basis: borderline

da die zeit heute bereits mit dem zweiten artikel zum thema borderline diese woche herauskommt, nutze ich das dann gleich mal für einen schwerpunktbeitrag. dabei wird es mir weniger darum gehen, die an vielen anderen virtuellen stellen zu findenden "offiziellen" informationen hier nocheinmal wiederzugeben - interessierte seien z.b. auf den infoteil der borderline-community (siehe linkliste), die momentanen definitionen der diagnosenklassifikationen (dito) oder auch seiten wie die borderline-plattform oder das borderline-netzwerk verwiesen. zur entwicklung des begriffs und der diagnose gibt es hier eine zusammenfassung.

da ich selbst einige jahre "offiziell" mit dieser diagnose herumgelaufen bin (inzwischen ebenso "offiziell" nicht mehr), etliche gleich diagnostizierte menschen kennengelernt habe und dazu auch noch diverse ansichten und handlungsweisen von psychotherapeutInnen und psychiatrischen ärzten/fachkräften studieren konnte, schreibe ich hier also auch primär vor dem hintergrund eigener erfahrungen und den schlüssen, die ich heute daraus ziehe. der aktuelle artikel sowie ein älterer zweiter, auf den ich später zurückkomme, sind dabei ganz gute aufhänger, um die eben erwähnten schlüsse darzustellen.

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der artikel in der zeit ist dabei einer der wenigen mir bekannten, der sich zumindest bemüht, tiefer ins thema einzusteigen. und dabei aber aus gründen, die ich der autorin weder vorwerfen kann noch möchte, ebenso zwangsweise scheitert wie sogar diverse fachpublikationen.

etliche wichtige themen im bl-kontext werden ohne besondere reihenfolge angerissen - ich halte mich jetzt mal einfach an den artikel.

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"Die Theorie besagt, dass Selbstverletzungen den Betroffenen helfen, eine schier unerträgliche emotionale Spannung abzuleiten. Die Kranken sind gewissermaßen so außer sich, dass sie sich Schmerz zufügen müssen, um in die Gegenwart »zurückzukommen«.

hier hätte es heissen müssen: eine theorie unter mehreren. erstens ist "selbstverletzendes verhalten" (svv) nicht auf borderline beschränkt (auch autistische menschen sowie traumatisierte können dieses symptom entwickeln); zweitens taucht es nicht zwangsläufig bei borderline auf; drittens können die formen stark variieren (das "ritzen" ist dabei in gewisser weise eine der spektakulärsten und zugleich für die umgebung beunruhigendsten arten von svv); viertens sind die zusammenhänge zu - von der form her gleichartigen - initiationsriten anderer kulturkreise sowie die fließenden grenzen in die bereiche von extrempiercing und -tattoing imo noch nicht genügend untersucht; fünftens kann svv durch die eigenart der beteiligten psychophysischen prozesse - u.a. extreme endorphinausschüttung - im strengen sinne des wortes zur sucht werden; sechstens lässt sich das benannte "außer-sich-sein" als dissoziation begreifen; siebentens aber lässt sich auch die frage stellen, ob der begriff selbstverletzung überhaupt treffend ist:

"Im Grunde genommen dürften wir (...) gar nicht mehr von Selbstverletzung sprechen, erstens, weil die Verletzung nur bedingt ein Selbst trifft, sondern eher etwas nicht Ichhaftes (Fremdkörper als Außenweltsegment), zweitens deshalb, weil die vermeintliche Verletzung subjektiv-erfahrungsmäßig meist gar nicht als Verletzung im eigentlichen Sinne beabsichtigt ist und auch nicht so funktioniert, sondern eher wie die Einnahme eines Medikaments oder wie ein psychochirugischer Eingriff. Die angebliche Verletzung des "Selbst" ist ein rein objektiver Beobachterbegriff, der sofort (falsche) Assoziationen aus dem authentischen Erfahrungsspektrum aufruft und dem "auto"-destruktiven Akteur beharrlich übergestülpt wird, auch wenn der Akteur absolut nichts dergleichen im Sinn hat. Subjektiv-erfahrungsmäßig handelt es sich weder um Verletzungen noch um ein verletztes Selbst, sondern um gezielte Interventionen, d.h. regulierende Eingriffe in ein Fremdkörper-Geschehen, d.h. in ein nichtichhaftes Geschehen."

(j.e. mertz, "borderline...", s. 177; siehe literaturliste)


das, was mertz hier abstrakt ausdrückt, können Sie selbst an sich nachvollziehen: stellen Sie sich einfach vor, Sie hätten ein messer oder eine brennende zigarette in der hand und wären dazu aufgefordert, sich jetzt selbst schmerzen zuzufügen. nun? was nehmen Sie wahr? wie fühlt sich diese vorstellung an?

aus eigener erfahrung tippe ich darauf, dass Sie einen mehr oder weniger deutlichen, mehr oder weniger diffusen und primär körperlich fühlbaren widerwillen gegenüber dieser vorstellung wahrnehmen, vielleicht sogar eine art ekel, und das es unmöglich und völlig absurd erscheint, die geforderte aktion auszuführen. meiner meinung nach ist das ein (nicht das einzigste und entscheidende) indiz für psychophysische gesundheit.und macht gleichzeitig deutlich, wie verschoben gewisse verhältnisse und funktionen in der körperpsyche sein müssen, um zu so einem handeln zu kommen. Sie müssen sich tatsächlich in eine fiktive aussenposition jenseits des eigenen körpers begeben, die wahrnehmungsmässig als die "tatsächliche realität" empfunden wird, um den eigenen körper als objekt zu sehen - und derart die eben benannten und (hoffentlich) von Ihnen selbst gespürten widerstände zu umgehen. oder in mertz´scher terminologie: Sie müssen den eigenen körper als fremdkörper empfinden - und sich damit in eine strukturell autistische position der fiktiven körperlosigkeit bringen. ich kann mir keine andere allgemeingültige grundvoraussetzung für derlei aktionen vortellen.die für die betroffenen allerdings tatsächlich sinn machen und erleichternd wirken können. dabei scheint es übrigens weniger auf den reiz an sich anzukommen - einige spezielle borderlinetherapieformen arbeiten mit sog. skills, zu denen auch "ersatzangebote" für svv wie z.b. reizsetzung durch eisbeutel, scharfe gewürze im mund, kalte duschen u.ä. gehören - sondern tatsächlich primär um die tatsache, das eigene blut fließen zu sehen (was insbesondere psychoanalytische bl-professionelle schon zu einigen spekulationen zur symbolik veranlasst hat). das könnte auf eine ins symbolische verschobene re-inszenierung eigener erfahrener traumatischer verletzungen hindeuten, mit dem gleichzeitigen effekt eines entgegenwirkens gegen die damit verbundenen dissoziationen. wie gesagt: könnte.

