basis

Donnerstag, 29. September 2005

basis: autismus oder die krankheit der objektivität (1)

so. ich muss sagen, dass es ein echter kampf gewesen ist, diesen beitrag zu verfassen - oft genug bin ich an der letzten zeit an der schieren komplexität dieses themas gescheitert und habe mich gefragt, ob es denn überhaupt möglich, eine blog-taugliche zusammenfassung unter einbeziehung der wichtigsten aspekte zu realisieren. aber z. t. ist das ärgerlicherweise auch meinem eigenen perfektionsanspruch geschuldet. inzwischen habe ich mich entschlossen, diesen anspruch - so weit es möglich ist - zu ignorieren. was hoffentlich nicht dazu führt, inhaltlich zu verkürzend zu werden - gerade bei diesem thema wünsche ich mir von den leserInnen hier aufmerksamkeit und zeit, weil sich darüber große teile der bisherigen beiträge hier womöglich erst so recht inhaltlich erschliessen.

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ich bitte gleichfalls, im folgenden zu berücksichtigen, dass ich trotz vermittlung einer allgemeinmedizinischen grundlage während meiner ausbildung, einer autodidaktischen auseinandersetzung mit diversen aspekten der psychiatrie/psychologie sowie langjähriger (klienten-)erfahrung mit verschiedensten therapieformen/therapeutischen prozessen kein ausgebildeter mediziner bin. an dieser stelle sei auf den begriff "selbstermächtigung" hingewiesen, den ich inhaltlich noch über das modell "aufgeklärter patient" hinausweisend finde. wer sich einmal näher gerade mit der psychiatrie (und auch der professionellen psychotherapie) beschäftigt, wird eine wissenschaftliche disziplin vorfinden, die sich allzuoft und allzusehr in soziale machtverhältnisse nicht nur verstrickt hat (ganz offen bei der nazi-"euthanasie" und der militärpsychiatrie, versteckter bei den sozialen wirkungen diverser krankheitsmodelle), sondern diese auch mit produziert. und sich dabei kritik genau so wie andere wissenschaftliche bereiche mittels esoterischer sprache und elitärem auftreten vom leibe hält. aber gerade, wenn es um das menschliche emotionale leben und unser gehirn geht, gilt meiner meinung in gewissen maßen das folgende auch für die psychiatrie:

"Wir sind ja alle schon das, was die Psychologie zu beschreiben und zu analysieren versucht, wir erfahren und praktizieren es alle Tage und beherrschen diesen `Gegenstand´, der wir ja sind, offenbar ganz ordentlich und haben ihn schon immer einigermaßen beherrscht, lange bevor sich eine wissenschaftliche Psychologie entwickelt hat, die das in Abrede stellt und uns weismachen möchte, sie selbst hätte diesen `Gegenstand´ neu erfunden und sei nun als Erfinder und Patentinhaber dieses fiktiven Menschen berechtigt, letztinstanzlich über diese `Sache´ zu entscheiden".

(j. e. mertz, "borderline...", s. 159; siehe literaturliste)


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der gerade und in vergangenen beiträgen schon öfter erwähnte zitierte autor wird im folgenden noch häufiger eine rolle spielen. letztlich ist es so, dass ich ohne das betreffende buch wahrscheinlich nicht auf die idee gekommen wäre, mich mit dem thema autismus näher zu beschäftigen. aber das ist doch laut titel ein buch zum thema borderline?, ließe sich fragen. ja - aber dieser zusammenhang lässt sich erst dann überhaupt diskutieren, wenn es einen begriff davon gibt, was autismus eigentlich bedeutet. es lässt sich einiges zu mertz und seinem modell anmerken, auch in mehreren punkten entschiedene kritik - trotzdem halte ich seine herausarbeitung der inneren struktur des autismus für plausibel und einleuchtend, und werde mich darauf im folgenden auch beziehen. zum buch insgesamt sei an dieser stelle noch gesagt, dass mir bisher - es ist vor gut fünf jahren erschienen und mittlerweile offensichtlich vergriffen - keinerlei fachspezifische rezension untergekommen ist. eine anfrage beim zuständigen verlag vor gut einem halben jahr ergab lediglich, dass es möglicherweise überhaupt nur drei rezensionen nach veröffentlichung gegeben hat. trotz professioneller recherchekenntnisse gelang es mir nicht, auch nur eine rezension zu gesicht zu bekommen, auch nicht nach recherchen in einer unibibliothek. wenn also hier jemand mitliest, der kenntnisse einer solchen rezension hat, würde ich um eine mitteilung bitten. einige kundenrezensionen sind bei amazon einsehbar, und spiegeln in ihrer teils krassen widersprüchlichkeit durchaus die effekte wieder, die das buch auslösen kann.

dieses auffällige schweigen der fachwelt ist für mich - gerade im borderlinebereich, wo an sich jede veröffentlichung sehr bald von anderen professionellen kommentiert und rezensiert wird - inzwischen zwar einerseits verständlicher, stellt andererseits jedoch auch ein recht jämmerliches ausweichen dar - die thesen von mertz haben es wirklich in sich, dazu bringt er eine sehr scharfe kritik an der orthodoxen psychoanalyse sowie inspirierende beobachtungen zum westlich geprägten bewußtsein vor, ebenso einiges ketzerische zum geschlechterverhältnis - von der möglichen rolle der mütter bei psychischen störungen und der bedeutung der pränatalen phase nicht zu reden. viel explosives material also, um sich daran abzuarbeiten - aber stattdessen das erwähnte tiefe schweigen. und es geht dabei nicht um etwas beliebiges, was eigentlich egal ist - das buch kann für betroffene z.b. mit einer borderline-diagnose eine verheerende wirkung haben, und alleine schon deswegen wäre es eine sozusagen berufliche pflicht der überwiegend - in relation - hochbezahlten sog. professionellen, sich dazu zu äußern. aber die methode des aussitzens ist anscheinend nicht nur in einem gesellschaftlichen bereich als problemlösung beliebt.

ich kann hier keine komplette rezension leisten, werde mich aber nicht nur bei seinen anmerkungen zum autismus, sondern auch zukünftig zu seiner meiner meinung vorhandenen unterschätzung von traumatischen prozessen sowie seinem begriff von psychopathie bzw. seiner definition des psychopathen viel auf dieses buch beziehen. im übrigen gibt es in bestimmten zentralen punkten seiner thesen inhaltliche übereinstimmungen mit anderen autoren wie z.b. arno gruen und - für mich ziemlich überraschend - mit den über zwei jahrzehnte vorher erschienenen "männerphantasien" von theweleit. alle drei stellen z.b. zwei grundsätzlich qualitativ unterschiedliche arten der psychose vor, wenn auch natürlich aus unterschiedlicher perspektive mit unterschiedlicher terminologie. wobei die eine art bekannt unter der bezeichnung "schizophrenie" ist und sich die verbreiteten klischees einer psychose - spektakuläre visionen, halluzinationen, offensichtliche realitäts"verkennung" bzw. existenz in einer eigenen realität - hauptsächlich auf diese, dazu im verhältnis recht seltene, form beschränken.

die andere art jedoch ist eventuell ein monströses problem für uns alle. und besticht dazu durch eine "objektiv" vorhandene realitätstüchtigkeit, vor allem dann, wenn diese realität sich durch hierarchien und machtverhältnisse auszeichnet. wer dazu mehr von den entsprechenden modellen theoretisch wissen möchte, sollte sich mit den entsprechenden werken der autoren direkt beschäftigen.

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mit dem thema autismus hat das alles aus folgenden gründen etwas zu tun, weil...

"...nur hier, im Kontext des Autismus, der bei weitem wichtigste Faktor der gesamten Psychopathologie, und zwar als isoliertes Ereignis, etwas deutlicher als sonst in unser Blickfeld kommt: Bei diesem wichtigsten Faktor handelt es sich um jenen zentralen Erfahrungskomplex, der unter den Schlüsselbegriffen Bindung, (authentische) Beziehung, (lebendiger) Dialog, Verstehen, Empathie oder (mit Einschränkungen) Rapport abgehandelt wird. Dieser Beziehungsfaktor tritt beim Autismus insofern als isoliertes Ereignis hervor, weil er im Sinne eines Totaldefizits oder eines Totaldefekts vollständig entfällt."

(mertz, "borderline...", s. 98)


vielleicht schauen Sie sich nocheinmal die liste in diesem beitrag an - ich hatte da geschrieben, dass sich so ziemlich alle dort aufgeführten krankheitsmodelle durch eine mehr oder weniger schwere, mehr oder weniger offensichtliche einschränkung bzw. schädigung der beziehungsfähigkeit "auszeichnen". die als solche anerkannten krankheitsbilder des autistischen spektrums definieren sich quasi darüber, aber auch die erwähnten persönlichkeitsstörungen besitzen bei näherer betrachtung einen quasi- oder pseudoautistischen anteil, wenn es um die jeweiligen beziehungsfähigkeiten geht (die ptbs und dissoziative ps nehmen eine gewisse sonderstellung ein). professionelle aus den bereichen der behindertenpädagogik z.b. oder auch aus der psychiatrie werden hier vermutlich einhaken wollen und sich gegen einen inflationären gebrauch des wortes autismus wenden. ich kenne mittlerweile die position, wie sie z.b. auch im ersten kommentar hier durchscheint, die "eigentlich" nur den kanner-autismus als "echten" autismus anerkennen will, und das ganze phänomen damit im bereich der schweren geistigen behinderung belassen möchte. es geht dabei mal wieder um definitionen, und diesen streit werden wir hier nicht klären können. ich halte es aber für berechtigt, den autismus als allgemeine menschliche - hm, möglichkeit, eben nicht am rand der gesellschaft zu belassen, sondern ihn in die mitte zu holen - und das ist für mich eine erkenntnis aus der lektüre von mertz, der den autismus als seinsoption unter bestimmten sozial produzierten bedingungen definiert. und als elementare möglichkeit eines funktionsmodus bei jedem menschen - bekannt als das objektive bewußtsein aka instrumentelle vernunft. ja, das war und ist immer noch eine echte überraschung für mich, dass sich das ideologische leitbild der westlichen kultur ("ich denke, also bin ich"), die sog. rationale vernunft, als die strukturell autistische hälfte des menschlichen seins entschlüsseln lässt, die nicht per se krankhaft ist, aber bei einem ungleichgewichtszustand als dominierendes prinzip im strengen sinn krankhaft werden kann, was offen autistische menschen selbst zeigen. und eben auch aus den selbstzeugnissen solcher menschen leitet mertz seine diesbezgl. überlegungen her.

wie gesagt, der offizielle mainstream wird dem nicht folgen wollen (was vor allem daran liegen könnte, dass erstens keine allgemein akzeptierte definition des wesens einer authentischen (oder auch: nichthierarchischen) menschlichen beziehung vorliegt; zweitens aus diesem grund zustände für "beziehungen" gehalten werden, die gar keine sind (wir betreten hier den als-ob-simulationsbereich); und drittens eben kein bewußtsein zu den ersten beiden punkten vorhanden ist, auch und gerade nicht in weiten teilen der professionellen psychiatrischen bzw. psychotherapeutischen institutionen.)

"Zu den tragikomischen Absurditäten der modernen Psychopathologie zählt die Tatsache, dass dieser (authentische) Beziehungsfaktor als Defizit oder Defekt zwar unzähligen Krankheitsbildern zugrundeliegt und den Kernbereich des psychopathologischen Gesamttableaus weitgehend beherrscht, aber erst dann (und keinen Moment früher!) offiziell registriert wird und die ihm gebührende Anerkennung findet, wenn dieser Faktor ganz offensichtlich, auch mit bloßem und ungeschultem Auge erkennbar, vollständig entfällt und sich auch auf Dauer nicht mehr nachweisen lässt."

