notiz: anläßlich der aktuellen sog. amokläufe...[3.update am 17.03.09]
...in baden-württemberg und alabama weise ich nochmals auf einen älteren beitrag zum thema hin: ausweitung der kampfzone. mehr dazu vermutlich aus zeitgründen erst in den nächsten tagen.
*
edit am 13.03.: dieses update erstelle ich mit einigem widerwillen, was vor allem an der größtenteils unterirdischen öffentlichen "diskussion" liegt - wie eine eins-zu-eins-wiederholung dessen, was schon bei "emsdetten" und "erfurt" zu lesen und zu hören war. prinzipiell sehe ich keinen anlaß, von den im eingangs verlinkten beitrag zur kampfzone geäusserten positionen abzugehen. es gibt aber bei der jüngsten tat zwei aspekte (die dazu momentan als relativ gesicherte fakten gelten können), die ich bisher für unterbelichtet halte. der eine davon ist das thema der psychiatrischen behandlung einer depression bei tim k. - und die möglichen zusammenhänge einer solchen, im regelfall auch medikamentösen, therapie mit einer tat solchen kalibers hatte ich aus anlaß eines früheren "amoks" in den usa schon früher thematisiert:
(...)"was waren das für verschreibungspflichtige antidepressiva?
wenn es sich nämlich um sog. serotonin-wiederaufnahmehemmer gehandelt hat (heute bei schwereren depressionen durchaus verbreitet angewandte psychopharmaka), wäre es meiner meinung nach wichtig, sich genauer mit den folgenden fakten zu beschäftigen - ich zitiere aus einem telepolis-artikel vom januar 2005:
(...)"Das British Medical Journal berichtet. ihm sei im vergangenen Monat anonym vertrauliches Material zugespielt worden, welches einen kausalen Zusammenhang zwischen der Patienten-Medikation mit selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (SRRI, z. B. Prozac) und erhöhtem Hang zu Aggressionen, Gewalt und Suizid belege. Das Material wurde der US-Behörde für Arzneimittelsicherheit (FDA) zur Prüfung übergeben.
Bei den entsprechenden Dokumenten handele es sich anscheinend um interne Memos, Produktstudien und Bewertungspapiere des Pharmariesen Eli Lilly aus dem Jahr 1988, aus welchen klar hervorgeht, dass der Firma bekannt war, dass die Einnahme von Prozac zu einer signifikanten Zunahme von nervösen "Erregungszuständen" führen könne, was diese bisher stets bestritten hatte. Klinischen Tests zufolge sind bei 38% der damaligen Prozac-Probanden derartige Symptome aufgetreten."(...)
und speziell die folgende passage rumorte in meiner erinnerung, als ich vom jüngsten amokfall hörte:
"Pikanterweise waren eben diese Dokumente während des Wesbecker-Prozesses im Jahre 1994 verschwunden, wo sie als wichtige Beweismittel hatten dienen sollen. Der Journalist Joseph Wesbecker war 1989 mit einer 47er Magnum (kleiner fehler im tp beitrag, es war eine ak47, anmerkg. mo) Amok gelaufen und hatte dabei 8 Menschen erschossen und ein Dutzend verletzt. Eine lange Leidensgeschichte von Depressionen und Angstzuständen fand mit dem Suizid ein Ende. Einen Monat vorher hatte er auf Empfehlung seines Arztes begonnen Prozac zu nehmen.