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weiter im artikel:

"In der medizinischen Diskussion wird die Persönlichkeitsstörung Borderline mit einer ungünstigen Kombination biologischer und sozialer Faktoren erklärt: Wer genetisch vorbelastet ist, als Embryo im Mutterleib durch Alkohol geschädigt wurde und in der Kindheit oder Jugend ein tief verstörendes Erlebnis hatte – sexuellen Missbrauch oder Vergewaltigung –, ist besonders gefährdet. Ähnlich verheerend wie ein sexueller Übergriff können totale Missachtung, Abwertung oder Überforderung von Kindern durch ihre Eltern wirken."

soweit zustimmung, wenngleich ich das als zu einschränkend/ungenau empfinde: die genetische disposition dürfte überhaupt erst durch ungünstige soziale einflüsse aktiviert werden, vielleicht sogar schon pränatal; und ebenso ist pränatal ist nicht nur alkohol, sondern auch z.b. eine die meiste zeit der schwangerschaft dem kind gegenüber ablehnende mutter durch psychophysische beeinflussung z.b. mittels hormonen und neuropeptiden auf den embryo in der lage, psychophysiologische schäden bereits während des wachstums der allergrundsätzlichsten (wahrnehmungs-)fähigkeiten und anatomischen ausstattung zu erzeugen. vielleicht macht das geschehen in der pränatalen phase sogar den grundsätzlichen unterschied zwischen einer posttraumatischen belastungsstörung und borderline aus. beide diagnosen tauchen sehr häufig jeweils als komorbidität der anderen auf, und zwischen psychotraumatologie und bl-forschung ist immerhin seit ein paar jahren ein lebhafter austausch im gange. ich selbst war bis zum letzten jahr ebenfalls dem standpunkt zugeneigt, der da sagt, dass sich letztlich alle bl-diagnosen als besonders schwere und chronifizierte fälle von ptbs herausstellen würden. aber inzwischen denke ich, dass das zwar in etlichen fällen tatsächlich zutreffen dürfte, aber eben nicht in allen. die gewohnheitsmässige psychiatrische vertuschung und individualisierung von durch gesellschaftlich produzierter gewalt erzeugten traumatischen folgen spielt bei diesem ganzen themenbereich eine erschwerende rolle und erhöht die allgemeine konfusion.

"In gewisser Weise hat Borderline die klassische Hysterie als seelische Frauenkrankheit abgelöst; mindestens siebzig Prozent der Betroffenen sind weiblich. Überwiegend tritt die Krankheit oder eine ihrer Vorstufen zwischen dem 12. und 45. Lebensjahr auf; von allen Frauen in dieser Altersgruppe sind laut Schätzungen gut vier Prozent betroffen. Männliche Erkrankte richten ihre Ausbrüche eher gegen die Außenwelt als gegen sich selbst. Sie sind häufiger in Gefängnissen zu finden als in Krankenhäusern – auch wenn ihre Störung die gleichen Ursachen hat wie die der Frauen."

dieser frauen"überhang" ist einer der interessantesten aspekte beim nachdenken über borderline, wie ich finde. und er kann sehr verschieden interpretiert werden - eine eher psychotraumatologische interpretation wäre z.b. die, dass ebenso wie früher die "hysterie" heute borderline die funktion erfüllt, besonders sexualisierte gewalt gegen frauen und mädchen und die daraus entstehenden traumata durch eine diagnostische konstruktion quasi unter den teppich zu kehren. ich denke auch, dass da was dran ist. aber ist das alles? als professioneller outsider in der bl-diskussion schmeisst wieder der herr mertz einige verstörende gedanken in den ring - vor dem hintergrund eigener gedanken zum autonomiebegriff der westlichen gesellschaften allgemein und der westlichen psychiatrie/psychologie im besonderen, den er scharf kritisiert und einerseits als (reale) scheinautonomie (die reale und dauernde menschliche abhängigkeiten permanent leugnet) analysiert und andererseits als (quasiautistische) fiktion bezeichnet, schreibt er zur auffälligen frauenquote:

"Die allgemeine Erwartung geht dahin, daß Frauen im (inter)personalen Feld wesentlich mehr und anderes leisten sollen bzw. "von Natur aus" können (sollen) und wollen (sollen). Dieser immer wieder auch ziemlich konkrete Handlungsdruck, der auf die durchschnittliche Frau ausgeübt wird, trifft die borderlinekranke Frau doppelt.
Einerseits verfügt sie genau in diesem interpersonalen Bereich über keinerlei authentische Fähigkeiten, andererseits wird sie wegen der fehlenden (authentischen) Biographie stark außenorientiert sein und ihren eigenen Persönlichkeits- bzw. Lebensentwurf entlang irgendwelcher, u.U. häufig wechselnder Fremdvorgaben modellieren (externales Korsett). Die borderlinekranke Frau erlebt diese verschärften authentischen Anforderungen konkretistisch, d.h. die Anforderungen werden als eine objektive Aufgabenstellung von quasimaterieller Eindringlichkeit erlebt. Da sie über keine authentischen Optionen verfügt, gerät sie als interpersonal Simulierende unter verstärkten Druck, ihre simulative Kompetenz wird dabei wesentlich heftiger herausgefordert, genauer beobachtet und strenger beurteilt als (...) beim männlichen Borderlineautisten."