("borderline...", s. 98)


nun denn.schauen wir uns einmal das als solches definierte "offizielle" autistische spektrum genauer an.

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ich kann hier nur eine komprimierte zusammenfassung der wichtigsten aspekte geben, und empfehle zur intensiveren auseinandersetzung zum einstieg einmal das autismusdossier bei wikipedia, welches imo ganz gut den offiziellen stand wiedergibt, dann zum anderen seiten wie autismus.de, autismus-online, aspiana oder aspergia, die auch die sicht von direkt betroffenen widerspiegeln.

den kanner-autismus als "klassischen" frühkindlichen autismus und als sehr häufig als durch seine intensität in der folge definierte geistige behinderung lasse ich einmal weitgehend außen vor (ebenso den atypischen autismus), weil diese menschen zwar womöglich den autistischen extrempol in jeder hinsicht verkörpern, aber dadurch eben auch fast völlig unfähig zu selbsttändigen handlungen sind und häufig lebenslanger pflege bedürfen. möglicherweise aber sollte dieser extrempol im hinterkopf bleiben, gerade bei der beschäftigung mit den "milderen" autistischen varianten.

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und dann der bereich, der inzwischen vielleicht am relevantesten ist: der sog. asperger-autismus.
von asperger-betroffenen liegen inzwischen verschiedene selbstzeugnisse vor. am bekanntesten sind dabei die arbeiten von temple grandin , einer us-amerikanischen professorin und (asperger-)autistin, die weltweit als expertin für humane viehhaltung und -schlachtung (in den usa arbeitet die hälfte aller schlachthöfe nach von ihr ausgearbeiteten methoden - eine leistung, die ich mit sehr gemischten gefühlen betrachte) anerkannt ist. grandin hat bis heute mehrere bücher veröffentlicht, es existieren im netz interviews mit ihr (eines davon wird gleich noch genauer vorgestellt werden). ihre schilderungen gelten allgemein - auch unter betroffenen - als weitgehend zutreffende beschreibungen des autistischen lebens. eine art selbstbiographie ist in deutschland 1997 unter dem titel "ich bin die anthropologin auf dem mars" mit einem vorwort des neurologen oliver sacks veröffentlicht worden, und aus diesem buch wird auch von mertz ausgiebig zitiert. nun ist es so, dass ich originalquellen grundsätzlich bevorzuge, aber dieses buch von t. grandin so vergriffen wie sonstetwas ist - und ein angebot neulich lautete auf vierzig euro (für ein taschenbuch...) über ein antiquariat. das ist momentan schlicht und einfach nicht drin, und darum werde ich auf die von mertz zitierten passagen zurückgreifen, wobei ich immer noch davon ausgehe, das original irgendwann einmal vorliegen zu haben. ich sehe aber keinerlei gründe für die annahme, dass die zitate bei mertz nicht korrekt wiedergegeben sind. zusammen mit weiteren aussagen im erwähnten interview mit ihr ergibt sich ein nachvollziehbarer eindruck davon, was autismus in einer einigermaßen realitätstüchtigen variante - zitat oliver sacks: "Tatsächlich war Temple bei unserer ersten Begegnung...zunächst derart `normal´ (oder derart geschickt in der Simulation von Normalität), daß es mir schwerfiel zu erkennen, daß sie autistisch war." - eigentlich ausmacht, oder besser: wie er die menschliche existenz ganz grundsätzlich beeinflusst.

"Das erste Anzeichen dafür, daß ein Baby möglicherweise autistisch ist, besteht darin, daß es sich bei Berührung versteift und sich dagegen wehrt, gehalten und gehätschelt zu werden. Es kann extrem empfindlich auf Berührungen reagieren, indem es sich entzieht oder schreit...Wenn ich gehalten wurde, kämpfte ich, um mich zu befreien, aber wenn man mich alleine in dem großen Kinderwagen ließ, machte ich selten Theater."

"Meine Mutter erkannte zum ersten Mal, daß es ein schlimmes Problem mit mir gab, als ich nicht wie das kleine Mädchen im Nachbarhaus zu sprechen begann."

(t. grandin zitiert nach mertz, s. 102/103)


in den verschiedenen "offiziellen" (asperger-)autismus-darstellungen taucht eine erstmalig bemerkte auffälligkeit häufig im zeitraum von drei bis vier jahren auf, und mertz bemerkt zu recht, dass es schon seltsam erscheint, warum die mutter oder andere bezugspersonen auf das verweigern der von babys ansonsten existenziell eingeforderten zuneigung und wärme anscheinend nicht reagieren, sondern erst dann, wenn später "objektive" leistungen in wichtigen kulturtechniken nicht oder nur spärlich vom kind erbracht werden. das lässt einige spekulationen über möglicherweise versteckte vorhandene autistische tendenzen bei den betreffenden müttern zu, würde auch zur genhypothese passen - oder zum mertz´schen ansatz der pränatalen umprogrammierung. in einer rezension eines buches über sog. "schattensyndrome" findet sich dieser absatz:

"In den achtziger Jahren fuehrten Ritvo und seine Kollegen Anne M. Brothers, B. J. Freeman und Carmen Pingree eine epidemiologische Untersuchung ueber alle autistischen Personen durch, die damals im Staat Utah lebten. Das Ziel der Untersuchung lag darin, nach Faktoren zu suchen, zum Beispiel vorgeburtlichen Einfluessen, einem Gehirntrauma usw., die als moegliche Ursachen fuer Autismus in Frage kamen, sowie das Risiko fuer Familien mit einem autistischen Kind im Hinblick auf ein zweites oder drittes Kind abzuschaetzen. Bei diesen Gespraechen mit den Eltern autistischer Kinder stiessen sie jedoch auf ein unerwartetes Ergebnis: einige dieser Eltern wirkten selber autistisch. Einige flatterten mit den Haenden, wiegten den Koerper hin und her oder gingen auf Zehenspitzen, andere waren sozial isoliert, und zwei von ihnen erklaerten offen heraus, sie seien genauso autistisch wie ihre Kinder. Wie sich herausstellte, waren sie es tatsaechlich. Unabhaengige Untersuchungen durch andere Diagnostiker bestaetigten die Diagnose des Autismus bei elf Elternteilen - bei neun Vaetern und zwei Muettern. Waehrend heute die Vorstellung eines autistischen Elternteils vielleicht nicht so aussergewoehnlich erscheint, war der Gedanke noch vor wenigen Jahren revolutionaer. Ritvo stellte danach fest: 'Wenn Sie mir vor 10 Jahren gesagt haetten, es gebe autistische Menschen, die verheiratet sind und Kinder haben, dann haette ich geantwortet: 'Sie sind verrueckt, die leben doch alle in Anstalten.' Nach der Untersuchung von Utah aenderte er jedoch seine Ansicht: 'Wie bei den meisten Krankheiten scheint es auch eine leichte Form des Autismus zu geben, die im Erwachsenenalter mit Ehe, Elternschaft, befriedigender Heterosexualitaet und beruflicher Leistung vertraeglich ist.'" (S. 238) Damit ist das Schattensyndrom des Autismus eingefuehrt, das allerdings im Grunde schon durch Asperger (1944) angelegt wurde, aber im engeren Sinne auch wiederum nicht zum Autismus gezaehlt wird. Wie schon mehrfach kritisiert, zieht sich das babylonische Begriffschaos wie ein roter Faden durch die nun gut 200 Jahre alte moderne Psychiatrie. "Zur Zeit herrscht das klassische Schattensyndrom des Autismus unbestreitbar bei Maennern vor." Sie sind eigenwillige, unkonventionelle, unangepasste, beziehungsarme Aussenseiter. "Technikertypen haben diese Eigenschaft laengst bei sich entdeckt. ... Auch die Verbindung zwischen dem Autismus und der Computerwelt ist nicht unbeachtet geblieben. Das Magazin Time brachte einmal einen Artikel, in dem Bill Gates [der Gruender der Firma Microsoft] mit der beruehmten autistischen Gelehrten Temple Grandlin verglichen wurde (zu den autistischen Eigenschaften, die ueber Gates mitgeteilt wurden, gehoerten das Wiegen des Oberkoerpers, ein staendiges Wippen, die Vermeidung des Blickkontaktes und die mangelnde soziale Faehigkeit, sich an einem Gruppengespraech zu beteiligen)." (S. 239).

(zitiert nach: Sponsel, Rudolf (DAS). Buchbesprechung - Rezension: Ratey, John J. & Johnson, Catherine (dt. 1999, orig. 1997). Das Schattensyndrom. Neurobiologie und leichte Formen psychischer Stoerungen.Rezensionen. Internet Publikation für Allgemeine und Integrative Psychotherapie IP-GIPT. Erlangen;
- der ganze artikel ist zwar eine ziemliche bleiwüste, steckt aber voller interessanter informationen u.a. zum vergleich mit schizoiden persönlichkeiten, möglichen veränderungen der neurophysiologie, dem zusammenhang mit dem aufmerksamkeitsdefizitssyndrom sowie auch auffälligkeiten in den propriozeptiven und vestibulären fähigkeiten).


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"Wenn man mich alleine ließ, wurden meine Gedanken zerstückelt und ich geriet in einen hypnotischen Zustand. Ich konnte stundenlang am Strand sitzen und zusehen, wie der Sand durch meine Finger rieselte. Ich studierte die einzelnen Sandkörner, die zwischen meinen Fingern durchrannen. Jedes Sandkorn war anders, und ich war wie eine Wissenschaftlerin, die die Körner unter einem Mikroskop studierte. Während ich ihre Formen und Konturen einer genaueren Prüfung unterzog, versank ich in Trance, die mich für die Anblicke und Geräusche rund um mich unempfänglich machte...Andere Methoden, um mich gegen die Welt abzuschotten....bestanden darin, daß ich rhythmisch hin und her wippte oder mich im Kreis drehte."

(grandin zitiert nach mertz, s. 105/106)


ich denke mal, ich bin nicht alleine mit meinem eindruck, dass hier haargenau eine mögliche form dessen beschrieben wird, was als dissoziation bekannt ist - und gerade im kontext borderline, posttraumatische belastungsstörung und erst recht bei der dissoziativen ps aka multiplen persönlichkeit ein thema ist. und ebenso - in einem ganz anderen kontext - beim thema drogen und auch bei schamanistischen ritualen wiederzufinden ist. mertz geht auf das thema dissoziation unter diesem namen leider nicht ein, kommentiert aber obigen absatz wie folgt:

"Auch uns sind diese Vorgänge in gewisser Weise sehr vertraut (...) Es ist eine im Modus des objektiven Kontrollbewußtseins operierende Ichfunktion, die hier mit besonders stark verengten und fixierten Aufmerksamkeitsfenstern spielt. Wenn wir die Feinheiten eines winzigen Areals unserer Hautoberfläche sehr konzentriert studieren oder die Bewegungen einer Fliege, die gerade auf unserem Schreibtisch gelandet ist, dann operieren auch wir in diesem autistischen Modus. Der einzige Unterschied zwischen uns und dem Autisten besteht darin, daß wir auch anders können, während der Autist in diesem Modus ein Leben lang gefangen bleibt (...) Die geradezu marsianische Andersartigkeit der autistischen Erfahrungswelt beruht nicht auf dem, was der Autist tatsächlich tut und erfährt, sondern auf dem, was er nicht tun und erfahren kann. Durch diesen defektartigen Verlust verändert sich allerdings das Funktionsganze (...) Die verbleibenden Funktionen müssen die verlorene Funktion kompensieren. Im Falle des strukturellen Autismus, der durch den Totalausfall der authentischen Beziehungsoptionen charakterisiert ist (klassischer, z.B. frühkindlicher Autismus), konzentriert sich das hypertrophierende (überdimensional erweiternde, aufblähende; anm. mo) objektive Kontrollbewußtsein bevorzugt auf unbelebte Objekte."

