notiz: noch´n paar studien

(soziologische & psychologische) studien aller art scheinen ja schon geraume zeit zu den bevorzugten instrumenten zu gehören, mittels denen sich nicht nur diese gesellschaft versucht, mit mehr oder weniger erfolg sich selbst auf die schliche zu kommen. und die probleme damit, bspw. von der auswahl der fragen über die zielgruppe(n) bis hin zu den vielfach möglichen statistischen tricks bei der auswertung sollten allgemein bekannt sein. nichtsdestotrotz enthalten sie, wenn das "design" und die ausführung nicht von vorneherein allen einschlägigen standards hohn sprechen, meistens einige kerne der tatsächlichen gesellschaftlichen realität. und mit diesen aspekten im hinterkopf ist es interessant, sich die jüngst veröffentlichten ergebnisse zweier studien zur situation von jugendlichen in diesem land näher zu betrachten.

*

da wäre einmal die schon notorische "shell"-jugendstudie, die jeweils mit einem abstand von drei bis vier jahren durchgeführt wird und in diesem jahr erneut vorliegt. deren ergebnisse führen derzeit im mainstream zu überschriften alá "Viele Jugendliche blicken optimistisch in die Zukunft" (afp), "Pessimistisch wegen Wirtschaftskrise? Iwo!" (stern) oder auch "Optimismus nur in der Mittel- und Oberschicht" (faz).

bereits diese drei beispiele bilden den grundsätzlichen tenor der intrepretationen ab: einmal wird der festgestellte optimismus mehr oder weniger bejubelt, zum anderen im gleichen atemzug
festgestellt, dass dieser optimismus an die klassenzugehörigkeit gekoppelt ist:

(...) "Allerdings klafft bei der Einschätzung der Zukunft die Schere zwischen den Milieus immer weiter auseinander - nicht jeder hält dem steigenden Druck stand. Ob Politikinteresse, Bildungschancen oder soziales Engagement: Die zwölf- bis 25-Jährigen aus sozial benachteiligten Familien zeigen in allen Bereichen deutlich weniger Zuversicht.

Insgesamt 59 Prozent blicken positiv in ihre persönliche Zukunft - 2006 waren es 50 Prozent. 35 Prozent sind unentschieden, sechs Prozent sehen ihre Zukunft düster. Bei sozial benachteiligten Jugendlichen sind nur 33 Prozent optimistisch. 71 Prozent insgesamt sind überzeugt, ihre beruflichen Wünsche verwirklichen zu können. Bei den Jugendlichen aus der Unterschicht sind es nur 41 Prozent." (...)


ich konnte bisher nichts darüber finden, wie im kontext dieser studie eigentlich der begriff "optimismus" definiert wird - auch die
kurzvorstellung der ergebnisse hilft da nicht wirklich weiter - oder soll man den zitierten begriff des "positiven denkens" wirklich dafür als synonym nehmen? das würde dann eher unter autosuggestionen laufen.

aus der ergebnisvorstellung unter "politik" auch das:

(...) "Stabil bleibt die politische Selbsteinschätzung der Jugendlichen: Die Mehrheit ordnet sich etwas links von der Mitte ein. Auch beim Vertrauen in gesellschaftliche Institutionen hat sich wenig geändert: Hohe Bewertungen gab es für Polizei, Gerichte, Bundeswehr sowie Menschenrechts- und Umweltschutzgruppen, niedrige für die Bundesregierung, die Kirche, große Unternehmen und Parteien. Kaum verwunderlich, dass in Zeiten der Wirtschafts- und Finanzkrise das Vertrauen in Banken am meisten gelitten hat. Entsprechend zeigt sich bei den Jugendlichen heutzutage nicht nur Politikverdrossenheit, sondern auch ein ausgeprägter Missmut gegenüber Wirtschaft und Finanzen." (...)

