notiz: "occupy marines"

ich möchte das folgende thema vorziehen, weil ich die berichterstattung über die gleich skizzierten entwicklungen nicht nur hierzulande für gelinde gesagt unzureichend halte. der angekündigte beitrag zu meinen eigenen erfahrungen bei "echte demokratie jetzt" verschiebt sich daher, was aber für mich auch den vorteil hat, dass ich das nächste treffen dafür mit einfliessen lassen kann.

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ich finde es verblüffend und bezeichnend, dass die derzeitigen entwicklungen rund um occupy in den usa zumindest im deutschsprachigen raum - großbritannien stellt in europa gerade eine ausnahme dar - kaum einmal im kontext dargestellt werden. dabei ist das, was sich seit letzter woche nach den
polizeilichen riots von oakland dort abspielt, etwas, was sich von form und inhalten her nicht nur drastisch von den europäischen bewegungen unterscheidet, sondern in den usa selbst auch zu einer spezifischen öffentlichen diskussion über das verhältnis gesellschaft - polizei - armee geführt hat. war es zuerst ein sergeant des "marine-corps" in new york, der sich verbal mit den cops anlegte - darüber ist etwas weiter unten in den beiträgen zu lesen -, so entwickelte sich aus der schweren verletzung eines irakkriegsveteranen durch die polizei in oakland nicht zuletzt durch die filmische und fotografische dokumentation der ereignisse eine enorme dynamik, in deren folge bisher für mich unbekannte teile der us-historie im 20. jahrhundert wieder ins bewusstsein gespült werden. und einmal mehr wird die besondere rolle der army in den usa deutlich, die ich im letzten beitrag schon erwähnt hatte.

GIs in new york

und nein, dass sind keine verkleideten prä-halloween-gestalten, sondern tatsächlich army-angehörige. es gibt mittlerweile eine wahrnehmbare öffentliche strömung in den usa nicht nur von veteranen, sondern auch aktiven soldaten, wozu auch angehörige der paramilitärischen nationalgarde gehören, die sich aktiv - und von den anderen okkupanten freundlich begrüsst - in den camps und den aktionen von occupy bemerkbar macht. ein hintergrund dafür bilden vermutlich die besonderen bezugnahmen aus den usa auf die (unvollendete) revolution in ägypten, die dort aufmerksam beobachtet wurde und deren anfänglich bewusste und positive bezugnahme auf die ägyptische armee offensichtlich eine spezielle saite in der kollektiven us-mentalität angeschlagen hat. es bleibt allerdings zu hoffen, dass auch die heutige rolle des militärs in ägypten ebenfalls mindestens im hinterkopf präsent ist.

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eine zusammenfassung der entwicklung seit der verwundung des soldaten scott olsen liefert ein
blogbeitrag der zeitschrift "the nation", in dem nicht nur nationale und internationale effekte des ereignisses dargestellt werden, sondern auch eine verbreitete sich auf die geschichte deutlich wird:

(...) "Iraq Veterans Against the War featured a statement on its website Wednesday night that read: “It’s ironic that days after Obama’s announcement of the end of the Iraq War, Scott faced a veritable war zone in the streets of Oakland last night. He and other protesters were surrounded by explosions and smoke (tear gas) going off around him as people nearby carried him injured while yelling for a medic. This disturbing video of the incident shows how veterans are now fighting a war at home.” (...)

der begriff "war at home" - bei dem die corporations und bankster den enemy bilden, taucht inzwischen öfter auf und deutet sowohl auf eine grundsätzlich vorhandene affinität zum militärischen in größeren bevölkerungsteilen dort hin als auch darauf, dass die diversen polizeiaktionen der letzten wochen durchaus niederschlag im kollektiven bewusstsein vieler aktivistInnen finden. ich lasse mal meine eigene position dazu für den moment beiseite, weil ich primär eine entwicklung darstellen möchte, die alle aufmerksamkeit verdient.