(und jetzt folgt ein wichtiger und entscheidender satz):

"Der Realitätsbezug des Autisten ist ein ausschließlich objektiver und gegenstandsmanipulativer: Das gegenstandsmanipulative Grundschema wird später, unter dem Zwang der Verhältnisse (sozialer Druck), auf lebendige und (inter)personale Ereignisfelder projiziert und dort (inter)agiert."

(s. 106)


"gegenstandsmanipulativ" lässt sich hier wortwörtlich verstehen: eine autistische wahrnehmung ist unfähig, lebendiges zu erkennen (und diese unfähigkeit, wie in anderen beiträgen hier schon öfter angedeutet, hat eine materielle, körperliche basis - und bezieht den eigenen körper übrigens mit ein!) und kann lediglich anhand "objektiver" formaler kriterien erkennen, ob es einen z.b. einen unterschied zwischen schaufensterpuppen und lebenden menschen gibt - eindrucksvoll beschrieben in diesem forenbeitrag bei tp:

"...daß ich regelmäßig Modepuppen im Kaufhaus mit echten Menschen verwechsele...(...)"

das der betreffende auch noch als programmierer arbeitet, hat schon etwas ironisches an sich. aber zur wahrnehmung: es ist im wahrsten sinne des wortes eine dingwelt, eine welt von objekten ohne inneren zusammenhang (dieser vor allem emotional und kinästhetisch erlebbare zusammenhang beruht auf u.a. körperlich basierten wahrnehmungsfähigkeiten, wie zb. die weiter oben erwähnten propriozeptiven und vestibulären wahrnehmungen, nach neueren forschungen ist auch ein ausfall der spiegelneuronsysteme zu erkennen, eine basis für empathie), die sich hier abbildet. und damit ist ein sehr krasser und sehr qualitativer und sehr konsequenzenreicher unterschied zur gesunden bzw. vollständigen menschlichen wahrnehmung gegeben. es sind in letzter konsequenz verschiedene welten, die sich aus der radikal unterschiedlichen wahrnehmung ergeben.

"Der autistische Mensch operiert, und darauf kommt es an, ausschließlich im Modus dieses gewöhnlichen und an sich gesunden objektiven (objektivierenden) Kontrollbewußtseins. Die autistische Kontrolle zielt dabei ab auf die Herstellung einer sinnvollen Ordnung in all dem kontinierlich einströmenden Erfahrungsmaterial (der sinnlich-körperlich basierten welt, in der wir alle leben, ob wir´s letztlich wahrnehmen können oder nicht - diese welt ist materiell und objektiv vorhanden; anm. mo), das für den Betroffenen `keinen Sinn macht´. Der Autist (...) versucht außerdem, seine Erfahrungswelt (...) objektiv zu beherrschen (prognostisch und manipulativ)."

weiter mit temple grandin:

"Ich beobachte ständig...doch ich gehörte nie dazu...Noch heute findet mein ganzes Denken vom Standpunkt einer Beobachterin aus statt...Meine Bilder (Vorstellungsbilder) ähnelten denen anderer Menschen, aber ich stellte sie mir stets als Beobachterin vor. Die meisten Menschen sehen sich selbst in ihren Vorstellungen als Beteiligte (T.G. irrt hier: der intakte Mensch beherrscht beide Optionen, J.E.M.)...Mein ganzes Leben bin ich eine Beobachterin gewesen, und ich habe mich immer wie jemand gefühlt, der die Dinge von außen betrachtet...Unter Einsatz meiner Visualisierungsfähigkeit beobachte ich mich selbst aus der Distanz. Ich bezeichne das als `meinen kleinen Forscher in der Ecke´, als wäre ich ein kleiner Vogel, der mein Verhalten aus der Höhe betrachtet...Dr. Asperger bemerkte, daß sich autistische Kinder ständig selbst beobachten. Sie betrachten sich selbst als Objekt des Interesses."

(s.106/107)

"Vor kurzem besuchte ich einen Vortrag, bei dem es eine Sozialwissenschaftlerin erklärte, der Mensch denke anders als Computer. Bei der anschließenden Dinnerparty erklärte ich der Wissenschaftlerin..., daß meine Denkmuster den Arbeitsschritten eines Computers ähnelten und ich in der Lage sei, meinen Denkprozeß Schritt für Schritt zu erläutern. Ich war einigermaßen schockiert, als sie mir erklärte, daß sie unmöglich beschreiben könne, wie ihre Gedanken und Emotionen verbunden seien...Ich speichere Informationen im Kopf wie auf einer CD-ROM. Wenn ich mich an jemand erinnere, spiele ich in meiner Vorstellung ein Video von dieser Person ab...Wenn ich lese, übersetze ich die geschriebenen Wörter in Farbfilme oder speichere einfach ein Foto der geschriebenen Seite, um sie später zu lesen. Wenn ich das Material wieder abrufe, sehe ich in meiner Vorstellung eine Kopie dieser Seite...Meine Gedanken bewegen sich...von videoähnlichen, spezifischen Bildern zu allgemeinen Konzepten...ich bediene mich seit jeher der Visualisierung und der Logik, um Problem zu lösen...Normalerweise erscheinen meine Erinnerungen in strikter chronologischer Reihenfolge (...)"

(s. 108)


hier werden die möglichen kompensationen des ausfalls eines entscheidenden teils der wahrnehmung sichtbar, verstanden als eher ungewöhnliche neurologische fähigkeiten wie zb.einem eidetischen (fotografischen) gedächtnis. auch synästhesie scheint bei autistischen menschen öfter vorhanden zu sein, ebenso findet sich ein link zum thema hochbegabung. all das ist - in relation - gehäuft zu beobachten, jedoch nicht zwingend - längst nicht alle als solche diagnostizierten autistischen menschen entwickeln irgendwelche besonderen fähigkeiten. wobei es eine lohnende sache ist, sich mal die biographien sog. genies innerhalb der westlichen kultur näher anzuschauen. beispiele: michelangelo, einstein (und andere), oder eben auch bill gates. zum ebenfalls "unter verdacht" stehenden isaac newton, der vielleicht als d e r repräsentant des naturwissenschaftlichen weltbildes gelten kann, plane ich einen eigenen beitrag.

in bereich der fiktiven personen gerade aus der populärkultur sind zb. mr. spock von der enterprise sowie sherlock holmes als koksende denkmaschine sehr deutlich im autistischen spektrum verortet. beim letzteren wird zudem die gerade von t. grandin thematisierte ständige beobachtung skizziert:

"Seinem kalten, präzisen, bewundernswert ausgeglichenen Geist waren alle Gefühlsregungen und besonders diese (es geht um liebe, anm. mo) fremd. Er war meiner Meinung nach die vollkommenste Denk- und Beobachtungsmaschine, die die Welt je gesehen hat, aber als Liebhaber wäre er falsch am Platz gewesen. Von den zarteren Gefühlen sprach er einzig mit Spott und Hohn."

und dann wird der in den holmes-geschichten immer als etwas tölpelhaft gezeichnete dr.watson wieder einmal durch die logischen schlußfolgerungen von holmes verblüfft, der daraufhin anmerkt:

"Du siehst, aber du beobachtest nicht. Der Unterschied ist klar. Du hast doch zum Beispiel oft die Stufen gesehen, die vom Hausflur in diese Wohnung führten?"
"Gewiß."
"Wie oft wohl?"
"Viele hundertmal, möchte ich meinen."
"Und wie viele Stufen sind es?"
"Wie viele? Keine Ahnung!"
"Eben! Du hast sie gesehen, aber nicht beobachtet. Genau, was ich sage. Ich hingegen weiß, daß es siebzehn Stufen sind, weil ich sie nicht nur gesehen, sondern auch beobachtet habe (...)."

(arthur conan doyle, sherlock holmes-geschichten "ein skandal in böhmen"; manesse im dtv, münchen 1994; s.7, 10/11; isbn 3-423-24006-7)


was sich als zwanghafte kontrolle eines weitgehend sozial beziehungslosen mannes interpretieren lässt, der allerdings formale sozialkontakte perfekt simulieren kann. auch von einer freundschaft mit dr. watson kann eigentlich eher nicht die rede sein, da holmes durchgängig immer in einer dominanten und überlegenen, etwas herablassenden position gezeichnet wird, was nicht unbedingt eine freundschaft im eigentlichen sinne ausmacht.
sein berühmter gegenspieler prof. moriarty hingegen lässt züge eines intelligenten psychopathen erkennen, unterscheidet sich jedoch in seinen fähigkeiten interessanterweise nicht allzusehr von holmes, letztlich ist es nur der kontext, in dem sie beide ihre kognitiven wundermaschinen einsetzen, der sie voneinander trennt und sie zu gegenspielern macht.

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sehr eindringlich sind die bemerkungen von temple grandin zum sozialen leben:

"Da ich keinerlei soziale Intuition besitze, muß ich mich in meinem Verhalten von reiner Logik leiten lassen, so als gehorchte ich einem Computerprogramm. Ich ordne die (sozialen) Regeln entsprechend ihrer logischen Bedeutung ein. Es ist ein komplexer algorithmischer Entscheidungsbaum."

und jetzt kommt wieder so ein satz, der es in sich hat:

"Meine Entscheidungen beruhen ausschließlich auf Berechnung...Einer Person mit Autismus beizubringen, wie man sich in Gesellschaft anderer Menschen richtig verhält, ist so, als instruiere man einen Schauspieler für ein Stück. Jeder Schritt muß geplant werden...Ich kann mich sozial verhalten, aber das ist so, als spielte ich in einem Stück. Wiederholt haben mir Eltern erzählt, daß ihre autistischen Kinder eine großartige Leistung vollbrachten, als sie jemand anderen darstellten. Sobald das Stück vorüber war, kehrten sie in ihre Isolation zurück...Selbst heute noch sind persönliche Beziehungen etwas, was ich nicht wirklich verstehe."

(grandin zitiert nach mertz, s. 112)


das ist deutlich genug, wie ich finde. auf der deutschsprachigen seite von autismandcomputing findet sich übrigens ein regelrechter katalog mit vorschlägen und instruktionen für autistische menschen bezgl. allgemeinen sozialverhaltens. es klingt wirklich so, als würde sich jemand auf den erstkontakt mit einer völlig fremden kultur vorbereiten. assoziationen hierzu verkneife ich mir für den moment, die bekommen später ihren platz.

dazu finden sich auffälligkeiten und probleme mit den eigenen körperlichen grenzen sowie ein exzentrisches körperschema (definition weiter unten im beitrag).

"Autistische Menschen haben manchmal Probleme mit den körperlichen Grenzen. Sie sind unfähig zu beurteilen, wo ihr Körper endet und wo der Stuhl, auf dem sie sitzen, oder das Objekt, das sie in der Hand halten, beginnt."