ich kann das, anders als die autoren und die mehrzahl der interpreten, nur als beleg für eine sichtbare fragmentierung der wahrnehmungsfähigkeiten bei vielen kids ansehen. die sog. staatliche exekutive und judikative - polizei, gerichte, militär - derart von der legislative (regierung und die involvierten parteien) zu trennen, macht ein meiner meinung nach absolut illusionäres verständnis von den realen verhältnissen in staat und gesellschaft deutlich, in denen diese trennung an vielen stellen keinesfalls mehr existiert, weil das primat der ökonomie, vermittelt u.a. durch lobbyismus und auch oft genug korruption, längst alle staatlichen sphären dominiert (und im kapitalismus staatliche apparate eh dazu neigen, sich zu reinen erfüllungsgehilfen dieses primates zu machen). in zeiten, wo transnationale konzerne aufgrund ihrer ungeheuren finanziellen macht oft genug ganze staaten in ihre tasche stecken können, mutet die dokumentierte trennung jedenfalls mehr als seltsam an, kann aber u.u. direkt den apolegeten eines "starken staates" in die hände spielen.

ebenfalls wird offenbar nicht gesehen, dass die regierung zwar die bundeswehr in kriegseinsätze schickt, letztere das aber auch vollig widerstandslos mit sich machen lässt und derart als mitverantwortlich gelten muss. erst recht, wenn diese einsätze zukünftig noch mehr als heute vom primat der versorgungssicherung in sachen rohstoffe bestimmt sein werden - und auch und gerade im interesse der scheinbar kritisierten "großen unternehmen" stattfinden werden.

vielleicht gibt es aber sowohl für den groß herausgestellten optimismus als auch für die sichtbar werdenden wahrnehmungsfragmentierungen auch noch einen ganz anderen hintergrund, und den hatte ich vor ein paar jahren schon mal
hier skizziert - würde mich wundern, wenn die studie auch nach diesen möglichen hintergründen bei den teilnehmerInnen gefragt hat.

und "links von der mitte" ist bei der realen position der sog. "mitte" immer noch ein ordentliches stück rechts. insgesamt aber auch kein wunder bei denjenigen generationen, die als gesellschaftliches leitbild nichts weiter als verschiedene grade des totalitären kapitalismus kennen.

*

was diese studie aber auch wiederspielgelt, ist die sozioökonomische spaltung der gesellschaft in der hinsicht, dass sich die jugendlichen aus der unterklasse (aka "prekariat") durchaus über ihre eigene position und zukunft in dieser gesellschaft im klaren zu sein scheinen:

(...) "Einzig bei Jugendlichen aus sozial benachteiligten Familien zeigt sich ein anderes Bild: Hier ist nur noch ein Drittel (33 Prozent) optimistisch. Diese soziale Kluft wird auch bei der Frage nach der Zufriedenheit im Leben deutlich. Während fast drei Viertel aller Jugendlichen im Allgemeinen zufrieden mit ihrem Leben sind, äußern sich Jugendliche aus sozial schwierigen Verhältnissen nur zu 40 Prozent positiv." (...)

das ist weder unerwartet noch überraschend, nur ist die große frage, was die betroffenen daraus für konsequenzen ziehen werden. die derzeitigen rassistischen diskurse und aktionen in vielen europäischen staaten sind ein indiz dafür, dass von interessierter seite aus versucht wird, massiv destruktive (und system und "eliten" nicht gefährdende) möglichkeiten für eine antwort zu schaffen. auch aus diesem grund ist es notwendig, diesem tun entgegenzutreten.

