Quirinus (Gast) - 17. Sep, 04:32

Das Problem mit dem Optimismus

besteht vor allem bei Jugendlichen schon darin, daß vor Jugendliche altersbedingt stark zu Selbstüberschätzung bis hin zu Allmachtsphantasien aller Art neigen. Die wiederum werden einerseits durch die medial inszenierte bzw. ausgebeutete sog. Jugendkultur, andererseits durch die sog. Erwachsenenkultur verstärkt. Demgemäß glaubten Jugendliche noch während der 70er Jahre, durch Politik und/oder die damals propagierte "Gegenkultur" die Welt verändern bzw. von der durch ihre aktiven Altersgenossen betriebenen Weltveränderung profitieren zu können, während nun kaum noch jemand an eine Weltveränderung hin zum Guten glaubt, dafür aber aufgrund massiver Propaganda daran, sich allen widrigen Umständen zum Trotz irgendwie durchboxen zu können, nach dem Motto: Alles Scheiße, aber ICH werd's schon irgendwie schaffen.

Bereits für 1973 kann ich sagen, daß - von wenigen Ausnahmen (meist Kinder begüterter Eltern) abgesehen - all meine Mitschülerinnen und Mitschüler sehr pessimistisch waren, es aber weder vor sich noch anderen zugeben wollten: was ich im Rahmen meines leider nicht überlieferten Abituraufsatzes (Thema: Jugend und Gesellschaft) geschildert und zu begründen versucht habe. Der Grundtenor war: Ihr belügt euch selbst, weil ihr euch von den Medien etwas vorgaukeln laßt.

Inzwischen sind diese Lügen allgegenwärtig. Der Mittel- wie der Unterschicht wird seit 30 Jahren Optimismus gepredigt: jener durch allerlei Eso-, Psycho-, Wirtschafts- und Politgurus, auch durch geschäftstüchtige Feministinnen; dieser durch Actionfilme, Games & Gangsta-Rap. Die Botschaft ist die gleiche: Du mußt ein Gewinner sein. Und wie stark die Jugendlichen der letzten 20 Jahre diese Botschaft verinnerlicht haben, zeigen Schimpfworte wie Jude, Loser, Opfer, aber auch und ganz besonders die arbeitslosen Jugendlichen, die ich seit einem Jahr unterrichte. Von wenigen Ausnahmen abgesehen geben sich alle geradezu militant optimistisch, getreu ihren medialen Vorbildern, und würden dementsprechend in einer Studie wie der von Shell ihr Kreuzchen dort machen, wo sie es machen sollen: auf der Seite der Gewinner und gemäß dem auch seitens der Arbeitsagentur propagierten Motto: Alles Scheiße, aber ICH werde es schon schaffen. Das ist das eine.

Das andere ist das magische Denken, zu dem viele Menschen und wiederum insgesondere Jugendliche neigen, gemäß der tiefen Angst: Wenn ich jetzt ankreuze, daß ich nichts Gutes von der Zukunft erwarte, dann wird auch nichts Gutes kommen. Also kreuze ich lieber an, daß ich optimistisch bin. Dieser Effekt ist nicht zu unterschätzen, schon gar nicht heutzutage, angesichts des immensen Erfolgsdrucks (schon eine schlechtbezahlte Stelle zu bekommen gilt ja inzwischen als ein ungehures Glück) und angesichts der Tatsache, daß gerade die von der sog. Unterschicht konsumierten Medien ja unausgesetzt den Eindruck erwecken, jeder könne es zu Geld & Ruhm bringen, und Scharen von Pädagogen & Psychologen ihren Schäfchen predigen, sie schadeten sich selbst, wenn sie pessimistisch dächten. Und als pessimistisch gilt es eben schon, wenn jemand es auch nur wagt, realistisch zu denken, und zwar entgegen einem Lebenswillen, der ja in jedem noch nicht suizidalen Menschen steckt und ihm sagt, die Hoffnung sterbe zuletzt.