(grandin, s. 208)


was sich ebenso als eine folge der beschädigten bzw. ausgefallenen wahrnehmungsfähigkeiten verstehen lässt. weitere aussagen von betroffenen, die das sehr deutlich machen:

„In siebenundzwanzig Jahren hatte ich oft meine eigenen Hände berührt. Es waren einfach Fleischklumpen, Blut und Knochen, die aufgrund von Form, Position, Funktion und Aussehen etwas darstellten, was wir „Hände“ nennen. Es gab keine emotionale Bindung an sie, kein Gefühl, dass sie mir persönlich gehörten, und das Berühren von Händen hatte keine Bedeutung. Es war einfach ein Zusammenstoß von zwei derartigen Objekten im Raum.“

Donna Williams, „Wenn du mich liebst, bleibst du mir fern.“, S. 185

"Daß ich ein äußeres Körpergefühl hatte, erlebte ich, indem ich sah und hörte, wo mein Körper sich befand. Mein inneres Körpergefühl war, wie alles andere, meistens mono. Wenn ich mein Bein berührte, spürte ich das entweder an meiner Hand oder an meinem Bein, aber nicht an beiden gleichzeitig. Ich nahm den ganzen Körper in Stücken wahr. Ich war ein Arm oder ein Bein oder eine Nase. Manchmal war ein Teil sehr deutlich da, doch der Teil, mit dem er verbunden war, fühlte sich so hölzern an wie ein Tischbein und genauso leblos.“

Donna Williams, Wenn du mich liebst, bleibst du mir fern, S. 320

„Warum ich so gern liege, will meine Mutter wissen. Wenn ich liege, verändere ich meine Lage wenig. Dabei habe ich mein Körperbild besser im Bewußtsein, als wenn ich herumlaufe. Ich bin mit meiner Aufmerksamkeit dann weniger gefordert. Wenn ich mich bewege, muß ich immer darauf achten, wie meine Lage im Raum gerade ist. Das bereitet Mühe. Wenn ich liege, spüre ich mein Rückgrat. Das hilft mir sehr, mich mit meinem Körper zu orientieren. Ich denke wirklich oft darüber nach, was mein Leben so schwer macht, und es wird immer deutlicher, dass ich mich nicht nur schlecht spüre, sondern auch meinen Körper nicht richtig für die Orientierung im Raum gebrauchen kann.“

Dietmar Zöller, 27. 4. 97


im bereits erwähnten interview vom harvard brain mit temple grandin im jahre 2000 finden sich weitere informationen über die autistische existenz. ein paar auszüge:

"HB: Fühlst Du Dich durch die Tatsache, daß Deine mentalen Prozesse Dir sichtbarer, irgendwie mechanischer?

TG: Einige der Wissenschaftler, die an künstlicher Intelligenz arbeiten glauben, daß sie einen Computer bauen können, der das Gehirn imitiert/dupliziert. Eine Menge Leute sagen, daß sie das nicht können. Ich fühle, daß es möglich ist, weil ich sehen kann, wie eine ganze Menge meiner Denkprozesse ablaufen.
(...)
TG: Das ist genau das, wie es mir ergeht. Ich bekomme keine Informationen von Gesichtern. Wenn ich mit jemandem am Telefon rede, ist das genauso gut, als würde ich ihn sehen; dort kann ich Nuancen auffangen. Dieser ganze Augen-Kram . . .

HB: Es ist wahr, Du schaust mich nicht an.

TG: Augen machen für mich überhaupt keinen Sinn."


und zu ihrer art des denkens sagt sie:

"HB: Der andere Vergleich ist zu Software und Maschinen -- zum WWW, dem Internet, Computern.

TG: Bevor ich den Computervergleich nutzte, sprach ich immer von Photos und Filmen in meinem Kopf. Der Grund, warum ich das Internet als symbolischen Vergleich verwende ist, weil dort draußen nichts anderes ist, was meiner Art zu denken ähnlicher wäre. Die Art, wie die Seiten assoziativ verlinkt sind ist exakt die Art wie ich denke.
Ich sage Leuten, wenn Ihr wirklich verstehen wollt, wie ich denke, warum geht Ihr dann nicht einfach ins Internet und tippt das Wort "Streetcar" ein. Fangt dort an, und seht mal, wohin es Euch führt."


das verhältnis zwischen computern und autismus wird noch genauer beleuchtet werden, es gibt dort verschiedenste zusammenhänge, die schlicht verblüffend sind. und die eine eindeutig bedrohliche komponente enthalten, ebenso wie diese aussage:

"Bei autistischen Personen ist inzwischen eine starke Tendenz, zu sagen, die Welt sollte sich ihnen anpassen."

eine welt, von der gewisse qualitäten einfach nicht wahrgenommen werden können, vor allem solche, die primär sinnlicher art sind und nicht nur im sozialen leben angesiedelt sein müssen:

"Und sie überraschte mich bei unseren Spaziergängen mit ihrer offenkundigen Unfähigkeit, die einfachsten Emotionen zu empfinden. `Die Berge sind hübsch´, sagte sie, `aber sie vermitteln mir kein besonderes Gefühl, wie Sie es anscheinend empfinden...Sie betrachten den Bach, die Blumen, und ich sehe, welch große Freude Ihnen diese Dinge machen. Das kann ich nicht empfinden."

(o. sacks zitiert nach mertz, s. 111)


und es geht hier wohlgemerkt nicht um individuelle vorlieben für diese oder jene landschaft. sondern um die welt im autistischen ichmodus, dessen eigenschaften von mertz auf vielen seiten in vielen facetten analysiert werden. und deutlich wird immer wieder vor allem eines, nämlich die objektwelt, die sich daraus ergibt. alles voll mit dingen, die ständig kontrolliert und manipuliert werden müssen (.u.a. zur angstabwehr). und möglicherweise stellen verschiedene varianten dieses ichmodus auch den kern der krankheiten des spektrums dar, welches unter dem begriff persönlichkeitsstörungen ein viel umzanktes diagnostisches kriegsgebiet bildet. existenzielle ängste spielen bei den meisten ps mit einer ganz wichtigen ausnahme ("echte" psychopathen, die sich aber auch unter dem label der antisozialen ps finden, nehmen nach neuerer forschung ängste durch ihre neurophysiologische struktur bedingt überhaupt nicht wahr, was ihnen leider sehr große handlungsspielräume verschafft; und lassen sich sozusagen als untergruppe der antisozialen ps kennzeichnen. dazu wird noch ein eigener beitrag folgen) eine zentrale rolle, und möglicherweise ist auch Ihnen als leserIn der effekt bekannt, dass das objektive bewußtsein in einem gewissen sinn angstreduzierend wirken kann - benenne und analysiere etwas, und es verliert ein stück seine fremdheit und mögliche bedrohlichkeit.

aber es sollte lediglich ein - nützliches - instrument sein, und nicht die ganze existenz ausmachen und beherrschen. das nämlich hat fatale folgen:

"Der Mensch erscheint in dieser mechanistischen Perspektive als eine Art mangelhafter Robot, dem im Vergleich zu anderen Robotern vielleicht noch ein paar mechanistisch formulierte Sonderleistungen zugestanden werden, die jedoch mittelfristig auch auf maschinellem Wege erbracht werden können. (...) Kurzum, es gibt einen Unterschied zwischen lebendigen und mechanistisch toten Ereignissen. Wer diesen Unterschied nicht kennt, ist de facto sehr krank, und zwar in einem sehr strengen, objektiv-wissenschaftlichen Sinne: Die entsprechende Symptomatik findet sich beispielsweise im autistischen und psychotischen Kontext und wird im Bereich extremer Antisozialität zu einem gesellschaftlichen Problem. In all diesen Fällen ist unter anderem auch diese Unterscheidung für die Betroffenen sehr unsicher oder unmöglich geworden. Diese mangelhafte Unterscheidungsfähigkeit entwickelt spätestens dann tragische Dimensionen, wenn eine lebendiger Mensch von einem anderen Menschen wie eine Sache, wie ein totes Ding behandelt wird, ohne daß sich der Akteur selbst an dieser kategorialen Todsünde, die in der Praxis nicht selten einen tödlichen Ausgang nimmt, irgendwie stören müßte."

(mertz, s. 160)


file under pannwitzblick. und ansonsten war es bisher in der zeit der existenz dieses blogs erschreckend einfach, für das, was oben von mertz beschrieben wird, fast täglich beispiele in den medien zu finden. kindermorde , abschiebungen und happy slapping lassen grüßen. unsere sozialen, hochkomplexen und mechanistisch-bürokratisch organisierten strukturen einerseits sowie ein zeitgeist mit betonung auf "flexibilität", simulierter sozialkompetenz und ignoranz von grenzen (auch von eigenen) sowie zeit und räumen andererseits lassen sich als produktionen des erwähnten objektiv-autistischen modus begreifen - eine megamaschine, die außer rand und band geraten ist.

*
insgesamt sollte jetzt bei Ihnen ein erster eindruck von ganz wesentlichen punkten des autistischen seinsmodus (ein begriff, der sowohl von betroffenen als auch von mertz benutzt wird) vorhanden sein, und ebenso eine ahnung davon, was daraus für mögliche folgen im sozialen leben entstehen können.

im zweiten teil wird es um die ursachendiskussion gehen, die vorhandene epidemiologie sowie komorbiditäten, gerade hinsichtlich ads und verschiedenen persönlichkeitsstörungen. meine persönlichen assoziationen und eindrücke aus der beschäftigung mit diesem thema werde ich vermutlich in einem dritten teil beschreiben.

Dienstag, 6. September 2005

basis: weitere (nötige) anmerkungen zu psychiatrischen diagnosen - und ein "fallbeispiel"

der angekündigte beitrag zu den verschiedenen autismusdiagnosen bzw. -definitionen ist in arbeit, wird aber noch etwas dauern. was andererseits auch die möglichkeit eröffnet, sich vorher noch einmal mit den grundsätzlichen problematiken psychiatrischer diagnosen zu beschäftigen. das folgende ist also als lockere fortsetzung dieses eintrages zu verstehen.

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wahrscheinlich hat sich der eine oder die andere von denjenigen leserInnen, welche sich schon - aus welchen gründen auch immer - näher mit solchen diagnosen beschäftigt haben, darüber gewundert, warum ich zwar die diagnosenklassifikation icd-10 erwähnt, bisher aber das für die tatsächliche diagnosenstellung in der psychiatrie womöglich relevantere "diagnostische und statistische manual psychischer krankheiten" dsm-IV der "american psychiatric association" aussen vor gelassen habe. dieses versäumnis soll hiermit beseitigt werden. es ist dabei imo schon bezeichnend, dass in diesem zweig der medizin gleich zwei diagnostische klassifikationen nebenher existieren (die inhaltlich durchaus längst nicht immer konform gehen), wobei formal in deutschland die icd die relevante ist. dementsprechend werden Sie, wenn Sie einmal auf irgendwelchen überweisungen oder unterlagen für die krankenkasse diagnostische codes sehen, immer nur die icd-codierung vor sich haben. das gilt letztlich auch für die psychiatrie, wobei hier manchmal auch dsm-codes in entsprechenden unterlagen zu finden sind, dann aber sozusagen "inoffiziell" (ich selbst habe in psychiatrischen krankengeschichten nur sehr selten entsprechendes gefunden).

trotzdem spielen die diagnostischen modelle des dsm-III-R (veraltet) und des aktuellen dsm-IV gerade in dem bereich von diagnosen, der mich vornehmlich interessiert - das, was ich im älteren artikel zum thema als beziehungskrankheiten bezeichnet habe (der begriff stammt nicht von mir, trifft es aber imo ziemlich genau) - eine wichtige rolle in dem sinne, dass durch diese modelle wesentliche inhalte und grenzen der betreffenden krankheitsbilder definiert werden (und insgesamt die diagnostischen konstrukte differenzierter dargestellt werden).
von daher also werde ich zukünftig auch die dsm-modelle heranziehen, um bestimmte dinge zu verdeutlichen. (vielleicht ist es für die leserInnen auch einmal interessant, selbst die bereits mit ihrer icd-codierung vorgestellten diagnosen mit den inhalten des dsm-IV zu vergleichen.)