(mertz, "borderline..."; s.150/151)


mit anderen worten: die gesellschaftlichen anforderungen an frauen, bei denen die liebes- und beziehungsfähigkeit, empathie und der sinn für´s soziale quasi "naturgegeben" sein sollen, können gerade von bl-kranken frauen (borderline ist ebenso wie andere diagnosen primär als beziehungskrankheit am besten auf den punkt gebracht) aufgrund ihrer defekte nicht erfüllt werden, werden aber bei der eigenen identitätskonstruktion primär verwendet. was sich dann z.b. katastrophal auswirken könnte, wenn eine solche frau ohne reale (emotionale) basis sich die rolle einer mutter anhand rein äusserer vorgaben (muttersein z.b. als unbedingte erfüllung für jede frau) konstruiert - zu lesen ist das in der mitte dieses beitrags. nicht umsonst wird bei misshandelnden müttern öfter die bl-diagnose gestellt.

und die männer? zu denen später.

"In Kiel wie anderswo wird die Diagnose Borderline anhand eines Neun-Punkte-Katalogs gestellt: Panische Angst vor dem Alleinsein gehört dazu, ein düsteres Selbstbild, Selbstmordgedanken und -versuche; schwer kontrollierbare Wutausbrüche, eine Neigung zum verschwenderischen Geldausgeben, Drogen- oder Alkoholmissbrauch, ein Gefühl der Leere – und die gefürchteten »dissoziativen Zustände«, in die Traumatisierte geraten, wenn sie durch einen beliebigen Auslöser an ihr schlimmes Erlebnis erinnert werden. Wer fünf der neun Kriterien erfüllt, gilt als Borderline-positiv.

das starren auf positivistische und objektivierbare symptome also. nicht nur von mertz, auch von anderen autorInnen in der borderlineliteratur wird hingegen auf die wahrscheinliche existenz eines blanden (= frei von massiven symptomen) borderlinetyps hingewiesen, der den psychiatrischen institutionen kaum bekannt wird und sich hingegen aufgrund der massiven unfähigkeit zu authentischen (nichthierarchischen) beziehungen in den heutigen gesellschaftlichen eliten und institutionen mit ihren simulationen von zwischenmenschlichen beziehungen (als-ob) bevorzugt wohl fühlen dürfte. (worin er oberflächlich den echten psychopathen gleicht. aber hier denke ich, dass beides nicht gleichzusetzen ist, auch wenn sich die durch beide gruppen hervorgerufene destruktivität sehr ähnelt. mehr dazu in einem zukünftigen schwerpunkt psychopathie).

der folgende abschnitt macht schlaglichtartig ein paar wichtige strukturen deutlich:

"Dann habe sie Rasierklingen gekauft. »Das war ja auch ein schweres Wochenende für Sie«, sagt die Psychologin. »Was war da passiert?« Melanie K., körperbehindert, vom Onkel sexuell missbraucht, geplagt von inneren Stimmen, die auf sie einbrüllen, erzählt von ihrer Mutter, die sich mit der Krankheit der Tochter nicht abfinde. Von einem nervenaufreibenden Drei-Stunden-Termin mit dem Sozialpädagogen in der betreuten Wohneinrichtung, in die sie nach Ende des DBT-Programms ziehen wird. Von der Beziehung zu ihrem Freund, der Alkoholiker ist.
Der Freund mache ihr Vorhaltungen: Er trinke, weil er durch ihre Krankheit viel allein sei. Bei dem Versuch, mit ihm zu schlafen, fühlte sie sich schlagartig in die Missbrauchssituation zurückversetzt, sagt Melanie K. »Ein Flashback. Es war, als ob ich das alles gerade eben erst durchgemacht hätte.«


erstens wird ein nach meiner persönlichen erfahrung häufig vorhandenes problematisches bis offen schlechtes verhältnis zur mutter sichtbar. zweitens aber wird hier umstandslos von einer "beziehung" geredet - und das könnte hinsichtlich borderline einer der zentralsten irrtümer überhaupt sein, weil "beziehung" erstmal korrekt definiert werden muss, und nicht alleine schon deshalb automatisch vorhanden ist, weil zwei menschen "objektiv" zusammen sind:

"Das DSM-IV betont zurecht die borderlinespezifischen Probleme, die sich im Kontext personaler Beziehungssituationen ergeben. Der diagnostische Kriterienkatalog wird folgerichtig von zwei Beziehungssymptomen angeführt. Kriterium Nr. 2 nennt `ein Muster instabiler, aber intensiver zwischenmenschlicher Beziehungen, das durch einen Wechsel zwischen den Extremen der Idealisierung und Entwertung gekennzeichnet ist´. Auch diese Definition enthält einen schweren und verhängnisvollen Fehler: Nicht alles, was zwischen zwei Menschen passiert, verdient den Namen Beziehung. Extreme Idealisierung und extreme Entwertung haben mit Beziehungen eigentlich auch nichts zu tun, das sind zumindest massive Beziehungshindernisse, wenn nicht gar deutliche Zeichen dafür, daß eine Beziehung im engeren Sinne eben nicht vorhanden ist. Wenn eine Interaktion zwischen zwei Menschen stattfindet, so heißt das noch lange nicht, daß es sich um eine interpersonale Beziehung im üblichen Sinne handelt: Wir wissen mit Sicherheit aus unserer Alltagserfahrung, aber auch aus wissenschaftlichen und anderen Fremdquellen, daß Menschen keinesfalls zwangsläufig wie Menschen behandelt und Personen nicht unbedingt immer als Personen wahrgenommen werden müssen, daß also zwei Menschen interagieren können und sich dabei womöglich interpersonaler Formen bedienen, in Wirklichkeit aber etwas ganz anderes abwickeln, etwa ein anonymes Geschäft, einen ebenso anonymen bürokratischen oder juristischen Akt oder eine anonyme medizinische Intervention. (...) Das DSM (...) ist stumpf gegen diese fundamentale Differenz (zwischen personaler Beziehung und personaler Nicht- oder Pseudobeziehung), die am Anfang und im Zentrum jeder ernstzunehmenden Psychologie und Psychopathologie steht."