Das Unternehmen wurde zwar mit 9 zu 3 Geschworenenstimmen freigesprochen; später kam jedoch ans Licht, dass die Firma die Kläger, Angehörige der Opfer, bereits vorher in einem geheimen Deal großzügig abgefunden hatte."(...)
alle notwendigen quellenlinks sind im beitrag zu finden; und ich finde, die damalige frage stellt sich auch hier - wie genau sah die therapie bei tim k. aus? der zuständige psychiater landet in seinem statement mal wieder beim klassiker "schizophrene psychose". das lässt sich zwar nicht völlig ausschließen, hat jedoch für die zuständige psychiatrie (als disziplin) und auch die gesellschaft den vorteil, dass in einem solchen fall tatsächlich niemand etwas hätte wissen und erst recht nicht tun können (eine solche psychose kann tatsächlich in ihrem verlauf relativ lange unerkannt bleiben, zumindest in einigen fällen). aber genau aus diesem grund finde ich solche erklärungen grundsätzlich etwas verdächtig, wenigstens solange, bis eine genauere untersuchung die medikamenten-frage geklärt hätte. aber gibt es daran von "offizieller" seite aus überhaupt ein wirkliches interesse?
dann: der verdacht des behandelnden psychiaters mutet vor dem hintergrund der allerorten als diagnose gehandelten depression schon seltsam an - depressionen gehören bei den psychiatrischen diagnosen noch zu denjenigen, die sich an sich spätestens im klinischen rahmen ganz gut abklären bzw. verifizieren lassen. und sie sind gleichfalls relativ gut in ihrer ätiologie erforscht, was bekanntlich längst nicht bei allen pathologischen psychophysischen zuständen der fall ist. das sich eine als solche diagnostizierte depression nun entweder in eine schizophrene psychose verwandelt haben oder aber mit der letzteren unerkannt als komorbidität existiert haben sollte, kommt mir vor dem hintergrund meines persönlichen wissen über depressionen doch recht unwahrscheinlich vor. falls sich das anders verhalten sollte, bitte ich um entsprechende korrekturen.
ebenfalls ist zu bedenken, dass ein ausgewachsener depressiver zustand (im klinischen sinne) normalerweise symptomatisch mit einer massiven handlungshemmung und allgemeiner motivationslosigkeit daherkommt - im extremfall kann jede bewegung und gar jeder gedanke so quälend und anstrengend für die betroffenen sein (die meist auch die gesamte außenwelt bzw. deren anforderungen als extrem überfordernd wahrnehmen), dass die typischen reaktionen in einer depression als eindeutig defensiv im sinne von rückzug, sozialer isolation, "verkriechen-wollen" und apathie zu verzeichnen sind. und gerade diesen defensiven reaktionen (die durchaus fatale folgen haben können), soll durch die meisten antidepressiva entgegengewirkt werden. was uns dann direkt zur ausgangsfrage zurückbringt.
*
die zweite auffälligkeit bei dieser tat wird immerhin auch öffentlich als solche benannt:
(...)"Nach Angaben des baden-württembergischen Innenministers Heribert Rech suchte sich Tim K. vor allem Mädchen und Frauen als Opfer aus. So erschoss der 17-Jährige acht Schülerinnen sowie einen Schüler, ausserdem tötete er drei Lehrerinnen. Weiter habe sieben Schülerinnen durch Schüsse verletzt. Diese seien alle ausser Lebensgefahr.
Rech bezeichnete die überwiegende Zahl von weiblichen Opfern als «auffällig».(...)
das finde ich allerdings auch; und beim aktuellen wiederlesen des "kampfzonen"-beitrags hatte ich den eindruck, dass tim k. mit seinen bisher bekannten eigenschaften "recht stiller männlicher außenseiter, waffenfixiertheit und aller wahrscheinlichkeit etlichen beziehungsstörungen beim umgang mit frauen" fast perfekt ins raster der typischen (schul-)amoktäter passt. in diesem falle würde das aus meiner sicht deutlich auf ein starkes motiv von rache primär an den weiblichen objekten der begierde hindeuten. auch das könnte eigentlich durch eine genauere untersuchung von k.´s (nicht-)beziehungen zu jungen frauen abgeklärt werden, und das wären ebenso wie die frage nach seiner möglichen medikamention eigentlich die bisher sichtbaren primären punkte, die über die tathintergründe aufklären könnten. als drittes wären dazu selbstverständlich die verhältnisse in der familie unter die lupe zu nehmen - ohne einen ordentlichen anteil an innerfamiliären fehlentwicklungen lässt sich eine solche tat eines siebzehnjährigen ebenfalls nicht begreifen. und damit meine ich nicht die anscheinenden "schludrigkeiten" des vaters beim verwahren seiner waffen (interessanterweise kommt niemand auf die idee, dass es sich bei solchen angeblichen versäumnissen u.u. auch um verkappte aufforderungen eher unbewusster art handeln kann).