*

es gibt noch eine weitere jugendstudie, die auf einer quantitativ massiv geringeren, aber möglicherweise (!) qualitativ wesentlich umfassenderen datenbasis beruht, weil hier die ergebnisse mittels tiefenpsychologischer interviews gwonnen werden - mir bisher unbekannt, kommt die
studie des rheingold-instituts - ausgerechnet im auftrag des axel-springer-verlages, abt. musikzeitschriften -, zu etwas anders klingenden ergebnissen. auszüge:

(...) "Das widersprüchliche Bild, das die heutige Jugend in den Berichten der verschiedenen Forschungsinstitute zeigt – für die einen ist sie fügsam, optimistisch, fortschrittsgläubig, für die anderen angstvoll, bedrückt verunsichert – spiegelt insgesamt genau das gespaltene Weltbild der Jugendlichen. Auf der einen Seite sehen sie die Winner, Normalos und Reichen – auf der anderen die Loser, Asis und Hartz IV.

Frühere Generationen hatten das Gefühl, durch Ausbildung, durch Arbeit oder wenigstens durch Beziehungs-Management (90er Jahre) eine eigenständige Position in der Welt erringen zu können. Heute sieht die Welt für Jugendliche so aus, dass sie zwischen „Superstar“ und „Hartz IV“ hilflos in der Mitte baumeln. „Werde reich oder stirb traurig“: auf diese Alternative verengt sich der gesellschaftliche Sinn-Horizont, wozu dann unterschwellig Empfehlungen geliefert werden, die soziales Handeln auf Kaufen, Tricksen, Blenden, Klauen, Hauen, Hocken beschränken."


der letzte satz drückt genau solche tendenzen aus, die ich zusammen mit anderen zusammenhängen hier im blog insgesamt als mehr oder weniger "schleichende" soziopathisierung der gesamten gesellschaft bezeichnen würde - egozentrisch und alleine auf den eigenen vorteil (in konsequenz das eigene überleben) bedacht, wird versucht, sich mittels vielfältiger simulativer strategien und fakes sowie direkter antisozialer aktion über die runden zu bringen. ebenfalls lässt sich die dargestellte "friß-oder-stirb"-wahrnehmung tendenziell als klassische borderline-position (im sinne der diagnostischen kriterien der borderline-ps) betrachten, was in diesem zusammenhang auch nicht überraschen kann.

"Viele Jugendliche sehen Erwachsene als Narren oder Heuchler, die so tun, als hätten sie die Lage im Griff, in Wahrheit aber die Kontrolle verloren haben. Auf ihre Vorteile bedacht, lassen Erwachsene die Jugendlichen im Stich: „Keiner kümmert sich um uns, schon gar nicht die Politiker, die kümmern sich nur um andere Länder.“ Erstaunlich! Trotz der von vielen Erwachsenen vorgetragenen Dauer-Bekümmerung fühlen sich heutige Jugendliche elternlos. Sie suchen daher Zweitfamilien auf: In Cliquen, in Gangs oder in Games finden sie die Auftrittsmöglichkeiten, die klaren Hierarchien und einfachen Regeln, die ihnen in „Multikultopia“ fehlen."

bei diesem als zitat dargestellten zentralen satz mir dem "kümmern" und "anderen ländern" frage ich mich ja, wie weit er repräsentativ ist - wobei ich nicht glaube, dass es diese position real tatsächlich nicht gibt. ist jedenfalls interessant zu sehen, wie gerade die springer-medien ganz im sinne dieser sätze agieren bzw. glauben, das zu tun.

auch der nächste befund ist keine überraschung:

"Eine andere Jugend-Strategie zielt auf den Erhalt eines Zustands permanenter Berieselung. Snacks und Drinks als Sinn-Lückenfüller, MP3-Player als Ohren-Schnuller, Events am laufenden Band, Handys und Messenger-Systeme verdrängen die eigenen Ohnmachtsgefühle zusammen mit dem ‚schwarzen Loch’, das aus der Zukunft auf die Einzelnen zukommt. Die Eltern sind nur zu gern bereit, diese Dauerbefütterung bis zum Konsumkoma zu unterstützen, um ihre Kinder zu ruhigen, artigen und verträglichen Geschöpfen zu machen und lästige Fragen aus der Welt zu schaffen, auf die sie selber keine Antwort wissen." (...)

