notiz: über ärztliches versagen und eine interessante nebeninformation
zufällig bin ich gerade über einen prozessbericht gestolpert:
(...) "Frau Afflerbach war nie psychotisch krank." Und doch hat die angehende Lehrerin zehn Jahre in der Psychiatrie und in psychiatrischen Ambulanzen verbracht.
1991 beginnt ihr Martyrium. Tanja Afflerbach ist 21 Jahre alt und gerade aus dem Elternhaus in die erste eigene Studentenbude nach Siegen gezogen. Eine sorglose Zeit, die Uni macht ihr Spaß. Sie ist eine eifrige Kunststudentin, die später am Gymnasium unterrichten will. Und dann ändert ein Autounfall ihr gesamtes Leben. An einer Straßenkreuzung in Allenbach bei Siegen nimmt ihr ein anderer Autofahrer die Vorfahrt. Beide Fahrzeuge prallen frontal aufeinander. Afflerbachs damaliger Freund und Beifahrer wird in einem Krankenwagen in eine Klinik gebracht. Sie selbst wird - vermeintlich unverletzt - am Unfallort buchstäblich von den Sanitätern vergessen. So trampt sie nach Hause. Nachts im Bett jedoch rasen immer wieder die Lichter des anderen Wagens auf sie zu. Aus Sicht des richterlichen Gutachters waren dies eindeutige Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung.
Zitternd und zappelig geht Tanja Afflerbach zu ihrem Hausarzt. Der diagnostiziert statt einer posttraumatischen Belastungsstörung ein Schleudertrauma und schickt sie zu einer Nervenärztin. Nach einem kurzen Gespräch verabreicht ihr diese Ärztin eine so genannte Imap-Depot-Spritze mit einem Neuroleptikum und diagnostiziert eine Schizophrenie. Die "Erhebung von Befunden wurde versäumt", heißt es dazu später im gerichtlichen Beschluss.
Die erste Injektion der Psychiaterin wirkt wochenlang in Afflerbachs Körper. Sie fühlt sich furchtbar. Ihr ganzer Körper krampft sich zusammen - von den Zehen bis zur Kopfhaut. Ihr bleibt der Atem weg, die Zunge zieht es in den Rachen. Gegen dieses "Extrapyramidale Syndrom", eine Nebenwirkung von Neuroleptika, erhält sie dann im Krankenhaus das Gegenmittel Akineton. Es wird normalerweise Patienten mit Parkinson verschrieben." (...)
eine ganze kette von haarsträubenden ärztlichen - hm, soll man das noch "kunstfehler" nennen oder nicht besser schlimmste ignoranz und gleichgültigkeit ? ein lehrstück darüber jedenfalls, wie schnell man sich selbst in psychiatrischer (zwangs-)behandlung wiederfinden kann.
die oben genannte diagnose von symptomen einer posttraumatischen belastungsstörung nach unfall jedenfalls klingt - ich kenne kein weiteres öffentliches material - bei der schilderung der nächtlichen lichter plausibel. (auto-)unfälle können durchaus eine mehr oder weniger schwere ptbs nach sich ziehen, soviel sollte sich heute auch schon bis zum durchschnittsarzt herumgesprochen haben. bei entsprechender, wenig bis vielleicht gar nicht belasteter vorgeschichte gehören diese arten der ptbs zu denen, die im vergleich noch am leichtesten behandelbar sind oder sich gar mit der zeit "von selbst" - auch durch gespräche mit wirklich vertrauten menschen u.ä. - abschwächen können.
was aber bei dieser frau daraus diagnostisch gemacht wurde, klingt nach unglaublichem pfusch:
(...) ""Die Diagnose der Psychose wurde in der Klinik einfach übernommen", fasst er die Krankenakten zusammen. "Heute ist eindeutig, dass sie falsch war." Neuroleptika seien aufgrund einer "Verdachtsdiagnose" verabreicht worden und noch dazu in "außergewöhnlich hoher" Dosierung. Der Sachverständige kann nicht nachvollziehen, warum der jungen Frau 1991 eine Psychose und fünf Jahre später ohne weitere Angabe von Gründen ein Borderline-Syndrom, also eine schwere Persönlichkeitsstörung, attestiert worden sei." (...)
