt. Der Individualverkehr war blockiert.

Die eintreffenden Polizeikräfte wurden mit Flaschen beworfen und wüst beschimpft. Durch zügiges Vorgehen der Einsatzkräfte - u.a. unter Einsatz von Diensthunden - wurde die Kreuzung geräumt."(...)
-, was eine größere öffentliche debatte unter forderung nach mehr polizeipräsenz nach sich zog. und stellt das umfunktionieren der kreuzung besonders nach werder-spielen oder auch bei welt- und europameisterschaften schon eine art tradition dar, so war dieses jahr das erste mal zu beobachten, wie nicht nur ostern, sondern (s.o.) auch noch ein paar wochenenden später sich jeweils eine menge ohne einen solch "formalen" anlaß versammelte, mit anschließenden weiteren polizeieinsätzen. es hat fast den anschein, als würden sich die über jahre berüchtigten "silvesterkrawalle" rund um die kreuzung jetzt unregelmäßig auf das ganze jahr ausdehnen. nächsten mittwoch dürfte anläßlich des uefa-pokal-endspiels unter bremer beteiligung - und vor einem feiertag - ähnliches zu beobachten sein, wobei der gleichfalls beginnende kirchentag am selben abend vermutlich für eine sehr seltsame kombination von sich auf der straße befindlichenden menschen sorgen wird.

aber ostern war auch an anderen orten - wie zb. einem großen und ebenfalls seit jahren stark besuchten osterfeuer am weserstrand - gekennzeichnet von maßlosen alkoholkonsum sowie teils schweren übergriffen und überfällen, in einem fall einer messerstecherei, bei denen überall ebenfalls jugendliche bis 25 - meist noch jünger - beteiligt und betroffen waren.

bleiben wir noch ein wenig beim stichwort fussball, der ja nicht nur in seiner kommerziellen "profi"-variante und nicht nur in massenpsychologischer hinsicht einige
funktionen erfüllt, sondern sich dadurch auch als eine art gesellschaftlicher seismograph nutzen lässt. vor ein paar tagen beschwerte sich wieder einmal die polizei:

(...)"Pro Spielsaison summierten sich die Einsatzzeiten von Polizeibeamten mittlerweile auf 1,3 Millionen Stunden, berichtet Jürgen Schubert, Inspekteur der Bereitschaftspolizeien der Länder. Jedes Wochenende würden deutschlandweit rund 800 Spiele von Beamten begleitet.
Die enorme Zahl lässt sich einerseits auf das Phänomen zurückführen, dass selbst in den unteren Ligen, die Gewaltbereitschaft von Fangruppen zunimmt. Ein zweiter Grund ist die Entwicklung der Ultras-Bewegungen, die der Polizei Kopfschmerzen bereiten. Aus den einstigen Kritikern der Kommerzialisierung des Fußballs, gehen nach Darstellung der Polizeivertreter immer öfter gewaltbereite Gruppen hervor."(...)


wobei bzgl. der "ultras" noch anzumerken wäre, dass sich hier die wahrnehmung der polizei naturgemäß von der wahrnehmung der fans krass unterscheidet (interessierte stöbern bitte
hier.)

*

soweit wie gesagt ein paar nicht repräsentative, subjektive und schlaglichtartig ausgewählte meldungen in sachen "unpolitischer" gewalt aus den letzten monaten. die verzerrenden medialen einflüsse sowie die interessen der polizei schon berücksichtigt: was können uns solche meldungen nun in hinsicht auf die ausgangsfrage sagen? sind sie überhaupt aussagekräftig? immerhin waren ja bei den gleichen anlässen zeitgleich teils tausende menschen unterwegs, die nun nicht in irgendeiner form "polizeilich auffällig" geworden sind. und da ist schon die erste einschränkung: die aktuelle qualität der hiesigen sozialen beziehungen sowie der allgemeine individuelle psychophysische "durchschnittszustand" lässt sich meiner meinung nach aus solchen meldungen nur beschränkt ableiten, nicht zuletzt deshalb, weil sich besonders bereiche wie die innerfamiliäre oder auch beziehungsgewalt, aber auch das mobbing im beruf, immer noch weitgehend unbeobachtet abspielen. hingegen sind die jugendlichen und teils auch die kinder seit jahren (medial) immer zuerst im blickpunkt, nicht nur wg. des sog.
komasaufens, sondern auch wg. der konstatierten allgemeinen perspektivlosigkeit, die in diesem fall jedoch prompt - und wieder öffentlich - sofort bestritten wird.