(mertz, "borderline...", s.39/40)


u.a. wegen solcher seitenhiebe wie im letzen satz dürfte dieses buch bis heute von den kollegInnen von mertz in der professionellen zunft totgeschwiegen werden...aber ändert das etwas daran, dass er hier sehr einleuchtend tatsächlich argumente für eine absolut notwendige unterscheidung zwischen simulation und authentizität, zwischen pseudo und echt, zwischen als-ob und lebendig liefert? ist das "objektive zusammensein" zwischen einem mörder/vergewaltiger und seinem opfer, zwischen gewalttätigen eltern und ihrem geprügelten kind, zwischen folterer und gefangenen, zwischen versuchsleiter und versuchsobjekt(!) tatsächlich das gleiche wie ein liebevoller und zärtlicher, solidarischer umgang zwischen menschen, die sich gegenseitig als subjekte wahrnehmen und deshalb ihre gegenseitigen grenzen respektieren können?

natürlich nicht. genausowenig wie die oft zu beobachtenden "beziehungen", die anscheinend durch ein "gleichgewicht des schreckens" funktionieren. ist der oben im zeitartikel skizzierte freund, der der frau die verantwortung für seinen alkoholismus zuschiebt und sich entweder nicht für ihre geschichte interessiert und/oder sie schlicht nicht als person wahrnehmen kann, tatsächlich ein liebevoller freund in einer authentischen beziehung? oder zeigt nicht alleine schon dieser kleine ausschnitt, dass er - wie viele andere männer, aber auch frauen - eher eine selbst konstruierte fiktion in seinem kopf "liebt", die mit der realen frau - die dann nur noch als projektionsfläche bzw. als objekt zur umsetzung der fiktionen herhalten muss - mehr oder weniger nichts zu tun hat? call this objektwahrnehmung. aber die offizielle psychiatrie von heute kennt diese unterscheidung tatsächlich nicht. oder will sie nicht kennen.

weiter im artikel:

"Eine wahre Königin der Finsternis richtet sich selbstverständlich auch ihr WG-Zimmer angemessen ein: mit Fotos von nebligen Friedhöfen und Grabsteinen zum Beispiel, mit schwarzen Kerzen und Kreuzen und anderen düsteren Accessoires. An diesem Punkt wird augenfällig, dass es – nicht im seelischen Kern, aber gleichsam an der Oberfläche der Erkrankung – durchaus einen inszenatorischen Teil gibt, der fließend in »normale« Ausdrucksformen der Jugendkultur übergeht. »Letztlich sind Tätowierungen und Piercings an allen nur denkbaren Körperstellen ja auch nur eine Form der (gesellschaftlich akzeptierten) Selbstverletzung«, sagt Franz Resch, der Chef der Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Universitätsklinik Heidelberg.
Auf manchem Arm einer Borderline-Patientin sind Schnitte, die durchaus nicht immer schamhaft verborgen werden, säuberlich nebeneinander angeordnet wie ein makaberer Schmuck – kein Zeichen unkontrollierter Raserei, sondern planvolle Zeichnung des Körpers.


yo. und gerade dieser fließende übergang zu den formen "gesellschaftlich akzeptierter" svv muss wachsamkeit erregen - hier scheinen tiefe kollektive strömungen unguter art wirksam zu sein. viele borderlinemenschen werden sich nach meiner eigenen erfahrung vor allem in der sog. gothic-szene, aber auch im punkbereich, antreffen lassen. aber das sind in der mehrheit die auffälligen, an deren symptomen sich eben auch die psychiatrischen institutionen und kataloge orientieren.

der letzte abschnitt des artikel ist imo der beste (mit der einschränkung, dass das unterstellte "verzweifelte bemühen um zuwendung" möglicherweise einen wahrnehmungsfehler enthält):

"Was uns an der Krankheit bewegen muss, ist die Tatsache, dass der Wahnsinn, der unter dieser gestalteten Oberfläche wütet, gesellschaftlich mitverursacht ist. Es gibt Menschen – einen Täter oder ein ganzes Umfeld –, die schuld daran sind, dass andere Menschen so leben müssen: mit zerstörten Gefühlen, mit Selbstverachtung und dem verzweifelten Bemühen um Zuwendung.
Und eine wachsende Zahl von Eltern ist nicht mehr in der Lage, ihren Kindern die Liebe und Anerkennung zu geben, die ein Mensch zum unbeschadeten Aufwachsen braucht. Die Zahl der Borderline-Kranken wird nicht kleiner werden."


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wir machen einen kleinen zeitsprung zurück zum 30.09.2000. an diesem tag erschien in der taz-hamburg ein artikel zum gleichen thema, den ich aus meinem eigenen kleinen archiv entnommen habe. interessant ist hierbei v.a. die etwas andere inhaltliche gewichtung - auszüge:

"Leben im Grenzland
Immer mehr Menschen sind "Borderliner". Nicht allen von ihnen ist klar, dass sie psychisch krank sind, denn manche scheinen gnadenlos erfolgreich zu sein

Adolf Hitler war wohl einer und Slobodan Milosevic dürfte einer sein: Borderliner sind aber auch ein Drittel aller männlichen Häftlinge, ein Drittel aller Essgestörten und ein Drittel aller Drogenabhängigen, weiß Birger Dulz.
Er ist Oberarzt der vierten Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie im Klinikum Nord/Ochsenzoll, und er ist einer der wenigen Spezialisten, die sich seit vielen Jahren in Klinik und Forschung mit Borderlinern beschäftigen."


zu hitler und der bl-diagnose mehr hier. interessant auch der bezug auf den "gnadenlosen erfolg" in der überschrift.

"Die sind meistens seht gut informiert", sagt Dulz. Die "Grenzgänger" sind schwer zu diagnostizieren, denn ihre Symptome wechseln. Manche von ihnen sind massiv suizidgefährdet, andere drogenabhängig oder essgestört, wieder andere verletzen sich selbst, und manche vereinigen all diese Merkmale auf sich. Es gibt aber auch Borderliner, die erfolgreiche Unternehmer, Politiker, Künstler, Wissenschaftler, Journalisten oder Sportler sind. Häufig sind es exzentrische und extrem leicht kränkbare Persönlichkeiten, die mit Idealisierung und Entwertung arbeiten, die polarisieren, ein extremes Leben führen oder sich aber, sich selbst aufopfernd, um leidende Menschen und Tiere kümmern. Sie scheinen also Menschen zu sein, die etwas aus ihrem Leben gemacht haben.

ein mögliches beispiel?