eine der ausgeprägteren varianten von
sozialer trance, kombiniert mit den per werbung/pr vermittelten und übergriffigen normen des komsumimperiums - soll man die anwendung dieser herrschaftstechnologien bereits bei kindern und jugendlichen als besonders schändlich und niederträchtig hervorheben?

die folgend genannten vier eigenschaften, die lt. studie den jugendlichen besonders fehlen würden, hören sich im großen und ganzen plausibel an, auch wenn sie nicht vollständig sein dürften. jedenfalls ist das zusammenfassende fazit recht eindeutig:

(...) "Die Befunde der Jugendstudie sind alarmierend. Daher macht es auch keinen Sinn, die Situation zu beschönigen und eine werbliche Hurra-Jugend-Studie zu verfassen. Die Zeiten des ungebrochenen Jugendkults und der freudig bewegten Loveparade sind vorbei. Auch die Jugendlichen fordern von den Erwachsenen und den Medien Klartext – schonungslose Aufklärung und eindeutige Positionen." (...)

wäre interessant zu wissen - gerade im vergleich mit der "shell"-studie -, aus welchen milieus die befragten stammen. wobei sich die kritischen anmerkungen für mich so anhören, als ob sie auch aus mittel- und oberklasse stammen könnten - nur lässt sich dort die allgemeine und diesem system höchst immanente sinnleere aufgrund der materiellen ausstattung besser kompensieren, was aber auf die dauer eben keinesfalls glücklicher macht.

ganz am ende werden zwei mögliche perspektiven skizziert, und die eine, als pessimistisch benannte, enthält frappierend viele derjenigen befunde, die ich hier bei verschiedensten themen in der vergangenheit auch schon erhoben habe:

(...) "Die Jugendkultur wird im Jahre 2012 hauptsächlich von drei Gruppierungen bestimmt – von Gangs, Träumern und Schläfern. Sie sind Reaktionen gegen die erlebte Lebensangst, Perspektivlosigkeit und Ohnmacht.

Die Gangs haben die liberalen Freundeskreise entweder ganz ersetzt oder sie tyrannisieren sie. Jenseits der bürgerlichen Ordnung tobt ein heimlicher Bürgerkrieg und beschwört anarchische Zustände. Die völlige Entpolitisierung der Jugend geht einher mit Markierung neuer Kampfzonen durch regionale, nationale oder religiöse Unterschieden. Die unzähligen Banden und Clans werden zu straff organisierten kleinen Parallel-Gesellschaften mit zum Teil fundamentalistischen Zügen.

Die Träumer sind friedlicher. Aufgrund ihre Lebensangst und ihrer Ressentiments gegen Banden oder gegen Frauen haben sie sich weitgehend aus dem gesellschaftlichen Leben zurückgezogen. Sie leben isoliert in ihren virtuellen PlayStation-Welten. Das Internet ist ihr bevorzugtes Tor zur Wirklichkeit, hier versuchen sie, Karriere in ihrem second life zu machen.

Die Schläfer sind vereinzelte Jugendliche, die gewaltsam aus dieser autistischen Lebensführung ausbrechen. Die bisher im Konsumkoma oder in den künstlichen Paradiesen ruhig gestellte, eingekapselte Angst artikuliert sich in gewaltsamen Explosionen: In willkürlichen Gewaltakten, Straßenkämpfen, Randale an Schulen bis hin zu Anschlägen oder Amokläufen wird die erlebte Ohnmacht in Macht verwandelt." (...)


pessimismus? ich würde das entschieden realismus nennen, weil das alles bereits in regionen, die im prozeß der zerstörung der sozialen basis schon fortgeschrittener sind, punkt für punkt zu beobachten ist, allerdings mit einer deutlichen tendenz zu den gangs - mittel- und südamerika sind da nur ein beispiel für. während die "träumer" in den diversen simulativen aka virtuellen welten und die "schläfer" sich durchaus in der hiesigen realität bevorzugt nachweisen lassen (keywords für eine entprechende blogsuche hier wären in dem zusammenhang bspw. amok, maras, oder auch happy slapping).