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um aber nun nochmal auf ein grundsätzliches problem psychiatrischer diagnosen zurückzukommen, möchte ich ein recht langes beispiel aus dem buch "Die Neurosen der Chefs" zitieren, welches in eindrucksvoller weise auf einen schlag sowohl diagnostische probleme deutlich macht als auch weitere fragen zur psychophysischen verfassung derjenigen, die sich in dieser gesellschaft als "eliten" fühlen (und auch so aufspielen) aufwirft. das buch von jürgen hesse und hans schrader ist dabei, wenn ich es nun schon erwähne, als materialsammlung ganz brauchbar, von terminologie und auch teilweise den inhalten her aber schwer kritikwürdig, was imo größtenteils daran liegt, dass sich die autoren hauptsächlich an einer sehr orthodoxen art der v.a. psychoanalytischen krankheitslehre orientieren, die sich leider auch im dsm bis heute wiederfinden lässt. alleine der titel ihres buches ist imo bereits eine verharmlosung, weil es bei den thematisierten phänomenen - diversen persönlichkeitsstörungen - nur sehr begrenzt bis überhaupt nicht um neurosen geht. das mag als definitionsfrage betrachtet werden, dahinter stehen jedoch grundsätzlich verschiedene ansichten und konzepte über die betreffenden störungen, die es in sich haben. aber nun erstmal zum erwähnten fallbeispiel, bei dem es sich um eine authentische geschichte handelt - ich sehe keinen grund, den autoren hier keinen glauben zu schenken, auch wenn mir die originalquelle selbst nicht vorliegt.

im kapitel "Die Vielfalt der Persönlichkeitsstörung - Eine Anmerkung zur Fragwürdigkeit von Typologien" schreiben die beiden u.a.:

"Jede Typologie hat ihre Schwächen. (...) Die Komplexität und Vielfalt menschlicher Verhaltensweisen entzieht sich einem eindeutigen, einfachen Ordnungsversuch"

was einerseits sicher zutreffend ist, aber als dogma imo genauso gefahren birgt wie das andere extrem der zwanghaften zuordnungen. im obigen zitat steckt u.a. bereits eine extreme symptomfixiertheit, die unter umständen ein erkennen von grundsätzlichen strukturellen phänomenen bei einer persönlichkeit verhindert.

um das, was sie als "mischformen" von verschiedenen persönlichkeitsstörungen begreifen, deutlich zu machen, erwähnen sie

"...ein Fallbeispiel aus einer psychotherapeutischen Praxis, über das Johannes Cremerius , einer der renommiertesten Psychoanalytiker in Deutschland, in seinem Aufsatz `Die psychoanalytische Behandlung der Reichen und Mächtigen´ berichtet:

Ein großer, kräftiger Patient, Mitte fünfzig, betritt das Sprechzimmer (..) Er beginnt mit der Klage: Er könne einfach nicht mehr, wisse nicht mehr weiter, es habe alles keinen Sinn.

Der Patient berichtet von einem (...) Besuch bei seiner Frau, die seit Jahren von einer Nervenklinik zur anderen zöge und nicht wieder gesund werde (mit der diagnose einer depression, anm. mo). Seine Frau mache ihm Vorwürfe wegen der zerstörten Ehe und schöbe ihm alle Schuld zu - auch habe sie ihn angeklagt, für ihre Krankheit verantwortlich zu sein.
Am Abend nach diesem Besuch sei es dann noch zu einer dramatischen Auseinandersetzung zwischem ihm und seinem Sohn (dem einzigen kind, mo) gekommen, einem Studenten, der seit Jahren erfolglos studiere, dreimal das Fach wechselte, zuviel Alkohol trinke und linken Gruppen angehöre.(...)"


der patient beschreibt in der folge verschiedene vorwürfe des sohnes, der auf sein erbe verzichte und ihn nie wieder sehen wolle, dazu den vater sowohl für die eigenen als auch die probleme der mutter verantwortlicht macht, insgesamt den väterlichen egoismus und die neigung, alle probleme mit geld lösen zu wollen, für die zerstörung der familie schuldig spricht. der patient sieht sein lebenswerk - eine fabrik - sinnlos geworden ohne erben, weint heftig und lange und bitte den therapeuten um hilfe.

die folgenden ereignisse verdienen es, ungekürzt zitiert zu werden:

"Am nächsten Morgen - er hat nachts mit Hilfe eines Beruhigungsmittels geschlafen - ist er gefaßter, die Beichtstimmung hält jedoch an: Nach dem Krieg habe er den Betrieb aus dem Nichts aufgebaut, wobei ihm seine Frau geholfen habe. Aus Andeutungen ist herauszuhören, daß er zu den Menschen gehört, die in jener Zeit alle Maschen im Netz der Gesetzgebung benutzt und ausgenützt haben, um ihr Ziel zu erreichen. Seine unreflektierte Maxime ist: Es gibt nichts, was nicht geht, nichts, was ich nicht erreichen kann.

Als er es endlich geschafft hat, wirtschaftlich `ganz oben´ zu sein, übertrug er diese Philosophie auf sein Privatleben. Er befriedigte nun seine Machtansprüche auch in der Familie, nahm sich das Privileg heraus, seine sexuellen Bedürfnisse außerhalb der Ehe zu befriedigen.
Der Patient kann nicht verstehen, warum seine Maxime in der Familie versagt, daß die Ausnutzung aller Chancen und Vorurteile auf Schwierigkeiten stößt. Er, der das unmöglich scheinende möglich gemacht hat, soll jetzt an der Bagatelle scheitern, daß seine Frau und sein Sohn nicht manipulierbar sind.

Zum nächsten vereinbarten Gespräch kommt der Patient nicht, sondern läßt durch sein Sekretariat telefonisch mitteilen, daß er geschäftlich ins Ausland mußte. Einige Zeit später meldet er sich wieder, braungebrannt, jugendlich straff und voller Vitalität"


kleiner einschub: therapeutisch arbeitende jeglicher coleur würden wahrscheinlich - ohne weiteres wissen von diesem mann - in dieser situation anhand der anscheinend real und objektiv vorhandenen arbeitsfähigkeit und realitätstüchtigkeit fragen, was er denn überhaupt wolle...es wird aber noch deutlich werden, das gerade diese beiden eigenschaften, die tatsächlich wesentliche "offizielle" kriterien sog. psychischer gesundheit bilden, in einem fall wie diesem völlig in die irre bzw. am wesentlichen vorbei führen.

"Auf der Messe in M. habe er eine 17jährige Hostess kennengelernt, und sich heftig verliebt. Jetzt sei er gerade dabei, ihr eine Wohnung einzurichten, aber in einer anderen Stadt, weil er in seiner Heimatstadt bereits für eine andere Freundin eine Wohnung unterhält. Seine Sorgen und das Niedergeschlagensein sind verflogen. Nun wünscht er, mit dem Analytiker über die Möglichkeiten einer Psychotherapie für seine depressiv erkrankte Frau zu sprechen.
Einen derartigen Wechsel zwischen Depression und rascher Erholung gab es schon oft in seinem Leben. Seine Art, Menschen zu behandeln, dokumentiert sich auch in seinen Betrieben: Er zieht Menschen heran, wenn er sie braucht und läßt sie fallen, wenn er sie nicht mehr braucht, fördert sie, wenn es ihm nützt, wirft sie hinaus, wenn sie ihn enttäuschen.

Einen Monat später meldet er sich bei dem Psychoanalytiker wieder, diesmal mit deutlich angstgeprägter Stimmung - aber nicht in Bezug auf das, worüber er zunächst berichtet: Gegen ihn sei ein Gerichtsprozeß im Gange. Er soll dazu verurteilt werden, eine Entgiftungsanlage für die giftigen Abfallprodukte seines Betriebes zu bauen, die bisher ungefiltert in einen Fluß abgeleitet wurden. Diese Anlage koste einige Millionen, ihn aber nur ein Lächeln, berichtet er. Seine Anwälte zögen das Verfahren nämlich in die Länge, so daß er, wenn der Prozeß verlorenginge - womit er rechne - , bis dahin die Kosten für die Entgiftung eingespart habe. Mit diesem Betrag ließe sich dann die Anlage finanzieren, ohne Betriebskapital angreifen zu müssen.

Sein Problem läge ganz woanders: Seine Frau und sein Sohn hätten sich zusammengetan, um - so glaube er - gegen ihn zu operieren. Sie hätten in derselben Stadt, in der die Familie seit mehr als 20 Jahren lebt, eine gemeinsame Wohnung bezogen. Damit seien die internen Familienkonflikte offenkundig geworden. Er habe gehört, daß beide schlecht über ihn sprächen und alte Freunde gegen ihn aufbringen.
Es mache ihm Angst, daß er dies nicht beeinflussen könne, daß Frau und Sohn sich einfach seiner Macht entziehen. Ein Gefühl von Ohnmacht breite sich bei ihm aus.

Bei der nächsten Sitzung - drei Monate später - erbittet er vom Analytiker ein Gutachten zur Vorlage bei Gericht. Seine Freundin - die Hostess, der er erst kürzlich die Wohnung eingerichtet hatte - habe ihn mit Tripper infiziert. In seiner Wut hat er sie daraufhin grün und blau geschlagen und aus der Wohnung geworfen. Sie prozessiert nun gegen ihn und verlangt eine sehr hohe Schmerzensgeldsumme. Entsprechend der Empfehlung seines Anwalts bitte er nun um ein Gutachten. Der so angesprochenen Psychotherapeut lehnt ab. Auch das Angebot eines größeren Geldbetrages - selbstverständlich ohne Quittung - erzielt nicht den vom Patienten gewünschten Effekt. Wütend verläßt er die Praxis.
Einige Zeit später bekommt der Psychotherapeut einen Brief seines Patienten, in dem dieser ihm mitteilt, der Prozeß sei zu seinen Gunsten ausgegangen. Der Brief schließt mit den Worten: `Ich hatte recht, alles ist käuflich, auch ein medizinischer Gutachter´."


soweit diese beschreibung eines realen "falles", die hesse/schrader wie folgt kommentieren:

"Der in der Fallskizze dargestellte Typus leidet nicht an seiner Neurose, weil er andere leiden läßt, indem er seine Neurose ausagiert anstatt zu erkranken."

damit beschreiben sie ein sehr wichtiges prinzip und eine fatale eigenschaft dessen, was ich als beziehungskrankheiten bezeichne. das wort "neurose" finde ich, wie schon gesagt, hier als ausdruck einer veralteten terminologie und symbol eines nicht genügend weitgehenden verständnisses der struktur dieses mannes unangemessen. aber das prinzip "ausagieren statt zu leiden" ist etwas, was sich u.a. als überlebenstechnik verstehen lässt - zumindest eine mögliche form. die nicht zwangsläufig bei einer beziehungskrankheit vorkommen muß, und dazu nach meinem eindruck unter anderem von sozialen einflüssen wie geschlechtsidentitäten und klassenzugehörigkeit abhängig ist. weiter im kommentar:

"Der von Cremerius beschriebene Patient hat Anteile verschiedener Persönlichkeitsstörungen: Es finden sich Züge einer passageren depressiven Verstimmung, vor allem aber deutlich ausgeprägte aggressiv-autoritäre und rücksichtslose Verhaltensweisen mit starkem Machtinstinkt und einer gehörigen Portion Narzißmus, aber auch Sexsucht, Umwelt-Wirtschaftskriminalität sowie paranoide Tendenzen."

die autoren arbeiten bei ihrer diagnostik noch mit dem damals aktuellen dsm-III-R, welche anscheinend weder borderline noch die antisoziale ps besonders thematisiert (dieses manual kenne ich nicht sehr gut). nach den dargestellten symptomen und auch ihrer schnellen "sprunghaftigkeit" zu urteilen, gäbe es wohl heute genug "professionelle", die in richtung dieser diagnosen urteilen würde. aber auch das wäre vermutlich nicht tatsächlich treffend. wie würden Sie die beziehungsfähigkeiten dieses mannes beurteilen, bzw.: was wird über seine tatsächliche "beziehungsgestaltung" deutlich? ich komme bei der zugegebenermaßen selektiven darstellung zu dem schluß, dass von menschlichen beziehungen, die diesen namen auch verdienen würden, weit und breit nichts zu sehen ist - selbst der analytiker bemerkt die vielfältigen manipulativen tendenzen, zieht aber aus der imo sehr offensichtlichen unfähigkeit dieses mannes zu nichthierarchischen beziehungen überhaupt nicht die möglichen schlüsse, die sich daraus ergeben. hier ist jemand am gange, der mit menschen - so wie es dargestellt wird und er auch selbst berichtet - nicht anders umgeht als mit irgendwelchen objekten, was sich besonders, aber nicht nur, an der skizzierung der verhältnisse zu den erwähnten verschiedenen frauen, aber auch zu seinen arbeitern, deutlich machen lässt. und daraus wiederum lässt sich auf eine bestimmte form der selbst- und weltwahrnehmung schliessen, die - was noch gezeigt werden wird - in einer quasi reinform im autistischen spektrum zu finden ist. die oben erwähnten verschiedenen symptome würden aktuell zur folge haben, dass - je nach therapeutischer schule und auch, wie schon erwähnt, nach aktueller symptomatik - ein und der gleiche mann eine ganze latte an diagnosen bekommen könnte (was in der psychiatrie sehr verbreitet ist, aber auch in der ambulanten psychotherapie imo nichts ungewöhnliches darstellt). dieses starren auf positive symptome aber verhindert z.b. in diesem fall die wahrnehmung dessen, was sich bei diesem mann als grundsätzlich vorhandene beziehungsunfähigkeit und empathielosigkeit wie ein strukturelles muster durch die ganze fallbeschreibung zieht. oder mit den worten von mertz:

"Der einzelne Patient wird klassifikatorisch zerstückelt, man verteilt die Gesamtperson im vertikalen Querschnitt auf beliebig viele klassifikatorische Schubladen und lässt ihn auf der horizontalen Zeitachse von einer Schublade in die andere fallen."

(J.E.Mertz, "Borderline...", S.178, siehe literaturliste)


genau dieses vorgehen wird in der vorgestellten geschichte zumindest von hesse und schrader praktiziert, wenn sie am ende aus den zu beobachtenden symptomen schließen, dass es eine ganze vielzahl von persönlichkeitsstörungen in unterschiedlichem ausmaß bei diesem mann gibt. und diese art des diagnostischen blicks stellt bis heute den mainstream in der psychiatrischen oder auch psychotherapeutischen fachwelt dar. aber das bedeutet noch lange nicht, dass dieser blick tatsächlich in der lage ist zu fassen, was real vorhanden ist!

*

immer, wenn ich dieses fallbeispiel lese und mir klar mache, dass solch ein mann real existiert und dazu auch noch als vermutlich angesehenes mitglied der gesellschaftlichen "elite" unterwegs ist, wird mir jedenfalls ziemlich übel. erst recht, wenn sich jeden tag in x-beliebigen nachrichten verdammt ähnliche leute bei ihrem tun bzw. durch die konsequenzen ihres tuns wahrnehmen lassen.
es bleiben fragen: wieviele solcher leute sind unterwegs, wieviele sind in den hiesigen machtpositionen diverser art gelandet - und ist das, was dieser mann an eigenschaften präsentiert, die ihn zu einem wahren antisozialen musterbeispiel machen, womöglich eine vorbedingung oder nötige austattung an eigenschaften, in den bei uns vorhandenen gesellschaftlichen hierarchien überhaupt nach "oben" kommen zu können? das sind so fragen, bei denen mir ganz anders wird...

hesse und schrader beschliessen dieses kapitel mit der bemerkung:

"Jeder von uns hat Züge der genannten Persönlichkeitsstörungen, nur auf das mehr oder weniger kommt es eben an..."

(alle zitate aus: Hesse/Schrader, "Die Neurosen der Chefs", S. 159 - 162;
Piper TB, München 1996, ISBN 3-492-22229-3)


mal von der tatsache abgesehen, dass sie in ihrem buch die sich aufdrängenden implikationen aus dem thema nur am rande streifen, und stattdessen nicht mit ratschlägen für den individuellen umgang mit solchen leuten geizen, ist die obige bemerkung zwar auf den ersten blick einleuchtend - auf den zweiten jedoch wird darin ein menschenbild sichtbar, welches faktisch keinerlei qualitative, sondern nur quantitive unterschiede zwischen mir, Ihnen und dem dargestellten mann macht. und ich denke, es ist notwendig und berechtigt, sich dagegen grundsätzlich zu verwahren - ohne zu verdrängen, dass dabei tatsächlich ein realer kern enthalten sein wird - letztlich könnte sich selbst der ärgste soziopath niemals gegen den widerstand von vielen in irgendeiner machtposition halten, wenn er nicht mindestens toleriert werden würde - selbst von denen, die unter seinen handlungen leiden.
gleichzeitig macht das zitat auch unfreiwillig etwas über das grundsätzlich negative menschenbild der klassischen psychoanalyse deutlich - aber das ist eine andere baustelle.

Donnerstag, 11. August 2005

basis: weiteres am roten faden - oder aus der vergangenheit für heute lernen

"(...) Die Partei übernimmt die Funktion der bisherigen Gesellschaft, das ist es, was ich Ihnen klar machen wollte. Die Partei ist allumfassend. Sie regelt das Dasein in seiner ganzen Breite und Tiefe. Es ist daher notwendig, daß wir Gliederungen entwickeln, in denen sich das ganze Einzelleben abspielen muß. Jede Tätigkeit und jedes Bedürfnis jedes einzelnen wird demnach von der durch die Partei vertretenen Allgemeinheit geregelt. Es gibt keine Willkür mehr, es gibt keine freien Räume, in denen der einzelne sich selbst gehört (!). (...) Die Zeit des persönlichen Glücks ist vorbei (!!!). Wir werden dafür ein Gemeinschaftsglück empfinden. Gibt es etwas Beglückenderes als eine nationalsozialistische Versammlung, in der man sich eins fühlt, Redner und Zuhörer? Es ist das Glück der Gemeinsamkeit (...)"

(Hermann Rauschning, "Gespräche mit Hitler", S. 176 - 181; zitiert nach: Bloch, Charles: "Die SA und die Krise des NS-Regimes 1934", S.146/147, Suhrkamp 1970)


* (edit am 02.03.06: zum obigen zitat ist eine korrektur wegen der folgenden informationen dringend notwendig:

"Aus Rauschnings Werk "Gespräche mit Hitler" wurde lange Zeit von Historikern umfangreich zitiert. 1985 veröffentlichte der Schweizer Geschichtslehrer Wolfgang Hänel aber das Geständnis des Presseagenten und Verlegers Imre Révész (alias Emery Reeves), der den Exilanten Rauschning im Sommer 1939 in Zürich überredet hatte, seine Begegnungen mit Hitler mit möglichst vielen wörtlichen Zitaten aufzuschreiben. Dem kam der damals mittellose Rauschning nach, und es entstand ein Bestseller. Historikern wie Theodor Schieder war schon vorher aufgefallen, dass Rauschning mit Hitler keineswegs so eng befreundet war, wie er glauben machen wollte: Nur ganz wenige Begegnungen zwischen den beiden sind wirklich belegt, und alle fanden im öffentlichen Rahmen statt. Die Gespräche werden deshalb fast überall in der akademischen Forschung als Fälschung angesehen."

die oben zitierte wiedergabe aus einem ansonsten durchaus lesenswerten buch von c. bloch kann als beispiel für die erwähnte "umfangreiche zitierung" gelten - mir waren diese infos bis vor kurzem nicht bekannt, und deshalb möchte ich mich für das fehlzitat bei den leserInnen hier entschuldigen. vielleicht aber als anmerkung noch das: auch wenn rauschning also einen klassischen fake produziert hat, so ist doch die inhaltliche tendenz der hitler zugeschriebenen äußerungen imo nicht völlig an den haaren herbeigezogen - es existieren von diversen naziführern überlieferte (und verbürgte) äußerungen, die in ihrer tendenz auf ein ähnliches szenario hinauslaufen, wie rauschning es oben fiktiv hitler zuschreibt. dazu dürften seine ganz eigenen erfahrungen innerhalb des ns kommen, die er gleichfalls als inspiration für seine konstrukte genutzt haben mag. trotzdem rechtfertigt das keinesfalls eine direkte fälschung der art, wie ich sie oben zur ansicht stehenlasse.)*

zwei der grössten fehler bei einer beschäftigung mit dem nationalsozialismus (ns) sind imo diese: einmal das desinteresse bzw. die unfähigkeit dazu, den charakter des ns als den einer echten anti-utopie mit tatsächlich im wahrsten sinne des wortes wahnsinniger zielsetzung nachvollziehbar herauszuarbeiten. und zum anderen, die faszination eben dieses wahnsinns für viele zeitgenossen damals heute nachvollziehbar (soweit möglich) zu machen. und dergestalt a) ein echtes verständnis zu wecken und darüber b) letztlich auch resistenz gegenüber dieser faszination zu erzeugen. gerade diese faszination des ns wird heute immer noch stark tabuisiert - und das ist ein gefährlicher fehler, der sich noch einmal ganz böse bemerkbar machen könnte.

ich habe hier zwei zitate aneinander gestellt, in denen die beiden oben erwähnten aspekte deutlich werden: das hitler-zitat macht sehr deutlich, was mit dem wort "totalitär" bzgl. des ns gemeint ist - tatsächlich war die völlige auslöschung jeglicher individualität angestrebt! und die nazis haben auf ihrem weg dahin auch nicht gezögert. der sofort nach der machtübernahme beginnende ausbau der parteistruktur der nsdap zu einem parallelstaat, mit eigenen behörden und ämtern, die zu den "regulären" staatlichen institutionen sofort in eine teils erbitterte konkurrenz (was die zuständigkeiten und entscheidungsbefugnisse anging) trat, lässt sich als der erste schritt zum oben erwähnten ziel deuten.

der "nationalsozialistische geist" sollte derart in allen relevanten gesellschaftlichen bereichen fuß fassen und dadurch wirklich jeden "volksgenossen" zu einer reaktion zwingen, welche dann weitere maßnahmen nach sich ziehen konnte. wer einmal die gelegenheit hat,die flut von richtlinien, direktiven, anordnungen, denkschriften usw. zu besichtigen, mittels derer im ns auch noch die politikfernste frage oder alltägliche problemstellung angegangen worden ist, wird beeindruckt sein (ich bin´s jedenfalls immer wieder). es gab praktisch kein denkbares feld für die nazis - sei es nun der sport, die technik, die moralischen vorstellungen der leute oder auch ihr intimleben - bei dem nicht eine völlige transformation der bisher existierenden gesellschaftlichen normen und regeln auf dem plan gestanden hätte.