im verlinkten artikel von "the nation" wird dann zum ende in der historie gegraben und ein geschehen zum vergleich an den tag geholt, von dem ich bisher nichts wusste - die
"bonus-army", bestehend aus tausenden veteranen des weltkriegs I, campierte im sommer 1932 während der "großen depression" des 20. jahrhunderts vor den stufen des capitols in washington und forderte von der regierung versprochene soldzahlungen - eine aktion, die zuerst zu konfrontationen mit der polizei, später mit aktiven army-einheiten und zu zwei toten führte, bevor die regierung dann irgendwann einlenkte. und schon damals waren sich anscheinend etliche veteranen im nachhinein über ihre rolle in der armee durchaus im klaren, wie ein zitat eines "mayor generals smedley darlington butler" deutlich macht - ein zitat, welches aufgrund seiner klaren benennung der realität auch jahrzehnte später gewürdigt werden muss:

"I spent 33 years and four months in active military service and during that period I spent most of my time as a high class thug for Big Business, for Wall Street and the bankers. In short, I was a racketeer, a gangster for capitalism. I helped make Mexico and especially Tampico safe for American oil interests in 1914. I helped make Haiti and Cuba a decent place for the National City Bank boys to collect revenues in. I helped in the raping of half a dozen Central American republics for the benefit of Wall Street. I helped purify Nicaragua for the International Banking House of Brown Brothers in 1902–1912. I brought light to the Dominican Republic for the American sugar interests in 1916. I helped make Honduras right for the American fruit companies in 1903. In China in 1927 I helped see to it that Standard Oil went on its way unmolested. Looking back on it, I might have given Al Capone a few hints. The best he could do was to operate his racket in three districts. I operated on three continents."

frei übersetzt:

"Ich verbrachte 33 Jahre und vier Monate im aktiven Militärdienst, und während dieser Periode verbrachte ich die meiste Zeit als ein Profiverbrecher für das Big Business, die Wall Street und die Banker. Ich war ein Bandenmitglied, ein Gangster im Dienste des Kapitalismus. Ich half dabei, Mexico und speziell Tampico 1914 für amerikanische Ölinteressen zu sichern. Ich half dabei, Haiti und Cuba zu einem Platz für die Jungs der National City Bank zu machen, an dem sie ordentliche Einnahmen machen konnten. Ich half bei der Vergewaltigung eines halben Dutzends zentralamerikanischer Republiken für den Profit der Wall Street. Ich half dabei, Nicaragua für die internationale Bank der Brown Brothers zwischen 1902 und 1912 zu "reinigen". Ich sorgte für Klarheit in der Dominicanischen Republik 1916 für die amerikanischen Zuckerinteressen. Ich half dabei, 1903 Honduras klar zu machen für die amerikanischen Früchtekonzerne. 1927 in China half ich Standard Oil, unbehelligt ihren Interessen nachgehen zu können.

Zurückblickend, könnte ich Al Capone ein paar Tipps geben. Seine Bande in drei Bezirken arbeiten zu lassen, ist das Beste, was er tun könnte. Ich arbeitete auf drei Kontinenten."


von zeit zu zeit kommentiere ich zitate ja mit der empfehlung, darüber ausführlich zu meditieren. das hier ist wieder so ein fall. kürzer und prägnanter lässt sich die reale funktion - einer beliebigen armee eines beliebigen kapitalistischen landes - kaum mehr auf den punkt bringen. ich hatte ja im letzten beitrag aus einer früheren filmbesprechung zitiert, in der es u.a. um genau diese rolle der us-army aus sicht der dortigen "eliten" ging. diese besprechung hatte ich damals mit der anmerkung begonnen, dass ich als bewohner dieses landes für die rolle der us-army während der militärischen niederschlagung des nationalsozialismus durchaus dankbar bin, was aber keineswegs bedeutet, sich den blick für ihre untaten vorher und nachher trüben zu lassen. beim nachdenken über das obige sehe ich mich gezwungen, einen vergleich mit der rolle der polizei anzustellen - ihre primäre funktion (das gilt auch für die justiz) ist der schutz des herrschenden systems; und zwar vor allem anderen der schutz des sog. "eigentums". alle symptome von wahnsinn und antisozialer kriminalität, die dieses system täglich in unzähligen formen hervorbringt, werden gewissermaßen von ihr "mitverwaltet", um einen ungestörten geschäftsbetrieb zu gewährleisten. und die tatsächliche hilfe, die sie für konkrete menschen in konkreten momenten auch bedeutet, stellt aus der perspektive lediglich ein nebenprodukt dar.