und solange keinerlei grundsätzliche, qualitative und radikale änderung der prägenden gesellschaftlichen verhältnisse hier in sicht ist, brauchen wir uns über mögliche positive szenarien erst gar nicht weiter zu unterhalten. und das ist keine frage der "freien wahl", geschweige denn der eigenen vorlieben, sondern liegt u.a. an den aus den menschlichen psychophysischen gesetzmässigkeiten folgenden sozialen prozessen. und die dürften zumindest für alle, die noch über einigermaßen funktionierende wahrnehmungsfähigkeiten verfügen, ohne größere probleme aus der oben genannten "pessimistischen" variante im gemeinten sinne abzuleiten und in der realität ebenfalls wiederzufinden sein.
Peter (Gast) - 15. Sep, 19:03

Optimismus

Bei der Definition von Optimismus sollte man sich fragen, ob dieser authentisch vom jeweiligen Individuum wahrgenommen wird oder aber in Bezug auf das, was die Gesellschaft von diesem Individuum erwartet, d. h., Optimismus wäre dann die Befriedigung, die das Individuum aus seiner gesellschaftlichen Konformität zieht. Angereichtert durch Berieselungen und Indoktrinationen verschiedenster Art ergibt sich dann ein künstlich-euphorisches Gefühl.

monoma - 16. Sep, 23:24

ja...

"Optimismus wäre dann die Befriedigung, die das Individuum aus seiner gesellschaftlichen Konformität zieht."

nette definition. ergänzen würde ich das noch derart, dass zur erlangung dieser befriedigung so ziemlich alles relevante unschöne (und das ist bekanntlich verdammt viel) in der realität aus der wahrnehmung beseitigt werden muss. so gesehen, kann optimismus dieser art eigentlich nur aus einer massiven wahrnehmungsreduktion entstehen -> meine liebste entsprechende sentenz lautet nicht umsonst "optimismus beruht auf einem mangel an informationen". wobei damit noch nicht primär bewusste/kognitive informationen gemeint sind.
Quirinus (Gast) - 17. Sep, 04:32

Das Problem mit dem Optimismus

besteht vor allem bei Jugendlichen schon darin, daß vor Jugendliche altersbedingt stark zu Selbstüberschätzung bis hin zu Allmachtsphantasien aller Art neigen. Die wiederum werden einerseits durch die medial inszenierte bzw. ausgebeutete sog. Jugendkultur, andererseits durch die sog. Erwachsenenkultur verstärkt. Demgemäß glaubten Jugendliche noch während der 70er Jahre, durch Politik und/oder die damals propagierte "Gegenkultur" die Welt verändern bzw. von der durch ihre aktiven Altersgenossen betriebenen Weltveränderung profitieren zu können, während nun kaum noch jemand an eine Weltveränderung hin zum Guten glaubt, dafür aber aufgrund massiver Propaganda daran, sich allen widrigen Umständen zum Trotz irgendwie durchboxen zu können, nach dem Motto: Alles Scheiße, aber ICH werd's schon irgendwie schaffen.

Bereits für 1973 kann ich sagen, daß - von wenigen Ausnahmen (meist Kinder begüterter Eltern) abgesehen - all meine Mitschülerinnen und Mitschüler sehr pessimistisch waren, es aber weder vor sich noch anderen zugeben wollten: was ich im Rahmen meines leider nicht überlieferten Abituraufsatzes (Thema: Jugend und Gesellschaft) geschildert und zu begründen versucht habe. Der Grundtenor war: Ihr belügt euch selbst, weil ihr euch von den Medien etwas vorgaukeln laßt.