kurz: es ist ein durchaus widersprüchliches bild, was sich da (medial) präsentiert. und ich versuche mal, sowohl die widersprüche als auch die aus meiner sicht vorhandenen tatsächlichen tendenzen auf den punkt zu bringen:
  • alkohol: bekanntlich die "volksdroge" nr.1, und ihr einfluss bei massenevents aller art ist gewaltig. ich halte die beliebtheit von alkohol aufgrund seiner spezifischen wirkungen - u.a. förderung von enthemmung und amnesie - hierzulande nicht für zufällig. und wenn ich mir so die alltäglichen straßenszenen so betrachte, die ich mitbekomme, bekomme ich mehr und mehr den eindruck, dass - analog zum einsatz bei der ganz persönlichen "krisenbewältigung", wie er seit jeher benutzt wurde - auch die laufende systemkrise im aktuellen stadium nicht unwesentlich mittels alkohol von vielen vorläufig "weggetrunken" wird.
  • "widerstand gegen die staatsgewalt": bei aller vorsicht, die vor allem aus der berücksichtigung der eigeninteressen der polizei bei solchen öffentlichen diskussionen herrührt - hier habe ich ebenfalls den eindruck, dass es primär, aber nicht nur, unter bestimmten teilen von jugendlichen zu einer massiven verschiebung in der hinsicht gekommen ist, dass die polizei ihren status als "respektsinstitution", wie sie ihn bspw. noch in meiner jugendzeit in den 1970ern besaß, massiv eingebüsst hat. und das ist aus meiner sicht auch keine entwicklung, die nur mit der zunahme der zahl von kindern / jugendlichen aus migrantischen milieus zu tun hat, die in ihren herkunftsländern teils mit einer wesentlich offener brutal agierenden polizei zu tun haben (was die polizei hierzulande nun nicht freisprechen soll.) ich finde diese entwicklung durchaus ambivalent: einmal ist eine weichende angst vor der "staatsgewalt" in meinen augen nun nichts grundsätzlich negatives, weil zu fähigkeiten wie dem öffentlichen und bewussten politischen widerspruch nun einmal auch relativierte ängste gegenüber dem staatsapparat gehören; zum anderen aber könnte es sich dabei auch um menschen handeln, wie sie in diversen blogbeiträgen schon beschrieben wurden, mit sehr ernsten psychophysischen störungen, die sich durch grenzenlosigkeiten aller art, und eben nicht nur gegenüber staatlicher gewalt, manifestieren.
  • "öffentliche" (bzw. öffentlich registrierte) straßengewalt allgemein: meines wissens in den letzten jahren statistisch zurückgegangen, wobei eine in relation kleine gruppe von primär ebenfalls jugendlichen hier eine erhöhte brutalisierung gegenüber ihren opfern zeigte. ich vermute, dass sich im laufenden jahr hier sowohl der allgemeine trend spürbar verändern wird (ich gehe von einer zunahme aus), als auch die brutalisierung verschärfen und ebenfalls verbreiten wird.
  • die "unsichtbaren" gewaltformen: hier sind das schon genannte mobbing, auch stalking, ebenfalls die sog. beziehungsgewalt, aber auch die folgen wie psychophysische ("psychische") krankheiten gemeint. und gerade in diesem bereich gehe ich bis auf weiteres - solange nämlich keinerlei wirkliche politische massenbewegung erkennbar ist - von einer enormen verschärfung aus. warum, steht letztlich schon in den vorherigen teilen dieser reihe: die vorhandene traumatische matrix im zusammenspiel mit den vereinzelnden ("individualistischen") ideologischen maximen, zuschreibungen und "werten" des herrschenden systems begünstigt eindeutig die letzteren reaktionen als "typische" für den hiesigen bisherigen umgang mit einer krise solchen kalibers. soweit meine persönliche prognose.
*