*
das stichwort "familie" leitet dann über zur zweiten "amok"-tat dieser tage in den usa - genauer in alabama:
(...)"Alles deutet auf eine "Familientragödie" hin, wie man das gemeinhin nennt. McLendon hat seine Mutter erschossen, seine Großeltern und einen Onkel. "Er hat seine ganze Familie ausgelöscht", sagte Robert Preachers, Chefermittler in Coffee County, in dem der Amokschütze lebte.
Der junge Mann, Mitte 20, wohnte offenbar noch bei seiner Mutter. Sie hatte er am Dienstagnachmittag in ihrem Haus in Kinston unweit der Grenze zu Florida erschossen. Ihre Leiche hatte er auf ein Ecksofa gelegt, Decken über sie geworfen und angezündet. Das Haus brannte ab. Auch die vier Hunde seiner Mutter erschoss er. Danach fuhr er in die knapp 20 Kilometer entfernte Kleinstadt Samson im benachbarten Geneva County. Vor dem Haus seiner Großeltern eröffnete er das Feuer. Beide waren sofort tot wie auch ein Onkel McLendons. In einem Nachbarhaus tötete er einen weiteren Verwandten, in einem Haus schräg gegenüber die Frau eines Sheriffs und ihr Baby. Der Polist war später an der Verfolgung des Amokschützen beteiligt, ohne zu wissen, dass seine Familie unter den Opfern ist. McLendon fuhr anschließend durch den kleinen Ort und feuerte auf alles, was sich bewegte, ehe er an einer Tankstelle hielt. Dort erschoss er offenbar wahllos eine Frau und zwei weitere Autofahrer und stieg erneut in seinen Wagen ein.
Unterdessen hatte die Polizei die Verfolgung aufgenommen. Vor einer Metallfabrik hielt McLendon an und schoss auf seine Verfolger mit einem Schnellfeuergewehr. Der örtliche Polizeichef wurde dabei schwer verletzt. Der Täter flüchtete in das Fabrikgebäude und nahm sich dort das Leben."(...)
ich finde ja, dass hier die tat für sich selbst spricht - und vor allem erzählt sie von einem geplanten massaker aus vermutlichen rachemotiven, deren grundlage eindeutig innerhalb der familienverhältnisse zu suchen ist. speziell die mutter des täters wurde von diesem nicht nur "einfach" ermordet, sondern noch dazu ist deutlich sichtbar, dass er alles dafür tat, überhaupt alle zeichen für ihre existenz regelrecht auszulöschen - incl. haus & haustiere. die zielgerichtete fahrt zu den nächsten verwandten - leider wird nicht deutlich, ob das auch die großeltern mütterlicherseits waren - , macht aus meiner sicht ebenfalls klar, dass sich der täter zwar in einem psychophysischen ausnahmezustand befunden haben muss, der aber erst nach der primären tat zu einem echten amok mit dem kennzeichen des wahllosen mordens mutierte. sicher könnte auch hier eines jener klassischen psychiatrischen krankheitsbilder alá "schizophrene psychose" vorhanden gewesen sein, aber selbst in diesem falle wären die familienverhältnisse immer noch einer näheren betrachtung zwingend würdig. zu deutlich ist der vernichtungsdrang speziell gegenüber der mutter.