Inzwischen sind diese Lügen allgegenwärtig. Der Mittel- wie der Unterschicht wird seit 30 Jahren Optimismus gepredigt: jener durch allerlei Eso-, Psycho-, Wirtschafts- und Politgurus, auch durch geschäftstüchtige Feministinnen; dieser durch Actionfilme, Games & Gangsta-Rap. Die Botschaft ist die gleiche: Du mußt ein Gewinner sein. Und wie stark die Jugendlichen der letzten 20 Jahre diese Botschaft verinnerlicht haben, zeigen Schimpfworte wie Jude, Loser, Opfer, aber auch und ganz besonders die arbeitslosen Jugendlichen, die ich seit einem Jahr unterrichte. Von wenigen Ausnahmen abgesehen geben sich alle geradezu militant optimistisch, getreu ihren medialen Vorbildern, und würden dementsprechend in einer Studie wie der von Shell ihr Kreuzchen dort machen, wo sie es machen sollen: auf der Seite der Gewinner und gemäß dem auch seitens der Arbeitsagentur propagierten Motto: Alles Scheiße, aber ICH werde es schon schaffen. Das ist das eine.

Das andere ist das magische Denken, zu dem viele Menschen und wiederum insgesondere Jugendliche neigen, gemäß der tiefen Angst: Wenn ich jetzt ankreuze, daß ich nichts Gutes von der Zukunft erwarte, dann wird auch nichts Gutes kommen. Also kreuze ich lieber an, daß ich optimistisch bin. Dieser Effekt ist nicht zu unterschätzen, schon gar nicht heutzutage, angesichts des immensen Erfolgsdrucks (schon eine schlechtbezahlte Stelle zu bekommen gilt ja inzwischen als ein ungehures Glück) und angesichts der Tatsache, daß gerade die von der sog. Unterschicht konsumierten Medien ja unausgesetzt den Eindruck erwecken, jeder könne es zu Geld & Ruhm bringen, und Scharen von Pädagogen & Psychologen ihren Schäfchen predigen, sie schadeten sich selbst, wenn sie pessimistisch dächten. Und als pessimistisch gilt es eben schon, wenn jemand es auch nur wagt, realistisch zu denken, und zwar entgegen einem Lebenswillen, der ja in jedem noch nicht suizidalen Menschen steckt und ihm sagt, die Hoffnung sterbe zuletzt.

Unter diesen Voraussetzungen sind sämliche Studien, die den Optimismus der Menschen via Befragung zu messen versuchen, von vornherein zum Scheitern verurteilt. Was sie allenfalls messen, ist die Bereitschaft der Befragten, zumindest im Augenblick des Kreuzchenmachens sich selbst und die Welt durch eine rosa Brille zu betrachten oder anderen etwas vorzulügen, um nicht als Opfer dazustehen. Und mit dem Zusammenbruch fast sämlicher Sicherheiten für die Mehrzahl der Menschen ist die Fähigkeit, auch über weite Strecken hinweg sogar vermeintlich gewiefte Psychologen zu belügen, weiter gewachsen. Gerade deshalb sind die Ergebnisse bzw. Ausblicke der zweiten Studie sehr beachtlich. Sie geben nämlich , soweit sie oben referiert sind, recht genau das wieder, was ich seit Jahren beobachte und was ich im Grunde auch schon während der 70er Jahre beobachtet habe, nicht zuletzt an mir selbst. Die Gangs von damals waren die politischen Aktivisten zwischen RAF und Wehrsportgruppen; die Träumer waren die Musikfreaks, die Hippies, die Esos, die Gründer der ersten Land-WGs u.a.m., also diejenigen, die später großenteils zur saturierten Mittelschicht zählten, und die Schläfer fanden angesichts der vielen Demos allerlei Möglichkeiten, um gelegentlich aus der vermeintlich noch so friedlichen Welt auszubrechen.