ähnlich lässt sich das besonders für die us-army sehen, auch und gerade in bezug auf nazi-deutschland. es darf inzwischen als historisch gesichert gelten, dass damals bestimmte fraktionen des us-capitals - namentlich als repräsentanten dafür lassen sich u.a. general motors, coca-cola und einige banken nennen - den aufstieg hitlers und der nazis nicht nur wohlwollend betrachteten, sondern mindestens indirekt finanziell unterstützten. das ist keine entschuldigung für das mehrheitliche verhalten in deutschland damals, aber die rolle der usa in der geschichte war und ist bis heute mehr als zwiespältig. die benannte fraktion des us-kapitals machte bis weit in den laufenden zweiten weltkrieg gute geschäfte mit den nazis, general motors über die opel-connection sogar mittels lieferungen für die deutsche rüstungsindustrie. meines wissens wurde das erst 1943 gestoppt und führte nach kriegsende 1945 in den usa zu bestrebungen seitens der damaligen administration, die verantwortlichen industriellen und banker wg. "hochverrats" anzuklagen, was jedoch - nicht besonders überraschend - im sande verlief. (btw:
hier lässt sich etliches werbematerial von coca-cola im "dritten reich" betrachten... ich finde es vor diesem hintergrund immer wieder allerliebst, den sog. "antideutschen" bei ihrem demonstrativen konsum von mac donald-fraß und coca-cola als "antifaschistischem" akt zuzuschauen.)

aber zurück - ich habe diese kleine abschweifung deshalb unternommen, um eines klar zu machen: wenn es unter den aktiven und ehemaligen angehörigen der us-army ein wachsendes bewusstsein über die eigene historische rolle, im zitat von butler auf den punkt gebracht, geben sollte, und wenn ihnen die systemische gewalt, die sie ansonsten selbst ausserhalb der us-grenzen ausüben, nun selbst in solchen formen wie in oakland entgegentritt (und ebenso in struktureller form, nämlich im elend und der obdachlosigkeit vieler ehemaliger kameraden sowie dem ökonomischen und psychosozialen elend von familien und freunden), dann ist das von einer potenziellen brisanz, die wir uns hier kaum vorstellen können und die sich anhand des fotos oben ansatzweise erahnen lässt. das wort feind steht da nicht zufällig.

*

nochmal zur konkreten sache in oakland: in die öffentlichkeit brachte es auch der folgende
vergleich eines ebenfalls im irak stationiert gewesenen marines, der sich das vorgehen der polizei betrachtet hat und zum schluß kommt, dass der einsatz von tränengasmunition und gummigeschossen wie dort letzte woche geschehen, übertragen auf ein erklärtes kriegsgebiet wie den irak dort als verboten angesehen werden würde. eine sache nicht nur für juristen.

und zum schluß noch der link zu
occupy marines. einen schönen sonntag noch.
M (Gast) - 30. Okt, 16:29

Smedley Butler

Smedley Butler spielte übrigens eine wichtige Rolle bei der Aufdeckung des sog. "Business Plot", bei dem eine Riege Industrieller die Regierung Roosevelt durch einen militärischen coup d'etat stürzen und durch eine autoritäre Marionettenregierung ersetzen wollten. In völliger Verkennung seiner Überzeugung sind die mit ihrem Plan ausgerechnet an den sehr populären Butler getreten, der das Vorhaben umgehend an ein Senatskomitee verriet.

Die obligatorische Wikipedia-Seite:
http://en.wikipedia.org/wiki/Business_Plot

Eine Doku des History-Channels:
http://video.google.com/videoplay?docid=628728631767818729

monoma - 30. Okt, 16:36

ah, danke

von diesem geplanten quasi-faschistischen putsch - den initiatoren schwebte eine art korporatismus nach mussolini-art vor - ist auch in "the corporation" kurz die rede. ich glaube jetzt mich erinnern zu können, dass butler dort auch erwähnt wird.
quirinus - 31. Okt, 13:08

Vielen Dank für den Hinweis auf OMC. Ich revanchiere mich mit dem (*unwichtigen*) Hinweis auf den Song Camouflage (Stan Ridgway 1985), der (nicht nur wegen der absurden Geschichte, die darin erzählt wird, sondern auch wegen der Anklänge an die alten kraftvollen Folksongs aus England und Irland) zur inoffiziellen Veteranenhymne wurde, siehe z.B. hier, wo einer der Hinterbliebenen schreibt: "we survive by making clips like this in memory of our family members stretching from and misused in Ypres, Nth Africa, Papua, Sth Korea and Sth Vietnam ..."

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