*
wenn man also genauer hinschaut, bleiben solche taten wie die dargestellten durchaus nicht "unerklärliche einbrüche eines quasi metaphysischen bösen", wie das der offizielle diskurs einmal mehr suggeriert, sondern können uns etwas über ver-rückte gesellschaftliche verhältnisse in verschiedenen zusammenhängen erzählen. genau dieser schluß aber soll und darf nicht gezogen werden in "der-besten-aller-welten", weshalb die aktuell laufende offene krise dieses systems auch eine eigentlich wünschenswerte darstellt - der massenmord nicht nur bei solchen taten gehört letztlich zur systemimmanenten normalität.
*
edit 2 am 14.03.: jetzt wird´s abstrus:
(...)"Nun haben sich erstmals die Eltern des Jungen geäußert. Sie teilten über ihren Anwalt mit, dass ihr Sohn nie in psychotherapeutischer Behandlung gewesen sei. Damit dementierten sie bisherige Behördenangaben und erklärten weiter, Tim K. sei deswegen auch in keiner Klinik behandelt worden.
Dagegen sagte Matthias Michel, der Ärztliche Direktor des Klinikums am Weißenhof, dem Südwestrundfunk: Der 17-Jährige wurde "auf ambulanter Basis" insgesamt fünf Mal in der Kinder- und Jugendpsychiatrie behandelt. Dabei seien mehrere Tests durchgeführt und eine weitere Behandlung in Winnenden empfohlen worden. Dies habe er aber abgelehnt."(...)
das spricht für mich deutlich! dafür, sich wirklich genauer mit den eltern zu beschäftigen - mit diesem inhalt ihrer ersten öffentlichen stellungnahme, die - zumindest habe ich nichts dergleichen gefunden - keinesfalls als erstes auf das leid der opfer ihres sohnes eingeht, sondern sich betont von einem möglichen hintergrund namens psychische krankheit distanziert, machen sie vor allem deutlich, dass ihnen ihr eigenes verdammtes öffentliches image am wichtigsten ist - "nicht so vorrangig, dass unser sohn ein mehrfacher mörder geworden ist - aber ein psycho war er auf keinen fall". ich finde diese schwerpunktsetzung gerade vor dem hintergrund der sehr wahrscheinlichen tatsache, dass diese eltern bis auf weiteres gesellschaftlich in gewissem sinne erledigt sind, absolut aufschlußreich.
ebenfalls so ein statement:
(...)"Der 17-jährige Tim K. sei ein "ganz normaler, ruhiger Junge" gewesen, sagte Tims Oma Ruth K. in der Bild-Zeitung. "Wir können es immer noch nicht fassen", wird die 82-Jährige zitiert. "Er war doch so ein lieber Kerl." Noch am vergangenen Sonntag sei Tim mit seinen Eltern zu Besuch gewesen. Er sei ruhig gewesen, aber nicht ruhiger als sonst. "Er hat mit der Katze auf dem Boden gelegen und geschmust. Das hat er immer gerne gemacht", sagte der Großvater des Amokläufers, Wilhelm K.."(...)
wenn in zusammenhang mit solch einer tat worte wie "normal, ruhig, lieber kerl" fallen, gehen bei mir alle alarmleuchten an:
(...)"auffällig sind für mich u.a. die fast schon als klischeé anzusehenden aussagen über das "vertrauenswürdige" und "nette" auftreten des täters (gerne in diesem kontext auch "normal" und "unauffällig") - wie sie z.b. häufiger ebenfalls nach sog. amokläufen oder auch "banalen" mordgeschichten zu hören und zu lesen sind. möglicherweise ist dabei ein kern von wahrheit, der aber imo eher etwas über die wahrnehmungsfähigkeiten derjenigen aussagt, die solche bemerkungen wie zitiert von sich geben. eine vorläufige hypothese dazu könnte vielleicht so aussehen, dass die betreffenden regelmässig ihre informationen über andere menschen primär aus a) äusserlichkeiten und b) "normgerechten verhalten" (gekoppelt mit "autorität", bspw. einer beamteten stellung, besonders wirkungsvoll) ziehen -(...)"