Der zentrale Faktor bei Borderlinern sei das Schwanken zwischen den Extremen: Sie fänden sich etwa nur richtig klasse oder nur richtig schlecht. Und das kann rasch, sogar innerhalb von Minuten wechseln. "Borderliner führen intensive, aber instabile Beziehungen. Sie teilen die Welt in Gut und Böse ein." Die Welt ohne Grautöne schafft Ordnung, und Ordnung nimmt Angst. Denn das ist das eigentlich bestimmende Gefühl der Borderliner: Eine allgemeine, aber ständig
anwesende Furcht. "Einige kanalisieren sie durch S-Bahnsurfen, andere werden Neonazis", sagt Dulz.


wieder der unbefriedigende beziehungsbegriff. dazu der hinweis auf ein weiteres merkmal: das teils blitzschnelle "umschalten" von gefühlen, dass nur real erlebt in seiner vollen wucht begriffen werden kann. und bei mir zur frage geführt hat, ob das überhaupt tatsächlich gefühle sind, was da umgeschaltet wird. ich kann das jedenfalls nicht, weil ich gefühle und den gesamten emotionalen prozeß bei mir grundsätzlich anders wahrnehme. ich brauche zeit, um rauf- und runterzukommen, sozusagen.

die thematisierte ständige furcht ist sowohl im trauma- als auch im autismuskontext ebenfalls bekannt - das gesamte nervensystem ständig in alarmstimmung.

"Angst aber gibt ein Borderliner nicht unbedingt zu, ist sich ihrer oft nicht einmal bewusst. Er behauptet dann, im besten Glauben, sich vor Nichts und Niemandem zu fürchten. Diese verleugnete und dennoch lebensbestimmende Furcht stammt meistens aus einer Traumatisierung. Viele Borderliner wurden als Kinder vernachlässigt, missbraucht, misshandelt. "Es kann auch an häufigen Krankenhausaufenthalten liegen, wobei als Störungsursache letztlich das subjektive Gefühl, vernachlässigt worden zu sein, eine Rolle spielt."

Dulz bringt den Teufelskreis auf eine Formel: "Wer missbraucht wird, reagiert eher autoaggressiv, wer misshandelt wird, eher fremdaggressiv." Das sei bei beiden Geschlechtern gleich. Weil aber Mädchen eher missbraucht werden, entwickeln sie häufiger Esstörungen oder verletzen sich selbst und landen eher in der Psychiatrie. Jungs werden häufiger misshandelt, werden als Erwachsene gewalttätig und kommen in den Knast. Dort wird ihre Krankheit oft weder diagnostiziert noch behandelt, obwohl bereits nachgewiesen ist, dass ein Drittel aller deutschen Häftlinge Grenzgänger sind. Rückfälle sind somit wenig überraschend."


bei diesen tatsachen wird das repressionsinstrument "knast" noch fragwürdiger als sowieso schon. aber das stichwort "männer" erlaubt mir jetzt auch den oben angekündigten nachtrag der gedanken von mertz zum thema bl-männer (von denen nur ein teil im sinne des aktuellen strafgesetzbuchs auffällig werden dürfte - die anderen werden jetzt thema):

"Der durchschnittliche borderlinekranke Mann dagegen dürfte keine Mühe damit haben, den absolut identischen und gleichermassen massiven Borderlinedefekt in ein anderes externales Korsett (...) derart einzupassen, daß er beinah vollständig zum Verschwinden gebracht wird. Dieses nach wie vor ungemein mächtige, objektiv normative Schema des Männlichen schreibt den Männern ein ganz "natürliches" Defizit im Bereich authentischer Interpersonalität (Beziehung, Empathie usw.) zu und stellt ihnen großzügig dimensionierte (...) Freiräume zur Verfügung, in denen sich v.a. zahllose Borderlinekranke männlichen Geschlechts vollständig unangefochten bewegen und verstecken können. (...)

Diese privilegierten Nischen werden traditionell überall und auf allen Ebenen eingerichtet, in der privaten Sphäre, in den anonymen Mechanismen der Arbeitswelt und auch in den politischen Apparaten. Diese Nischen haben etwas mit Macht; Gewalt und Destruktion zu tun. Gesellschaftliche Macht, egal in welcher Form (Geld, Prominenz, `Erfolg´ usw.) scheint als anonyme "Ersatzwährung" für interpersonale Authentizität (Beziehung) zu fungieren: Je mehr Macht, desto geringer die authentischen Anforderungen der Mitwelt."


(die letzte aussage lässt sich bei betrachtung des verhaltens unserer "eliten" fast schon als faustformel gebrauchen. inzwischen werden aber auch manchmal als-ob-simulationen vom publikum verlangt.)

"In diesen geschlechtspolitischen Nischen, befreit vom Druck gewöhnlicher authentischer Anforderungen, Anstrengungen und Abhängigkeiten, wurden unter anderem auch die Genozide des zwanzigsten Jahrhunderts erfunden und geplant. Außerhalb dieser Nischen würden die Protagonisten viel eher mit ihren massiven authentischen Defiziten oder Defekten (hitler, stalin, pol pot usw., anmerk. mo) konfrontiert und marginalisiert werden" (...)

(beide zitate oben: mertz, "borderline..."; s.151/152)


klaus theweleit hat in den männerphantasien die untersuchten soldatischen männer der präfaschistischen freikorps sinngemäß als für das zivile (authentische) menschliche leben faktisch ungeeignete a-soziale beschrieben, die eigentlich nur innerhalb des starren korsetts der militärischen hierarchien einigermaßen funktionsfähig waren. daraus lässt sich der schluss ziehen, dass der kern von sa und ss von einem ganz speziellen typ borderlinemänner gebildet wurde. eine unschöne vorstellung.
wie sieht das wohl heute mit denjenigen bl-männern aus, die nicht in den knästen landen? und eher als blande bl zu begreifen sind?