"die zeit des persönlichen glücks ist vorbei" - mag solcher ausspruch heute auch für die meisten (glücklicherweise) völlig absurd klingen, so war er doch vom harten kern der nazibewegung bitter ernst gemeint. ich nenne das anti-utopie pur. was stattdessen an diese stelle treten sollte, und in einem gewissen rahmen auch getreten ist, macht das folgende zitat deutlich:

"(...) Es gibt ein weiteres Schlüsselerlebnis für mich in der Hitlerjugend, von dem ich meine, daß es ganz typisch ist. Kein intellektuelles Erlebnis, aber es schließt an die Frage an, die Sie mir gestellt haben. Bei einer Sonnwendfeier hatte ich meinen ersten Orgasmus. Da war ich zwölf. Die ganze aufkommende Sexualität wurde umgelenkt auf diese Erlebnisse. Es war im Herbst 1933.

Ich erlebte die erste große Kundgebung der Hitlerjugend, der Jungen und Mädel zwischen 10 und 18. Es war in Hameln. Wir hatten uns versammelt auf einem Platz, die Fackeln wurden ausgeteilt, jeder kriegte eine. Das hatte ich bisher nur bei Erwachsenen gesehen. Dann mußten wir uns - was vorher sehr geübt worden war - aufstellen im Glied. Dann ging jemand um und steckte die Fackeln an. Ich erinnere mich noch an ein umheimlich tolles Gefühl von Weihe und Heiligkeit und unerhörter Verzauberung, wie ich dann dieses Feuer in der Hand hatte. Dann bewegte sich dieser ellenlange Zug durch Hameln, und die Leute standen am Straßenrand. Da sah man keine Gesichter, sondern nur eine unklare Mauer von Menschen. Und es waren viele, die am Straßenrand standen. Viele, viele - dieses Gefühl von vieIe“!

Das ist überhaupt bei mir mit diesem Erlebnis verbunden - von "unheim1ich viele“ und ein kleiner Bestandteil von etwas ungeheuerlich Großem zu sein! Die Reihen bewegten sich, voran hörte man die Musik, im Gleichschritt war ich als ein Glied dieses glühenden Zuges eingeschlossen. Und der Gedanke war in mir, dieses Gefühl, in dem alles sonst verbrennt: Wir, das sind wir. Und dann kommen wir ins Stadion. Fanferen schmettern von oben her. In der Mitte des Stadions brannte ein riesengroßer Holzstoß, auf der Tribüne waren Pylonen, mit Feuern, die ganze Tribüne war voller Fahnen. Die HJ hatte ja die rote Fahne mit dem weißen Querbalken in dem weißen Feld mit dem Hakenkreuz in der Mitte. Wir zogen an diesen lodernden Flammen, von denen die rotlodernden Fahnen nicht zu unterscheiden waren, vorbei, und jeder warf seine Fackel im Vorbeigehen in den großen Holzstoß hinein, jeder machte ihn so noch heller und heißer. Das Gefühl, ich werde selbst ein Teil von diesem großen Brand. Das ist mein Begriff heute. Ich habe das damals bestimmt nicht gedacht, aber empfunden. Ich konnte fast nicht mehr atmen vor Beklemmung, ich bin nun auch ganz besonders eindrucksfahig, das weiß ich, aber ähnlich haben das bestimmt alle empfunden, die dabei waren.

Ich habe nicht etwa das Gefühl von Ausgelöschtsein, sondern ganz im Gegenteil dieses Gefühl von Aufgehobensein gehabt. Und dann sind wir auf die Tribünen verteilt worden, das war ja alles glänzend organisiert. Es wurde langsam dunkler. Auf den Rängen in diesem Stadion standen sie nun alle, die Jungen in ihren braunen Hemden, die Mädel in weißen Blusen und dunkelblauen Röcken. Wir standen gegenüber von diesen Pylonen und Fahnen. Und da stand dann auch ein ganz großer Fanfarenzug. Und die spielten während des ganzen Einzugs. Das weiß ich noch. Es war so ein einziger, sehr gekonnter Eintopf von Musik und akustischen und optischen und was weiß ich für Eindrücken.

Sinnliche Eindrücke, das ist ganz wichtig! Und zwar mit Absicht sinnliche Eindrücke! Das war gekonnt gemacht. Und dann auf einmal schwiegen die Fanfaren, sank eine Stille über dieses Riesenstadion, in dem man nur noch das Feuer knistern ~ und den Lichtschein sich mit den Sternen am Himmel verbinden sah. Und einmal brachen diese Fanfaren los, mit einem einzigen Stoß, und die vielen hundert jungen Stimmen in diesem Stadion in dieser feuerlodernden Nacht jubelten hinaus: ... “....ein junges Volk steht auf zum Sturm bereit!“ Also wie ein Schrei! - Ein tolles Lied - "... zum Sturm bereit, reißt die Fahnen höher, Kameraden, wir fühlen nahen unsre Zeit, die Zeit der jungen Soldaten!“ Ich muß es beinahe singen!

(Doris K.: "Wer sich dem Reich verschrieb, ist ein Gezeichneter". Erinnerungen einer Frau vom Jahrgang 1924; in: Steinbach, Lothar: Ein Volk, ein Reich, ein Glaube? Ehemalige Nationalsozialisten und Zeitzeugen berichten über ihr Leben im Dritten Reich, S. 79/80; ISBN 3-8012-0084-1)


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"Von dem schmählichen Glauben, daß das Leben zur Lust da sei, von dieser echt jüdischen Lustseuche, will ein Unfaßbares in den Massen ja schon lange los; der `Himmel auf Erden´ zieht nicht mehr recht..."

(Alfred Rosenberg [chefideologe der nsdap] im Vorwort zu: Dietrich Eckart, Ein Vermächtnis; zitiert nach: Theweleit, Klaus "Männerfantasien", Bd. 2, Stroemfeld/Roter Stern 1985, S. 14)


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wie dieses neue "paradies", welches auf ganz bestimmten psychophysischen voraussetzungen gründete, zu denen auch eine unbedingte totale hierarchisierung zählte, für diejenigen aussah, die in dieser hierarchie nicht nur ganz unten standen, sondern über kurz oder lang mittels massenmord systematisch herausbefördert werden sollten, macht - neben einigen anderen sehr interessanten dingen - das folgende, schon berühmte zitat des italienischen auschwitz-überlebenden primo levi deutlich, der sich als chemiker eine zwangsarbeitsstelle im kz "ergattern" konnte, welche ihm das physische überleben gesichert hat:

"Pannwitz ist hochgewachsen, mager und blond; er hat Augen, Haare und Nase, wie alle Deutschen sie haben müssen, und er thront fürchterlich hinter einem wuchtigen Schreibtisch. Ich, Häftling 174 517, stehe in seinem Arbeitszimmer, einem richtigen Arbeitszimmer, klar, sauber und ordentlich, und mir ist, als müßte ich überall, wo ich hinkomme, Schmutzflecken hinterlassen.

Wie er mit Schreiben fertig ist, hebt er die Augen und sieht mich an.

Von Stund an habe ich oft und unter verschiedenen Aspekten an diesen Doktor Pannwitz denken müssen. Ich habe mich gefragt, was wohl im Innern dieses Menschen vorgegangen sein mag und womit er neben der Polymerisation und dem germanischen Bewußtsein seine Zeit ausfüllte; seit ich wieder ein freier Mensch bin, wünsche ich mir besonders, ihm noch einmal zu begegnen, nicht aus Rachsucht, sondern aus Neugierde auf die menschliche Seele.

Denn dieser Blick wurde nicht zwischen zwei Menschen ausgetauscht. Könnte ich mir aber bis ins letzte die Eigenart jenes Blicks erklären, der wie durch die Glaswand eines Aquariums zwischen zwei Lebewesen getauscht wurde, die verschiedene Elemente bewohnen, so hätte ich damit auch das Wesen des großen Wahnsinns im Dritten Reich erklärt.

Was wir alle über die Deutschen sagten und dachten, war in dem Augenblick unvermittelt zu spüren. Der jene blauen Augen und gepflegten Hände beherrschende Verstand sprach: `Dieses Dingsda vor mir gehört einer Spezies an, die auszurotten selbstverständlich zweckmäßig ist. In diesem besonderen Fall gilt es, festzustellen, ob nicht ein verwertbarer Faktor in ihm vorhanden ist.´ Und in meinem Kopf, gleich Kernen in einem hohlen Kürbis: `Die blauen Augen und blonden Haare sind von Grund auf böse. Jede Verständigung ist ausgeschlossen. Ich bin spezialisiert in Bergbau-Chemie. Ich bin spezialisiert in organischen Synthesen. Ich bin spezialisiert...."

(Primo Levi "Ist das ein Mensch?"; Hanser, München 1988; S. 112 - 113; ISBN 3-446-15 125-7)


der pannwitzblick ist irgendwann als begriff v.a. in der selbsthilfebewegung von behinderten menschen als synonym für einen durch und durch kalten, objektivistischen und selektierenden blick - oder besser, die mentalität - noch besser: einen bestimmten wahrnehmungsmodus hinter diesem blick - übernommen worden.

levi hat hier etwas beschrieben, dessen volle bedeutung sich erst dann erschliesst, wenn ein verständnis für menschliche möglichkeiten bezgl. der eigenen wahrnehmungsmodi vorhanden ist. ich möchte für den moment nur zwei punkte anmerken:

erstens spricht einiges dafür, den pannwitzblick als einen extrem autistischen blick im sinne von objektwahrnehmung und empathielosigkeit anzusehen.

zweitens aber: dieser blick ist eine allgemein menschliche option, die allerdings nur unter ganz bestimmten bedingungen im sozialen bereich aktiviert wird, wo sie definitiv wegen ihrer unglaublichen destruktiven potenz nicht hingehört. aber genau das letztere ist eben heute, hier und jetzt in dieser kultur nicht erst seit gestern der fall. die basis des naziwahns, die basis von auschwitz ist damit weiterhin als virulent und aktiv anzusehen.