auch bei hinzunahme weiterer potenzieller indikatoren, die auskunft über kollektive tiefenprozesse geben können, erscheint die situation weiter widersprüchlich. nehmen wir einmal einen (musikalisch einigermaßen erträglichen) chart-hit, nämlich "haus am see" von peter fox, der mitte oktober letzten jahres (offener krisenbeginn) zuerst unter den "top ten" in d-land auftauchte und sich in den charts bis vor kurzem halten konnte:



ist der text ironisch gemeint? ich bin mir da ernsthaft nicht sicher, obwohl ich zumindest ironische anklänge durchhöre. ansonsten stellt der text eine geballte ansammlung von vorstellungen des unbeschwerten, wenn auch modifizierten, spießerglücks aus männlicher sicht dar - individueller "erfolg", eine narzisstische "die-welt-ist-für-mich-da" haltung, die sich regelrecht beisst mit tendenzen zum cocooning im eigenen "haus am see" und geradezu aufdringlichen wünschen nach einer (groß-)familie sowie sozialer verankerung, bei gleichzeitiger akzeptanz des neoliberalen credos vom win-it-or-lose-it, selbstverständlich mit "gezinkten karten". und alles ausgesprochenerweise ein traum.

kurz: der song lässt sich in meiner wahrnehmung durchaus auch als krisensong verstehen, je nach blickwinkel als einer der trotzigen sorte, oder aber auch als abgesang auf hiesige lebensträume und -entwürfe (wenn man denn die eventuelle ironische komponente als existierend bezeichnet).

als anschluß dazu gleich eine der zahllosen
umfragen dieser zeit:

(...)"In ihrem Unmut über die Auswirkungen der Wirtschaftskrise würde offenbar die Mehrheit der Berliner Gewalttätigkeiten gegen die Verantwortlichen gutheißen. Wie eine aktuellen Forsa-Umfrage im Auftrag der «Berliner Zeitung» (Wochenendausgabe) ergaben, sagten 58 Prozent der Befragten, dass sie Verständnis für gewalttätige Proteste und Demonstrationen haben, die sich etwa in Frankreich gegen Banker und Manager richteten. Verständnis für solche Aktionen haben in Berlin besonders Anhänger der Linken (69 Prozent) und der Grünen (66 Prozent), aber auch 58 Prozent der SPD- und immerhin 53 Prozent der CDU-Anhänger."(...)

was im eingangs erwähnten essay so kommentiert wird:

(...)"Man kann die Solidität einzelner Umfragen mit Fug bezweifeln, aber nicht bezweifeln lässt sich, dass sie nicht das geringste Indiz für Radikalisierungen, gleich welcher Art, enthalten. Es müssten sich ja, aller historischen Erfahrung nach, ökonomische Krisenerfahrungen in einem sichtbaren Zulauf zu radikalen Parteien äußern. Nichts davon ist zu sehen. Zwar gibt es, vor allem in den neuen Bundesländern, einen harten Kern neofaschistischer Antidemokraten, aber erstens ist der in Frankreich oder Italien nicht kleiner, zweitens gab es ihn schon vor der Krise, und dass er jetzt wachsen wird, ist keineswegs ausgemacht."(...)