psychose und eine borderline-störung oben drauf - ich habe ja besonders in vergangenen basisbeiträgen scho9n mehrere möglichkeiten skizziert, wie die diagnostischen konfusionen zwischen und auch vielfachen doppeldiagnosen gerade von ptbs und borderline zustande kommen könnten, eine derartige variante jedoch dabei schlicht nicht in betracht gezogen. die institutionelle psychiatrie jedenfalls sorgt mit derartigen vorgehensweisen ganz von selbst dafür, dass ihr selbst in fällen misstraut wird, in denen sie durchaus eine reale hilfe für betroffene menschen darstellt.
so weit, so schlecht. im weiteren verlauf des artikels wird dann eher beiläufig eine kleine revolution erwähnt:
(...) "In der Psychiatrie sind Diagnosen selten eindeutig. Zwar existiert mit dem ICD 10 ein internationales System der WHO, der Weltgesundheitsorganisation. Aber auch dieser Katalog an Kriterien wird ständig überarbeitet, alte Überzeugungen schwinden. In Zukunft wird es beispielsweise die Diagnose "Borderline-Syndrom" gar nicht mehr geben. Die WHO hat sie als zu ungenau eingestuft." (...)
wow. ich wusste, dass bereits in den 1990er jahren entsprechende überlegungen in den zuständigen institutionen immer wieder eher am rande auftauchten, in denen sich die öffentliche - medizinisch-psychiatrisch-psychologische - kritik an der diagnose bzw. ihren stigmatisierenden wirkungen manifestierte - als letzte grössere diesbezgl. diskussion können meines wissens die attacken seitens vieler psychotraumatologen gegen die diagnose gelten, wie sie sich zb. bei judith herman und auch im "handbuch der borderline-störungen" (beide siehe literaturliste) nachlesen lassen. aber das es jetzt zumindest in der who-klassifikation icd-10 wirklich soweit sein soll, finde ich schon eine überraschung - wobei ich mich frage, was denn eigentlich genau verschwinden soll - eine diagnose "borderline-syndrom" existiert in der icd überhaupt nicht, und "borderline" taucht nur als eine art anhängsel auf, beim diagnostischen code F60.31 nämlich, der "emotional instabilen ps, borderline-typ". der begriff "borderline-syndrom" hingegen kann je nach therapeutischer richtung, v.a. seitens der orthodoxen psychoanalyse, etwas ziemlich anderes meinen. etwas annährend analoges lässt sich klassifikatorisch höchstens im psychiatrisch ebenfalls relevanten katalog der american psychiatric association, dem dsm-IV, herauslesen - ich habe gleich mal direkt auf den eintrag zur borderline personality disorder verlinkt.
vielleicht liegt der fehler aber auch nur in einer inhaltlichen konfusion / ungenauigkeit vom autor oder der autorin des artikels - was nicht weiter tragisch wäre, ist diese konfusion doch selbst unter ärztInnen und therapeutInnen bis heute verbreitet, die sich mit borderline herumschlagen. und diese andauernde konfusion ist es auch, die mich dazu bringen würde, die benannte absicht kritisch zu unterstützen - gründe dafür sind im- und explizit u.a. in den basisbeiträgen borderline, traumageschicht(-en) 1 und 2 nachlesbar. die angesprochene veränderung könnte den ganzen bereich zwischen trauma/dissoziation einerseits und persönlichkeitsstörungen im "klassisch" psychiatrischen verständnis, incl. der dissozialen (antisozialen) ps, andererseits, wenn auch durch ein zunächst nur formal anderes verständnis, in sachen wirklich verstehen immerhin mal in bewegung bringen. wobei die frage auch bleibt, wie und ob sich das dsm zu so einer qualitativen änderung in der icd verhalten würde - immerhin gibt es seit jahrzehnten in beiden katalogen bei den meisten psychiatrischen diagnosen durchaus mehr oder weniger massive inhaltliche unterschiede. die who ist aber aufgrund ihrer position letztlich die institution, die die formalen maßstäbe setzt.
kommentare speziell von psychiatrisch und / oder psychotherapeutisch tätigen zu der aussage des fr-artikels sind ausdrücklich erwünscht, zumal ich auf die schnelle keine weiteren quellen / infos zu dieser ankündigung und ihren weiteren hintergründen finden konnte.