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weiter im artikel:

"Dulz begreift die Arbeit seines Teams als Prophylaxe. "Bis zu 50 Prozent der Opfer werden später zu Tätern." Je schlimmer die Patienten - also die Opfer - gestört sind, desto wahrscheinlicher ist es, dass sie ihre eigenen Kinder quälen. Je früher die gestörten Opfer therapiert würden, desto wahrscheinlicher ließe sich diese Zwangsläufigkeit durchbrechen. "Insofern helfen wir Staat und Krankenkassen langfristig, Geld zu sparen. Aber es wird ja immer nur in Jahresbudgets bilanziert", klagt Dulz.

ein mögliches beispiel für das geschilderte ist hier nachzulesen.

"Er ist davon überzeugt, dass Borderline-Störungen sich zu einem Massenphänomen entwickeln, weitgehend unbeachtet von den meisten psychiatrischen Kliniken. "Die Krankenhäuser haben auf Psychotiker gesetzt." Die aber könne man immer besser ambulant therapieren. Doch mehr als ein Viertel aller Patienten in den psychiatrischen Kliniken leiden unter Persönlichkeitsstörungen, die dann häufig falsch behandelt werden. "Weil der Druck in unserer Gesellschaft immer weiter wächst, benutzen immer mehr Menschen Gewalt als Ventil." Deshalb würden immer mehr Kinder misshandelt oder missbraucht"

das sind verdammt beschissene aussichten, wenn ich ehrlich sein soll. auch aus folgendem grund:

"Denn sie vernichten, was sie vernichtet - oder von dem sie glauben, dass es sie vernichtet. "Borderliner haben vor nichts so viel Angst, wie davor, verrückt zu sein."
Aus dieser Angst heraus bedrohen sie beispielsweise ihre Mitpatienten, die schizophren sind oder andere Psychosen haben. Sind sie hingegen unter ihresgleichen, helfen und unterstützen sie sich gegenseitig. "Ihre Umgebung sieht in Borderlinern häufig nur das Aggressive und Destruktive", sagt Dulz.
Dabei seien sie oft charmant, humorvoll und intelligent. "Und wer das nicht sieht, kann Borderliner nicht behandeln."


beim letzten satz sei noch einmal auf den unterschied zwischen simulation und authentizität hingewiesen.

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so, das ist jetzt sehr lang und sehr viel geworden, und trotzdem nur ein komprimierter ausschnitt. wer mehr wissen will, sei auf die angegebene literatur verwiesen. und zur frage der epidemiologie von borderline und auch anderen hier im blog thematisierten störungen möchte ich mich in einem eigenen beitrag äussern.
somlu (Gast) - 25. Nov, 13:18

Heute habe ich es endlich geschafft, die letzten zwei Seiten deines Blogs nachzuarbeiten. Ich bin beeindruckt , wie immer und ich bewundere deine Energie dich mit in dieser Tiefe mit den Themen zu beschäftigen, dich und uns zu konfrontieren, wobei "wir" es ja übergehen können, während du es erarbeitest und wenn dein Erarbeitungsprozess auch nur ansatzweise dem meinem ähnelt, durchlebst du es. Meine Hochachtung vor diesem Mut.

Allein meine körperliche Reaktion, die deutlich erhöhten Stress und Wut und Hilflosigkeit signalisierte allein haben mir schon gereicht aber vielleicht gibt es auch da eine gewisse Parallele, aufschreiben hat mir immer geholfen mit meinen Reaktionen besser klarzukommen.

monoma - 5. Sep, 12:45

@morgaine:

(das folgende entstammt dieser diskussion; und ich komme damit dem dortigen wunsch des blogautors nach).

"Ich lese die Texte in Ihrem Blog mit Interesse. Sie schreiben, dass Sie selber mit der Diagnose konfrontiert wurden. Ist das der (reichlich belesene) Erfahrungshintergrund, der kollektive Begründungszusammenhänge wie eine dezidierte Kritik am amerikanischen Kapitalismusmodell durchaus berücksichtigt?"

es ist ein teil, der mir allerdings einige horizonte erst eröffnet und mich dazu gebracht hat, etliches aus einer anderen / neuen perspektive zu betrachten.

ich habe allerdings bereits lange davor schon - ohne es zu "wissen" - durch teils enge kontakte mit traumatisierten bzw. sonstigen "auffälligen" menschen mit vielen themen des blogs zu tun gehabt - die theoretische auseinandersetzung kam erst danach.

"Oder sind Sie Praktiker, also Psychologe oder Psychiater?"

nein. ich traue mir allerdings durchaus zu, aus meinen klientenerfahrungen mit verschiedensten therapieformen heraus die benannten disziplinen näher zu beleuchten.

"Ich hörte von einem Praktiker in meiner Umgebung, dass diese Patienten/Klienten die am meisten gefürchteten in den sozialpsychiatrischen Einrichtungen sind. Grund unter anderem: Sie hinterfragen jede Direktive, konterkarieren Entscheidungen, sind also nicht teamfähig."

ich denke, das hat zwei seiten: erstens halte ich - gerade im bl-bereich - selbst betroffene professionelle für bedenklich; aber zweitens spielt imo auch eine rolle, dass diese gruppe natürlich alle techniken und vorgehensweisen in solchen institutionen mehr oder weniger gut kennt - und damit sowohl schneller "kunstfehler" erkennen kann als auch therapiesabotierend tätig werden kann. die benannte furcht ist von daher durchaus berechtigt.