Unter diesen Voraussetzungen sind sämliche Studien, die den Optimismus der Menschen via Befragung zu messen versuchen, von vornherein zum Scheitern verurteilt. Was sie allenfalls messen, ist die Bereitschaft der Befragten, zumindest im Augenblick des Kreuzchenmachens sich selbst und die Welt durch eine rosa Brille zu betrachten oder anderen etwas vorzulügen, um nicht als Opfer dazustehen. Und mit dem Zusammenbruch fast sämlicher Sicherheiten für die Mehrzahl der Menschen ist die Fähigkeit, auch über weite Strecken hinweg sogar vermeintlich gewiefte Psychologen zu belügen, weiter gewachsen. Gerade deshalb sind die Ergebnisse bzw. Ausblicke der zweiten Studie sehr beachtlich. Sie geben nämlich , soweit sie oben referiert sind, recht genau das wieder, was ich seit Jahren beobachte und was ich im Grunde auch schon während der 70er Jahre beobachtet habe, nicht zuletzt an mir selbst. Die Gangs von damals waren die politischen Aktivisten zwischen RAF und Wehrsportgruppen; die Träumer waren die Musikfreaks, die Hippies, die Esos, die Gründer der ersten Land-WGs u.a.m., also diejenigen, die später großenteils zur saturierten Mittelschicht zählten, und die Schläfer fanden angesichts der vielen Demos allerlei Möglichkeiten, um gelegentlich aus der vermeintlich noch so friedlichen Welt auszubrechen.

Die Menschentypen haben sich also nicht wesentlich geändert, wohl aber die zumal durch durch die Technik geschaffenen Lebensbedingungen. Wer frei sein oder auch nur nachts frei reden will, der geht heute nicht mehr aufs Land, in ein besetztes Haus oder in eine Szenekneipe, sondern tut das, was ich im Augenblick tue, weil um mich herum alles schläft: er flüchtet sich in die virtuelle Welt und hofft darauf, wenigstens dort noch Gehör zu finden oder wenigstens einen Beweis dafür zu hinterlassen, daß er existiert, nach dem Motto: Ich denke, also bin ich. Denn in der realen Welt macht sich, wer noch selbst zu denken und das Gedachte gar zu äußern wagt, unbeliebter denn je. In der virtuellen hingegen herrscht (noch) Narrenfreiheit, im Angesicht des Großen Bruders, dem sich der größte Teil unserer Jugend bedingungslos anvertraut, voller Optimismus, bis es in nicht allzuferner Zukunft nicht einmal mehr möglich sein wird, Seiten wie diese im Netz zu betreiben. Sie könnten ja die geistige Gesundheit der Weltbevölkerung gefährden.

monoma - 17. Sep, 15:02

sehr schöner beitrag,...

...danke - ein paar anmerkungen noch: hinsichtlich der frühen 1970er geht es mir etwas anders als beschrieben; auch wenn ich da noch ein kund war, so kommt es mir doch mit abstand immer wieder so vor, als wäre damals v.a. eine gewisse grundsätzliche atmosphäre sehr anders gewesen - und das selbst in dem mittelklassehaushalt (mit kriegstraumatisierten eltern und verwandten) und dem mittelklasseumfeld in der nicht-ganz-großstadt. das alles war so derart "deutsch" wie im klischee, und trotzdem - selbst in diesen wie betonierten strukturen dort war untergründig ein hauch dessen zu spüren, was in den jahren zuvor als weltweiter kultureller und politischer aufbruch unter "68" bekannt wurde. ich finde das unglaublich schwer zu greifen, was das genau gewesen ist - aber es hat existiert. und es wurde später fühlbar als eine art leerstelle, über die ich jahre rumgerätselt habe.

und dazu gehörte auch durchaus die illusion einer verheissungsvollen zukunft. ich finde, in vielen musiken dieser zeit lässt sich das ein stückchen nachvollziehen, speziell zu diesem punkt habe ich hier etwas mehr geschrieben.

und noch etwas, was mir im ganzen zusammenhang wichtig erscheint: was auch schon oft thema im blog war, ist die veränderte - hm, grenzenlosigkeit in der brutalität unter bzw. von jugendlichen. insgesamt mag die offene gewalt rückläufig sein, aber bei denen, die sie praktizieren, sind im vergleich zu vergangenen jahrzehnten dann doch deutlich sichtbar etliche hemmschwellen verschwunden, an die ich mich bspw. aus meiner schulzeit noch erinnern kann - schulhofkloppereien ja, aber sobald jemand am boden war und/oder geweint hat, war das das zeichen für ende, und zwar sehr verbindlich. heute wird weitergemacht, u.u. bis zum krankenhausaufenthalt. das finde ich insgesamt eine der krassesten veränderungen überhaupt, die im kern für mich durchaus die ebenfalls massiv expandierte grenzenlosigkeit der elitenkriminalität auf allen ebenen wiederspiegelt.

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