(...) "Frau Afflerbach war nie psychotisch krank." Und doch hat die angehende Lehrerin zehn Jahre in der Psychiatrie und in psychiatrischen Ambulanzen verbracht.
1991 beginnt ihr Martyrium. Tanja Afflerbach ist 21 Jahre alt und gerade aus dem Elternhaus in die erste eigene Studentenbude nach Siegen gezogen. Eine sorglose Zeit, die Uni macht ihr Spaß. Sie ist eine eifrige Kunststudentin, die später am Gymnasium unterrichten will. Und dann ändert ein Autounfall ihr gesamtes Leben. An einer Straßenkreuzung in Allenbach bei Siegen nimmt ihr ein anderer Autofahrer die Vorfahrt. Beide Fahrzeuge prallen frontal aufeinander. Afflerbachs damaliger Freund und Beifahrer wird in einem Krankenwagen in eine Klinik gebracht. Sie selbst wird - vermeintlich unverletzt - am Unfallort buchstäblich von den Sanitätern vergessen. So trampt sie nach Hause. Nachts im Bett jedoch rasen immer wieder die Lichter des anderen Wagens auf sie zu. Aus Sicht des richterlichen Gutachters waren dies eindeutige Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung.
Zitternd und zappelig geht Tanja Afflerbach zu ihrem Hausarzt. Der diagnostiziert statt einer posttraumatischen Belastungsstörung ein Schleudertrauma und schickt sie zu einer Nervenärztin. Nach einem kurzen Gespräch verabreicht ihr diese Ärztin eine so genannte Imap-Depot-Spritze mit einem Neuroleptikum und diagnostiziert eine Schizophrenie. Die "Erhebung von Befunden wurde versäumt", heißt es dazu später im gerichtlichen Beschluss.
Die erste Injektion der Psychiaterin wirkt wochenlang in Afflerbachs Körper. Sie fühlt sich furchtbar. Ihr ganzer Körper krampft sich zusammen - von den Zehen bis zur Kopfhaut. Ihr bleibt der Atem weg, die Zunge zieht es in den Rachen. Gegen dieses "Extrapyramidale Syndrom", eine Nebenwirkung von Neuroleptika, erhält sie dann im Krankenhaus das Gegenmittel Akineton. Es wird normalerweise Patienten mit Parkinson verschrieben." (...)
eine ganze kette von haarsträubenden ärztlichen - hm, soll man das noch "kunstfehler" nennen oder nicht besser schlimmste ignoranz und gleichgültigkeit ? ein lehrstück darüber jedenfalls, wie schnell man sich selbst in psychiatrischer (zwangs-)behandlung wiederfinden kann.
die oben genannte diagnose von symptomen einer posttraumatischen belastungsstörung nach unfall jedenfalls klingt - ich kenne kein weiteres öffentliches material - bei der schilderung der nächtlichen lichter plausibel. (auto-)unfälle können durchaus eine mehr oder weniger schwere ptbs nach sich ziehen, soviel sollte sich heute auch schon bis zum durchschnittsarzt herumgesprochen haben. bei entsprechender, wenig bis vielleicht gar nicht belasteter vorgeschichte gehören diese arten der ptbs zu denen, die im vergleich noch am leichtesten behandelbar sind oder sich gar mit der zeit "von selbst" - auch durch gespräche mit wirklich vertrauten menschen u.ä. - abschwächen können.
was aber bei dieser frau daraus diagnostisch gemacht wurde, klingt nach unglaublichem pfusch:
(...) ""Die Diagnose der Psychose wurde in der Klinik einfach übernommen", fasst er die Krankenakten zusammen. "Heute ist eindeutig, dass sie falsch war." Neuroleptika seien aufgrund einer "Verdachtsdiagnose" verabreicht worden und noch dazu in "außergewöhnlich hoher" Dosierung. Der Sachverständige kann nicht nachvollziehen, warum der jungen Frau 1991 eine Psychose und fünf Jahre später ohne weitere Angabe von Gründen ein Borderline-Syndrom, also eine schwere Persönlichkeitsstörung, attestiert worden sei." (...)