Morgaine (Gast) - 5. Sep, 12:58

"aber zweitens spielt imo auch eine rolle, dass diese gruppe natürlich alle techniken und vorgehensweisen in solchen institutionen mehr oder weniger gut kennt"

Worauf bezieht sich "diese Gruppe"? auf die "betroffene professionelle", was impliziert, dass im Bl-bereich eben auch Borderliner arbeiten?
monoma - 5. Sep, 13:10

ja.

wobei sich das streng genommen natürlich nicht auf bl-diagnostizierte alleine beschränkt, sondern generell zum problem werden kann - aber nach allem, was ich so - auch innerhalb psychiatrischer institutionen - mitbekommen habe, ist diese gruppe sozusagen doppelt gefürchtet.
Morgaine (Gast) - 5. Sep, 13:43

Ja.
Es scheint in diesem Bereich - genau wie in anderen auch - Strukturen zu geben, die der Persönlichkeitsstruktur von Borderlinern sehr entgegenkommen, ja, sie geradezu Voraussetzungen für den Erfolg sind. Sie haben es oft genug in Ihren Beiträgen beschrieben. Simuliertes, mühsam erlerntes und kopiertes Als-Ob-Verhalten ersetzt die Fähigkeit, den anderen wirklich wahrzunehmen, sich in ihn hineinversetzen zu können. Seine Grenzen zu sehen und zu respektieren.

Doch auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen: Grenzgänger zu sein, ja, Grenzen zu verletzen, ist eben andererseits manchmal auch notwendig. Bitter notwendig sogar. Es ist dann eben keine Entscheidung der Masse, die Systeme aufrechterhält, sondern der weniger oder sogar Einzelner, diese Grenzüberschreitungen zu wagen. Darf ich hier mich selbst zitieren:


"Verletzungen. Die eigenen und die, die wir anderen zufügen.
Manchmal bedeutet verletzt zu werden, dass etwas geändert wird.
Eine Verletzung kann Ausdruck von Achtung oder Respekt
vor dem Leben bedeuten.
Dann nämlich, wenn ein Rhythmus mit Hilfe dieser Verletzung
durchbrochen werden will.
Der Rhythmus der Atmung eines sich immer weiter zurückziehenden Menschen etwa.
Oder der Rhythmus eines Systems, der verändert werden muss,
bevor das System in den sicheren Untergang stürzt.

Wer aber bestimmt, was verändert werden muss?
Wer fügt wem welche Verletzungen bei,
begrenzt die Borderliner, die Systeme verändern,
wer beherrscht die Regeln des sinnvollen Grenzüberschreitens?
Ich fürchte, diese Fragen lassen sich letzten Endes nur
auf den Kampfplätzen bisheriger Ordnungen entscheiden.
Und so lautet denn mein ganz persönlicher Wunsch für den heutigen Tag:
Möge das Verletzte seinen Rhythmus wieder finden."
monoma - 5. Sep, 13:58

da...

...stimme ich Ihnen zu, wenn auch mit einschränkungen:

"Grenzgänger zu sein, ja, Grenzen zu verletzen, ist eben andererseits manchmal auch notwendig. Bitter notwendig sogar. Es ist dann eben keine Entscheidung der Masse, die Systeme aufrechterhält, sondern der weniger oder sogar Einzelner, diese Grenzüberschreitungen zu wagen."

es gibt von temple grandin, die hier im zusammenhang mit dem asperger-syndrom als betroffene an anderer stelle zitiert worden ist, ein zitat, welches sinngemäß lautet, dass, "wenn alle menschen nt´s (neurologisch typisch, asperger-slang für "normale") wären, wir heute noch in höhlen sitzen und nur miteinander reden würden".

manchmal frage ich mich aber, ob das nicht vorziehenswerter wäre als die heutige situation. irgendwo habe ich hier im blog auch die aussage eines psychiaters, "psychopathen sind das salz der erde", zitiert - als ferment /katalysatoren für notwendige grenzverletzungen, die erst weiterentwicklungen möglich machen würden, seien sie für alle gesellschaften unverzichtbar. und wenn ich mir dann so die verschiedenen bereiche der kunst betrachte, mit all ihren freakigen protagonistInnen...

und trotzdem: die logik hinter solchen aussagen wie oben finde ich schon nachvollziehbar - aber gleichzeitig finde ich das auch eine implizite glorifizierung von menschlichem leid, die ich nicht vertreten kann und auch nicht möchte.

meiner meinung nach sind - qualitativ! - andere formen von entwicklung auch möglich ohne die vorbedingung, dass gesellschaften dafür erst eine mehr oder weniger große zahl ihrer mitglieder in den wahnsinn treiben müssen. allerdings meine ich damit entwicklungen, die den heutigen gesellschaftlichen normen dessen, was als wünschenswert erachtet wird, in den meisten punkten scharf zuwiderlaufen.
Morgaine - 5. Sep, 14:36

Nun, ich kenne Temple Gradin nicht. Wohl aber habe ich beispielsweise Mary Daly gelesen, die als Feministin Grenzverletzungen von Systemen wie dem des patriachal orientierten Christentums nicht nur empfiehlt, sondern sie mit der Veröffentlichung von "Gyn/Ökologie" oder "Jenseits von Gottvater" sogar selber wagt.
Und was ist mit den mutigen Männern und Frauen, die sich gegen die große sanktionsbreite Masse der fundamentalistischen Koran-Exegeten auflehnen? Es mag sein, dass gerade Frauen sich hier besonders hervortun. Das liegt aber meines Erachtens weder an einem Asperger-Syndrom noch einer Borderliner-Erkrankung, sondern schlicht an einer besonderen Sensitivität für Rassismus und Sexismus. Wenn Sensitivität zur Grenzverletzung oder gar Zerstörung dieser Systeme führt, dann sollte sie unterstützt werden. Und nicht etwa als krankhaft diagnostiziert werden. Ansonsten muss wohl von einem - wie auch immer gearteten - Eigeninteresse ausgegangen werden.
monoma - 5. Sep, 14:46

hm, eventuell reden wir gerade einander vorbei?