Die Menschentypen haben sich also nicht wesentlich geändert, wohl aber die zumal durch durch die Technik geschaffenen Lebensbedingungen. Wer frei sein oder auch nur nachts frei reden will, der geht heute nicht mehr aufs Land, in ein besetztes Haus oder in eine Szenekneipe, sondern tut das, was ich im Augenblick tue, weil um mich herum alles schläft: er flüchtet sich in die virtuelle Welt und hofft darauf, wenigstens dort noch Gehör zu finden oder wenigstens einen Beweis dafür zu hinterlassen, daß er existiert, nach dem Motto: Ich denke, also bin ich. Denn in der realen Welt macht sich, wer noch selbst zu denken und das Gedachte gar zu äußern wagt, unbeliebter denn je. In der virtuellen hingegen herrscht (noch) Narrenfreiheit, im Angesicht des Großen Bruders, dem sich der größte Teil unserer Jugend bedingungslos anvertraut, voller Optimismus, bis es in nicht allzuferner Zukunft nicht einmal mehr möglich sein wird, Seiten wie diese im Netz zu betreiben. Sie könnten ja die geistige Gesundheit der Weltbevölkerung gefährden.

monoma - 17. Sep, 15:02

sehr schöner beitrag,...

...danke - ein paar anmerkungen noch: hinsichtlich der frühen 1970er geht es mir etwas anders als beschrieben; auch wenn ich da noch ein kund war, so kommt es mir doch mit abstand immer wieder so vor, als wäre damals v.a. eine gewisse grundsätzliche atmosphäre sehr anders gewesen - und das selbst in dem mittelklassehaushalt (mit kriegstraumatisierten eltern und verwandten) und dem mittelklasseumfeld in der nicht-ganz-großstadt. das alles war so derart "deutsch" wie im klischee, und trotzdem - selbst in diesen wie betonierten strukturen dort war untergründig ein hauch dessen zu spüren, was in den jahren zuvor als weltweiter kultureller und politischer aufbruch unter "68" bekannt wurde. ich finde das unglaublich schwer zu greifen, was das genau gewesen ist - aber es hat existiert. und es wurde später fühlbar als eine art leerstelle, über die ich jahre rumgerätselt habe.

und dazu gehörte auch durchaus die illusion einer verheissungsvollen zukunft. ich finde, in vielen musiken dieser zeit lässt sich das ein stückchen nachvollziehen, speziell zu diesem punkt habe ich hier etwas mehr geschrieben.

und noch etwas, was mir im ganzen zusammenhang wichtig erscheint: was auch schon oft thema im blog war, ist die veränderte - hm, grenzenlosigkeit in der brutalität unter bzw. von jugendlichen. insgesamt mag die offene gewalt rückläufig sein, aber bei denen, die sie praktizieren, sind im vergleich zu vergangenen jahrzehnten dann doch deutlich sichtbar etliche hemmschwellen verschwunden, an die ich mich bspw. aus meiner schulzeit noch erinnern kann - schulhofkloppereien ja, aber sobald jemand am boden war und/oder geweint hat, war das das zeichen für ende, und zwar sehr verbindlich. heute wird weitergemacht, u.u. bis zum krankenhausaufenthalt. das finde ich insgesamt eine der krassesten veränderungen überhaupt, die im kern für mich durchaus die ebenfalls massiv expandierte grenzenlosigkeit der elitenkriminalität auf allen ebenen wiederspiegelt.
Martin Grohmann (Gast) - 17. Sep, 19:17

Zur Ergänzung...

noch ein ausgezeichneter Artikel im heutigen "freitag":

http://www.freitag.de/politik/1037-als-w-re-er-bei-fremden

monoma - 19. Sep, 19:12

danke für den hinweis!

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monoma - 12. Sep, 14:48
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Texte E.Mertz
Schönen guten Tag allerseits, ich bin seit geraumer...
Danfu - 2. Sep, 21:15

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