der erste satz ist im angesicht der zitierten umfrage eine völlig widersprüchliche behauptung, und nichts weiter. die nächste behauptung stimmt zwar, es ist für mich aber inzwischen mehr als fraglich, ob sich das genannte historisch gewohnte muster auch bei dieser krise finden lassen wird. die entscheidenden reaktionen in den kollektiven tiefenströmungen werden sich aller wahrscheinlichkeit in historisch neuen formen ausdrücken, die sich erst als letztes - wenn überhaupt - in irgendwelchen prozentanteilen irgendwelcher parteien wiederspiegeln werden (eher in solchen formen, wie ich sie oben als alltagsgewalt umrissen habe). und das hat nicht nur etwas mit den in den letzten beiträgen in dieser reihe skizzierten verhältnissen zu tun, sondern auch mit der endgültigen zerschlagung aller organisierten strukturen der arbeiterbewegung hierzulande im nationalsozialismus. das war ein bruch, von dem sich "die linke" bis heute nicht erholt hat (und das meine ich nicht primär auf die zerschlagung der kpd bezogen, sondern eher auf das, was sich als "proletarisches milieu" bezeichnen ließe - von arbeitersportvereinen über selbsthilfestrukturen in proletarischen vierteln bis hin zu einer ausgewachsenen kleingartenkultur (die nicht umsonst bis heute staatlicherseits sehr reglementiert wird - im ns waren die parzellengebiete vieler großstädte rückzugsorte des vorhandenen widerstands).

der autor des essays in der zeit hat nicht nur davon offensichtlich keinen begriff, sondern auch nicht von der existenz transgenerationaler traumata, wie sie hier schon thema waren (und wie sie die teils durchaus zutreffenden bemerkungen zur öffentlichen stimmung in den 1980er jahren miterklären können).

(...)"Man soll nie sagen, etwas sei ein für alle Mal vorbei, aber ein unbefangener Blick auf die Gegenwart lehrt, dass die alte Mechanik aus Angst und Aggression schwach geworden ist. Natürlich gibt es immer wieder Gegenbeweise, aber in der jetzigen Wirtschaftskrise geschah es nicht in Deutschland, dass Banker oder Manager attackiert wurden, sondern in England und Frankreich."(...)

und das wird als ausdrücklich positiv beschrieben, obwohl man ebensogut desinteresse, nichtwissen über das tatsächliche ausmaß der krise sowie immer noch vorhandene autoritätsängste und falsche vorstellungen über die "eliten" als wahrscheinlichere gründe anführen konnte. immer noch wird ein "seriöses" auftreten im nadelstreifenanzug und das sprechen in esoterischen und bedeutungsvoll erscheinenden worten über ökonomische zusammenhänge von vielen hierzulande als beweis für gute absichten und fähigkeit genommen. der
hauptmann von köpenick ist immer noch lebendig, und der oben beschriebene veränderte umgang von teilen der jugendlichen mit der staatsgewalt stellt dabei nur scheinbar einen widerspruch dar - die eine (staatliche) uniform mag abgelehnt werden, aber die fixierung und mehr oder weniger heimliche sehnsucht nach der anderen (nadelstreifen) ist nach jahrzehnten der kapitalistischen formierung unter totalitären vorzeichen (und als symbol für geld = "leben") mehr oder weniger ungebrochen. bisher sollen nur die nieten weg (wenn überhaupt), aber (noch) nicht das gesamte system dahinter.

der dokumentierte essay lässt sich als verspäteter kommentar zu den vor ein paar wochen beschworenen und verdammten sozialen unruhen lesen, und das bringt mich jetzt direkt zu diesem thema zurück. es gab da u.a. eine ganz aufschlußreiche
sammlung verschiedener "prominenter" stimmen, ein paar auszüge:

(...)"Bisher war die soziale Stabilität ein klarer Standortvorteil. Wer auch diesen noch abschaffen will, setzt nicht nur die Zukunft unserer Wirtschaft und ihrer Arbeitsplätze aufs Spiel, sondern führt etwas anderes im Schilde: Der will ein anderes politisches System!"

Hans-Olaf Henkel


ganz recht, "herr" henkel - und zwar ein system, wo leute wie Sie nichts, aber auch gar nichts mehr zu melden haben.

(...)"Die Geiselnahmen in Frankreich zeigen, welche Lösungen verzweifelte Menschen suchen. Daraus kann sich eine Eigendynamik entwickeln, die von den Verantwortlichen genau beobachtet werden sollte - sie könnten zur Rechenschaft gezogen werden. Darum brauchen wir schnell ein gewaltiges Beschäftigungsprogramm, das gerade den industriellen Bereich stärkt. Die Regierung muss ganz schnell viel Geld lockermachen."