"Wenn Sensitivität zur Grenzverletzung oder gar Zerstörung dieser Systeme führt, dann sollte sie unterstützt werden. Und nicht etwa als krankhaft diagnostiziert werden."

klar. und ich meine, dass teile der geschichte der etablierten psychiatrie bspw. auch genügend aufzeigen, das hier die kritik an einer pathologisierung eigentlich sehr angemessener verhaltensweisen absolut berechtigt ist.

aber ich hatte - und habe - hier andere im sinn: so lässt sich bspw. auch ein adolf hitler als grenzverletzer in diversen und größten dimensionen ansehen.
Morgaine - 5. Sep, 15:11

Ja, das haben wir anscheinend. Vielleicht noch einmal diese vier Zeilen aus meinem o.g. Zitat:

"Wer aber bestimmt, was verändert werden muss?
Wer fügt wem welche Verletzungen bei,
begrenzt die Borderliner, die Systeme verändern,
wer beherrscht die Regeln des sinnvollen Grenzüberschreitens?"


Deswegen informiere ich mich zum Beispiel in diesem Blog und möchte, dass mit Hilfe von Blogs oder anderen Medien viel mehr ORIGINAL-Stimmen derjenigen gehört werden, die unter Systemen leiden, und die bereit sind, Grenzen zu überschreiten oder gar zu zerstören.
Wednesday - 5. Sep, 16:44

Here I come an' here I go

Zitat: irgendwo habe ich hier im blog auch die aussage eines psychiaters, "psychopathen sind das salz der erde"

Prima, zuallererst haben sie sich mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Götterboten, Priestern erklärt, um es den Normalos zu richtig zu geben, und was sich sonst an Spezialisierungen ergab: Häuptling, Soldat, sonstige FetischistInnen; die menschliche Gesellschaft hat den Sonderlingen Nischen angeboten, oder sie hineingezwungen (beschwichtigend, auf Ruhe hoffend?)... Im Gegesatz zu früher haben wir alle (naja, nicht alle, wenn man von der gesamten Menschheit auf der Erde ausgeht) eine höhere Lebenserwartung und somit noch mehr Zeit und Muse, uns gegenseitig fertigzumachen. Danke, Salz der Erde, danke!
Morgaine - 5. Sep, 17:11

Ich verstehe den Kommentar nicht so richtig. Sind Psychopathen Priester, Soldaten, Häuptlinge, FetischistInnen? Was ist ein Sonderling? Wer verteilt hier wem Etiketten? Ich glaube, dass manche/r sich gerne mit einem dieser Etiketten schmückt. Sonst wäre er nackt. Und das traut sich halt auch nicht jeder.
monoma - 5. Sep, 19:00

ich möchte mich mal kurz einmischen...

...und erstens auf diesen beitrag verweisen, der die gedanken von w-day - aus meiner sicht - vielleicht etwas deutlicher machen kann.

ich persönlich gehe aber - auch das habe ich hier an verschiedenen stellen, wenn auch vielleicht unzureichend, schon umrissen - quasi von zwei qualitativ verschiedenen wegen grundsätzlich psychotischer wahrnehmung aus - siehe dazu sowohl bspw. arno gruen und auch mertz. die "traditionelle" art wird dabei von dem repräsentiert, was als klassische schizophrenie bekannt ist - und das waren und sind bis heute die "sonderlinge", die unter bestimmten kulturellen umständen vielleicht zum schamanen bestimmt wurden, im mittelalter zur volksbelustigung vorgeführt oder aber auch in holzkisten gesperrt wurden, und heute als alleinige trägerInnen des psychosebegriffs mit neuroleptika traktiert werden (und zwischenzeitlich bevorzugt e-geschockt wurden).

die andere art hingegen - nun, u.a. die ist ein thema im blog.
Morgaine - 5. Sep, 22:30

Habe ich das richtig verstanden? Religiöses und spirituelles Erleben ist wahnhaft und muss medikamentös behandelt werden?
Wednesday - 6. Sep, 09:04

An die armen Schizos hab ich nicht gedacht, denn sie sehe ich als Opfer der Leitkultur - sondern an unsere liebenswerten "als-ob"-Männchen und -Weibchen.

Priester, Häuptlinge, Soldaten, sonstige FetischistInnen sind all jene, die nicht wie die nt's, wie Grandin sie nennt, brav in den Höhen blieben, sondern die Welt veränderten. Natürlich zu unser aller Besten. :-) Und nein, mit FetischistInnen meine ich nicht harmlose Fuß- oder KorsettfetischistInnen. Es gibt lebensgefährliche Fetische: Waffen, Geld, Lohnarbeit.

Religiöses, spirituelles Erleben ist tatsächlich wahnhaft, und medikamentös wird es ja durchaus zu Recht behandelt, sei es mittels Schamanenkräuter, sei es mittels moderner Medizin: um den Wahnbehafteten zu helfen, oder um seine Umgebung vor ihm zu schützen.
Morgaine - 6. Sep, 10:10

Aha. Dann wäre die Einteilung also wie folgt:

ALLE WAHNHAFT ...
http://www.tanenbaum.org/resources/memorial_lectures.aspx
ER beispielsweise hat die Schamanenkräuter nicht inhaliert. Sondern nur

ALLE ANDEREN: Nicht wahnhaft

Und wieso erinnert mich diese Einteilung jetzt verdammt an wahnhaft religiöses gnostisches Denken ...?
Wednesday - 6. Sep, 10:25

United World Goes Bananas

Genau so hab ich das nicht beschrieben. Daß "alle anderen", die Opfer, ebenfalls wahnhaft bzw. Co- werden, das, dachte ich, wäre eh klar. (Ich kann nicht mit Ihnen, M. Ich lass es dabei.)
Morgaine - 6. Sep, 11:01

Das habe ich jetzt nicht verstanden. Das kommt wohl von den vielen Spielinterpretationen, die ich leisten muss. Nun gut, lassen wir es.
monoma - 8. Sep, 21:02

teils-teils

"Habe ich das richtig verstanden? Religiöses und spirituelles Erleben ist wahnhaft und muss medikamentös behandelt werden?"

ein paar meiner meinungen zu den von Ihnen angesprochenen wahrnehmungsarten werde ich in den nächsten wochen noch nachreichen, u.a. in einem update bzw. einer fortsetzung zum islamischen fundamentalismus. tja, und dann dürfte es hier auch höchste zeit sein für eine ausführliche beschäftigung mit dem ganzen komplex der dissoziation. das ist für das thema religion/spiritualität imo sehr aufschlußreich.

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