Montag, 8. August 2005

basis: anmerkungen zur psychiatrie und ihren diagnosen

so. nehmen Sie sich zeit und entspannen Sie sich - es wird jetzt etwas kompliziert.

autismuskritik ist absicht dieses blogs - warum denn dieses? sind autistInnen nicht diese sprachlosen kinder, die ihren schädel ständig gegen die wand hämmern? oder jene liebenswert-exzentrischen asperger-autistInnen, die teils imponierende kognitive oder "kreative" fähigkeiten besitzen?

vergessen Sie solche und ähnliche klischees - es gibt autismus zwar a u c h in solchen erscheinungsformen wie oben skizziert, und mit derlei bildern wird autismus auch von vielen menschen assoziiert ( "rain man" und albert einstein lassen grüßen). tatsächlich aber gibt es plausible gründe und indizien dafür, autismus (als synonym für weitgehende bzw. totale beziehungsunfähigkeit und empathielosigkeit) bzw. autistische zustände als weit verbreiteten ausdruck bzw. möglichen mitverantwortlichen grund diverser katastrophaler gesellschaftlicher entwicklungen anzusehen. darunter besonders solche, welche die allgemein soziale und ganz konkret die zwischenmenschliche ebene von beziehungen aller art betreffen.

bevor wir darangehen können, uns das genauer anzuschauen, ist allerdings einige vorarbeit nötig. vorarbeit z.b. hinsichtlich des begriffs von psychiatrischen diagnosen.

ich werde im weiteren verlauf dieses blogs besonders auf folgende diagnostische begriffe immer wieder zurückkommen - angegeben ist der gerade jeweils gültige "offizielle" diagnostische code der aktuellsten deutschen icd-10 :
  • asperger-autismus F84.5
  • atypischer autismus F84.1
  • (alexithymie, ein begriff, der eher ein phänomen beschreibt - das nicht-lesen-können von gefühlen, welches sich durchaus auch zb. bei den autistischen störungen oder auch der schizoiden ps beobachten lässt. der begriff und seine benutzung sind aber durchaus interessant, daher taucht er hier auch auf.)
  • borderline (-persönlichkeitsstörung, -syndrom) *bps F60.3- (und folgende)
  • aufmerksamkeitsdefizitsyndrom *ad(h)s F90.0
  • posttraumatische belastungsstörung *ptbs F43.1
  • schizoide persönlichkeitsstörung F60.1
  • antisoziale bzw. dissoziale persönlichkeitsstörung (soziopathie) F60.2
  • narzisstische persönlichkeitsstörung *nps F60.8
  • dissoziative persönlichkeitsstörungen (bekannter als "multiple persönlichkeit") F44.- (und folgende)
ebenso ist es ganz nützlich, sich etwas unter dem begriff komorbidität vorstellen zu können - vor allem dann, wenn deutlich wird, dass psychiatrische diagnosen selten alleine kommen - asperger bspw. ist häufig mit ads als komorbidität gekoppelt und umgekehrt, borderline wiederum häufig mit ads, ptbs und der dissoziativen ps, dazu gibt es komorbiditäten mit nps und dem antisozialen spektrum. usw. usf.

hinter der obigen liste von diagnostischen begriffen verbergen sich neben teils wüsten und erbitterten auseinandersetzungen von psychiatern bzw. psychotherapeutInnen aller möglichen schulen ebenso unermeßliches leid - wobei der begriff "betroffene" bei einigen dieser diagnosen nicht so sehr die "eigentlich betroffenen" als vielmehr ihr jeweiliges engeres oder auch weiteres soziales umfeld meint -, als auch eine verwirrende vielzahl von definitionen und abgrenzungen, die teilweise eindeutig ideologischer art sind. dazu spielt das thema zwischenmenschlicher gewalt in ihren verschiedenen formen eine gewichtige, ja sogar zentrale rolle. und so ziemlich alle oben gelisteten diagnosen besitzen in ihren jeweiligen zentralen symptomen ein mehr oder weniger offen sichtbares moment an gewaltigen einschränkungen der beziehungsfähigkeit(-en) im weitesten sinne.

psychiatrie - ein fall für sich

wer sich die geschichte der westlichen institutionalisierten psychiatrie genauer anschaut, besonders ihre traurigen und negativen "höhepunkte" bspw. in gestalt der militärpsychiatrie , der nationalsozialistischen "euthanasie"-aktion "T4" sowie der willigen (selbst-)instrumentalisierung zur durchsetzung genormter begriffe von gesundheit und krankheit und der stigmatisierung alles davon abweichenden (von therapeutischen methoden wie schockbehandlungen und psychopharmaka gar nicht erst zu reden), wird nicht umhin kommen, gegenüber diesem ganzen bereich eine gesunde skepsis zu entwickeln. ließe sich nun klipp und klar sagen, dass die diagnostischen konstruktionen und modelle dieser institution gänzlich an den haaren herbeigezogen wären, so würde das etliches sicherlich einfacher machen. jedoch: trotz der kenntnis all der zweifelhaften bis völlig abzulehnenden seiten der orthodoxen psychiatrie ist es imo nachweislich so, dass es viele der in den diagnostischen katalogen erfassten phänomene tatsächlich gibt. und bis auf weiteres sehe ich kein anderes instrumentarium - auch keine andere sprache - zur verfügung stehen als eben das, welches der psychiatrie entstammt.

skepsis ist also sozusagen als grundhaltung angebracht. diagnostische konzepte zb. sind imo grundsätzlich als komplexitätsreduzierende modelle anzusehen, von denen es üblicherweise keinerlei modellgetreue 1:1-umsetzungen in der realität gibt. ebenso ist stets ein bestimmter gehalt an - meist gesellschaftstragender - ideologie miteinzubeziehen, genauso wie die regelmässig unterschlagenen subjektiven motivationen und einschätzungen, die in derlei modelle einfließen.

aber wie schon gesagt: ich halte trotz allem immer weniger davon, das, was als "wahnsinn" in dieser kultur bezeichnet wird, zu verharmlosen oder zu glorifizieren. eine besonders aus den linkeren teilen des politischen spektrums stammende sichtweise, die sich teils auch in der sog. antipsychiatrie manifestiert hat (und theoretisch stark von leuten wie michel foucault beeinflusst wurde), hat sicher in bestimmten bereichen der psychiatriekritik notwendiges geleistet. aber mit der konstruktion eines bildes vom wahnsinnigen menschen als quasi heroischem outdrop, der mit seiner verrückten art ein mörderisches system ins leere laufen lässt, an die stelle berechtigt demontierter mythen letztlich nur neue gesetzt. und das könnte ein gewaltiges eigentor in der hinsicht gewesen sein, dass sich eine progressiv gemeinte linke psychiatriekritik damit unfreiwillig an der vernebelung äußerst bedrohlicher gesellschaftlicher entwicklungen beteiligt. (ein strukturell ähnliches phänomen lässt sich im übrigen auch an der bis heute in gewissen linken kreisen üblichen verharmlosung bzw. glorifizierung von (historischen) piraten aufzeigen -in der realität ist es so, das die weitaus meisten piraten bis heute durchaus treffend als mörder, plünderer und vergewaltiger bezeichnet werden können, denen ihre soziale mitwelt schlicht am arsch vorbeigeht. piratenflaggen mögen zwar etwas "verwegenes" transportieren, sind jedoch faktisch ein symbol für massiv antisoziales verhalten.)

das alles ist als notwendige einführung meiner meinung nach nötig. auch, um etwas deutlicher zu machen, aus welchen perspektiven ich hier schreibe.

ein weiteres: viele detaillierte informationen zu den einzelnen diagnostischen konzepten, gerade über die jeweiligen auseinandersetzungen dazu, kann ich hier nur fragmentarisch und in einzelfällen einbringen. die vorhandene literatur zu den hier thematisierten bereichen füllt ganze bibliotheken. und der/die interessierte leserIn sei deshalb zum einstieg an die hier geposteten links verwiesen.

Donnerstag, 4. August 2005

einstieg, querbeet am roten faden

Dr. Smith schenkte Mr. Patson ein dünnes Lächeln. "Sie meinen die Idee eines Prinzips des Bösen, das es darauf abgesehen hat, die Menschheit zu ruinieren?"
"Ja", erwiderte Mr. Patson. "Firbright sagte, das die Vorstellung eines scharlachroten oder schwarzen Schwefelteufels, der damit beschäftigt ist, die Leute in Versuchung zu führen, natürlich völlig falsch sei, obwohl sie früher einmal, vielleicht im Mittelalter, richtig gewesen sein mag. Damals waren die Teufel ganz und gar Feuer und Energie. Firbright zitierte den Dichter Blake - ich habe ihn inzwischen gelesen -, um zu zeigen, daß dies keine wirklichen Teufel und ihre Hölle nicht die wirkliche Hölle war. Blake wies, nach Firbrights Meinung, tatsächlich als erster darauf hin, daß wir das Prinzip des Bösen nicht verstünden, aber zu seiner Zeit war es noch kaum in Erscheinung getreten. Erst in den letzten Jahren, sagte Firbright, habe diese schreckliche Macht richtig auf uns einzuwirken begonnen."

"Auf uns einzuwirken?" Dr. Smith hob seine Augenbrauen. "Indem sie was tut?"
"Das Hauptziel, wie ich Firbrights Worten entnommen habe", antwortete Mr. Patson ernst, "besteht darin, die Menschheit den Weg der sozialen Insekten gehen zu lassen, uns in Automatenwesen, Massenkreaturen ohne Individualität, seelenlose Maschinen aus Fleisch und Blut zu verwandeln."
Der Doktor schien amüsiert. "Und warum sollte das Prinzip des Bösen das tun wollen?"
"Um die Seele der Menschheit zu zerstören", sagte Mr. Patson, ohne das Lächeln zu erwidern. "Um bestimmte Geisteszustände auszumerzen, die ein wesentlicher Bestandteil des Guten sind. Um vom Angesicht dieser Erde alles Wunderbare zu tilgen: Freude, tiefes Gefühl, das Bedürfnis, schöpferisch zu sein und das Leben zu preisen. Wohlgemerkt, so hat es Firbright erklärt."
"Aber Sie glaubten ihm?"
"Ich konnte mich des Gefühls nicht erwehren, selbst damals nicht, daß etwas daran war. Ich habe früher nie in dieser Richtung gedacht - ich bin nur ein einfacher Geschäftsmann und neige nicht zu phantastischen Spekulationen -, aber ich hatte seit einiger Zeit das Gefühl, daß die Dinge falsch liefen und daß sie irgendwie unserer Kontrolle entglitten zu sein schienen. In der Theorie, nehme ich an, sind wir für die Art von Leben, das wir führen, verantwortlich, aber in der tatsächlichen Praxis stellen wir fest, daß wir mehr und mehr ein Leben führen, das uns nicht gefällt."


(J.B. Priestley, Die Grauen; Dtsche. Erstveröffentlichung 1992 in: Mehr Horror, Diogenes, ISBN 3 257 22489 3)

***

"Wenn es ein Phänomen wie das absolut Böse überhaupt gibt, dann besteht es darin, einen Menschen wie ein Ding zu behandeln."
(John Brunner, Der Schockwellenreiter)

***

"Wir blicken auf die Megamaschine der Moderne mit ihren explodierenden, implodierenden und zunehmend konvergierenden Mechanismen (`Globalisierung´), also auf dieses ganz und gar Gemachte, Artefaktische, wie auf ein `Natur´-Ereignis, das mit der unberechenbaren Eigendynamik einer Urgewalt über uns hereinbricht und nur noch durch bedingungslose Unterwerfung einigermaßen `beherrscht´ werden kann. Gleichzeitig verwandelt sich die ganze Welt der authentischen Person und ihrer Beziehungen in ein bewußt Gestaltbares, Machbares, Herstellbares: Wir kompensieren unsere sklavische Unterwerfung unter das Diktat der mechanistisch-toten Anonymität durch heroische Selbstgestaltungen, die in dieser Form gar nicht realisierbar sind. Auch wenn uns unsere Welt zunehmend entgleitet, und zwar in entwürdigender Weise, so versuchen wir doch alles, um wenigstens noch eine `gute Figur zu machen´.
Der spätmoderne Mensch präsentiert sich, auf allen Ebenen der Intellektualität, Weltmächtigkeit und auch im Privaten, als ziemlich lächerliche und realitätsflüchtige Figur. Die mentale Selbnstversklavung des spätmodernen Typs in Gestalt der erniedrigenden und hoffnungsfrohen Unterwerfung unter den Terror der anonymen Mechanismen und des autistischen Objektivs kann durch nichts in der Welt kompensiert werden."


(J. Erik Mertz, Borderline - Weder tot noch lebendig; S. 311; Enke, 2000, ISBN 313-125951-5)

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