Rainer Einenkel


ein betriebsratsvorsitzender von opel auf gewerkschaftslinie - "geld her, oder ihr werdet zur rechenschaft gezogen". eine kleine erpressung zur erhaltung des status quo der industriearbeiterschaft. aber keinesfalls systemkritisch.

(...)"Und es gibt die reale Gefahr, dass der zentrale Aufruf von rechts erfolgt. Es ist ja angenehm, dass es in dieser Hinsicht in Deutschland bisher sehr ruhig geblieben ist, nicht so wie in anderen europäischen Ländern. Wenn jetzt nichts von links kommt, besetzt die Rechte das ganze. Die Linke muss reagieren, von ihr muss ein Aufruf kommen, etwas, um das die Leute sich sammeln können. Und damit meine ich kein fertiges Programm, die Alternative selbst kann nur in einem Prozess kollektiver sozialer Unruhe entstehen.

Thomas Seibert


eine stimme aus der außerparlamentarischen radikalen linken. ich sehe die skizzierte gefahr ebenfalls, wenn auch nicht als alleinige - auch der organisierte faschismus wird sich mit den eingangs und bisher umrissenen reaktionen schwer tun, obwohl er in sachen andockpunkte an gewaltstrukturen mehr und "bessere" optionen hat als die linke. den letzten satz hingegen kann ich nur unterschreiben, das sehe ich gleich.

und als letztes ein wissenschaftler:

"Niemand kann voraussehen, ob und wann es soziale Unruhen auch in Deutschland geben wird. Ich auch nicht. Trotzdem teile ich nicht die Einschätzung, dass es hier auf Dauer ruhig bleiben wird. Unter der Oberfläche brodelt es bereits.

Wir haben ganz aktuell die Leute in den Betrieben befragt und es zeigte sich: Der Unmut wächst. Entscheidend für Deutschland ist bisher, dass die Kurzarbeit noch viele Probleme abfedert. Die Frage ist jedoch, wie lange das halten wird. Eine Reihe von kleinen Unternehmen werden vor der Insolvenz stehen, und auch bei den großen Betrieben wird es massiven Personalabbau geben. Ich kann mir nicht vorstellen, dass in einer Wirtschaftsstruktur, die ohnehin bereits eine stark prekarisierte Arbeitswelt hat, eine weitere Prekarisierung völlig folgenlos bleiben wird."(...)


ja, was wird passieren, wenn die absehbaren massenentlassungen real werden, was wird nach den bundestagswahlen passieren, wenn der zwang zu (leeren) versprechungen bei der politischen "elite" nicht mehr vorhanden ist und die große rechnung präsentiert werden wird? was wird also in dem moment passieren, wenn die krisenfolgen ganz spürbar auch für viele derjenigen werden, die sich heute noch - ob aus unwissenheit oder/und selbstsedierung - in "sicherheit" wähnen? was wird dann aus all den in diesem beitrag erwähnten teils eher unterschwelligen reaktionen von aggressivität gegen andere, aber auch in großem maße gegen sich selbst? wie wird sich dieses potenzial entwickeln?

denn die krise läuft nicht nur hierzulande unbeirrbar
weiter, und die frage bleibt offen, ob in einem halben jahr immer noch relative ruhe und der quasiwunsch nach einer art volksgemeinschaft dominieren. und wie lange das noch vorhandene restvertrauen in die dgb-gewerkschaften anhalten wird.

*

das war jetzt ein zugegebenermaßen sehr "voller" und assoziativer beitrag, aber genau dafür existiert ja auch die entsprechende rubrik. und ich hoffe, gerade durch die vielzahl auch widersprüchlicher aspekte vielleicht dem einen oder der anderen leserIn anregungen für eigene wahrnehmungen gegeben zu haben.

im letzten teil der reihe werde ich dann noch einen aspekt behandeln, der mir hierzulande besonders relevant erscheint: die massenwirkung des fernsehens als teil der sozialen trance.
Peter (Gast) - 20. Mai, 21:08

Da bin ich ja mal gespannt

Danke für den interessanten Artikel - und auf den Teil über das Fernsehen freue ich mich jetzt schon mal besonders! :-)

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