psychose und eine borderline-störung oben drauf - ich habe ja besonders in vergangenen basisbeiträgen scho9n mehrere möglichkeiten skizziert, wie die diagnostischen konfusionen zwischen und auch vielfachen doppeldiagnosen gerade von ptbs und borderline zustande kommen könnten, eine derartige variante jedoch dabei schlicht nicht in betracht gezogen. die institutionelle psychiatrie jedenfalls sorgt mit derartigen vorgehensweisen ganz von selbst dafür, dass ihr selbst in fällen misstraut wird, in denen sie durchaus eine reale hilfe für betroffene menschen darstellt.
so weit, so schlecht. im weiteren verlauf des artikels wird dann eher beiläufig eine kleine revolution erwähnt:
(...) "In der Psychiatrie sind Diagnosen selten eindeutig. Zwar existiert mit dem ICD 10 ein internationales System der WHO, der Weltgesundheitsorganisation. Aber auch dieser Katalog an Kriterien wird ständig überarbeitet, alte Überzeugungen schwinden. In Zukunft wird es beispielsweise die Diagnose "Borderline-Syndrom" gar nicht mehr geben. Die WHO hat sie als zu ungenau eingestuft." (...)
wow. ich wusste, dass bereits in den 1990er jahren entsprechende überlegungen in den zuständigen institutionen immer wieder eher am rande auftauchten, in denen sich die öffentliche - medizinisch-psychiatrisch-psychologische - kritik an der diagnose bzw. ihren stigmatisierenden wirkungen manifestierte - als letzte grössere diesbezgl. diskussion können meines wissens die attacken seitens vieler psychotraumatologen gegen die diagnose gelten, wie sie sich zb. bei judith herman und auch im "handbuch der borderline-störungen" (beide siehe literaturliste) nachlesen lassen. aber das es jetzt zumindest in der who-klassifikation icd-10 wirklich soweit sein soll, finde ich schon eine überraschung - wobei ich mich frage, was denn eigentlich genau verschwinden soll - eine diagnose "borderline-syndrom" existiert in der icd überhaupt nicht, und "borderline" taucht nur als eine art anhängsel auf, beim diagnostischen code F60.31 nämlich, der "emotional instabilen ps, borderline-typ". der begriff "borderline-syndrom" hingegen kann je nach therapeutischer richtung, v.a. seitens der orthodoxen psychoanalyse, etwas ziemlich anderes meinen. etwas annährend analoges lässt sich klassifikatorisch höchstens im psychiatrisch ebenfalls relevanten katalog der american psychiatric association, dem dsm-IV, herauslesen - ich habe gleich mal direkt auf den eintrag zur borderline personality disorder verlinkt.
vielleicht liegt der fehler aber auch nur in einer inhaltlichen konfusion / ungenauigkeit vom autor oder der autorin des artikels - was nicht weiter tragisch wäre, ist diese konfusion doch selbst unter ärztInnen und therapeutInnen bis heute verbreitet, die sich mit borderline herumschlagen. und diese andauernde konfusion ist es auch, die mich dazu bringen würde, die benannte absicht kritisch zu unterstützen - gründe dafür sind im- und explizit u.a. in den basisbeiträgen borderline, traumageschicht(-en) 1 und 2 nachlesbar. die angesprochene veränderung könnte den ganzen bereich zwischen trauma/dissoziation einerseits und persönlichkeitsstörungen im "klassisch" psychiatrischen verständnis, incl. der dissozialen (antisozialen) ps, andererseits, wenn auch durch ein zunächst nur formal anderes verständnis, in sachen wirklich verstehen immerhin mal in bewegung bringen. wobei die frage auch bleibt, wie und ob sich das dsm zu so einer qualitativen änderung in der icd verhalten würde - immerhin gibt es seit jahrzehnten in beiden katalogen bei den meisten psychiatrischen diagnosen durchaus mehr oder weniger massive inhaltliche unterschiede. die who ist aber aufgrund ihrer position letztlich die institution, die die formalen maßstäbe setzt.
kommentare speziell von psychiatrisch und / oder psychotherapeutisch tätigen zu der aussage des fr-artikels sind ausdrücklich erwünscht, zumal ich auf die schnelle keine weiteren quellen / infos zu dieser ankündigung und ihren weiteren hintergründen finden konnte.
monoma - 6. Feb, 16:08