die ständige betonung des attributs "ruhig" im zusammenhang mit tim k. verstehe ich hinsichtlich derjenigen seines umfelds, die dieses wort ernsthaft zur beschreibung benutzen, als ausdruck einer verschwiegenen gleichung im hintergrund:
"ruhig" = hat uns nicht gestört
ich lege mich an dieser stelle fest und behaupte, dass innerhalb solcher familienverhältnisse ein großteil der erklärung für diesen "amok" mit zu suchen ist - die eltern machen mit ihrem versuch, das bild dieser familie selbst vor dem hintergrund eines massenmordes ausgerechnet von dem scheinbaren "makel" einer möglichen psychophysischen störung freizuhalten, mehr über sich deutlich, als ihnen selbst klar sein dürfte. wobei die fragen nach einer möglichen medikamentösen behandlung von tim k. und seinem verhältnis zu frauen weiterhin solange relevant bleiben, bis eine befriedigende klärung vorhanden ist.
*
edit am 17.03.: damit es nicht verlorengeht - der mainstream bringt aktuell endlich mal les- und diskutierbares zum vorschein. die gedanken einer lehrerin bringen wichtige realitätsfragmente zum vorschein...
(...)"A. berichtet halb belustigt, dass die neuen Schüler ihrer fünften Klasse mit dem Kopf in die Toilettenschüssel oder einen Eimer getaucht wurden. "Das musste halt jede aushalten in dem katholischen Mädchengymnasium", grinst sie. "Bei uns war auch so ein Typ", erzählt S. mit lauter fester Stimme, "der war irgendwie anders und immer allein. Der saß immer einsam auf einer Mauer in der Schule. Irgendwann fingen alle an, zum Spaß mit Bällen auf den zu werfen. Da saß dieser Typ ganz allein auf der Mauer und alle haben ihn beworfen und gelacht. Und die Lehrer haben dem nicht geholfen."
"Jeder hat eben so einen kleinen Amokläufer in sich", meint J. "Ja, und das Ganze fängt schon viel früher an", so S. "Das fängt doch in der Schule an. Da kann man sich nicht wehren. Man wird verprügelt und die Lehrer schauen weg. Okay, wenn sich zwei Banden schlagen, dann gehen sie vielleicht dazwischen. Aber wenn ein Einzelner fertiggemacht wird, dann spielen sie immer alles runter." "Klar", bestätigt P., "und dann kommt man nach Hause und keiner ist da, weil die Eltern arbeiten gehen müssen."
"Jeder", so S. wieder, "ist doch heutzutage nur noch mit sich selbst beschäftigt und denkt 'Mein Leben ist scheiße'. Man merkt überhaupt nicht mehr, wie es den anderen geht, weil man sich dauernd was vormacht. Da sitzen lauter Einzelne und keiner weiß, wie es dem anderen wirklich geht."(...)
...die in der zeit auf einen ganz zentralen aspekt gebracht werden:
(...)"Mörder sind Amokläufer wie Tim K. geworden, weil sie die Empathie, die Fähigkeit zum Mitfühlen mit anderen verloren oder nie gelernt haben. Unverschuldeter Empathieverlust und schuldhafte Gleichgültigkeit zwischen den Generationen ist jedoch ein Merkmal unserer Zeit."(...)
der sogleich in einem lesenswerten userkommentar präzisiert und auf seine historischen füße gestellt wird. und zum weiter oben bereits benannten aspekt der offensichtlichen "schande" der familie k. bezgl. einer möglichen psychiatrischen behandlung ihres sohnes ist ein weiterer artikel zum "tabuthema psychiatrie" empfehlenswert.
*
edit am 13.03.: dieses update erstelle ich mit einigem widerwillen, was vor allem an der größtenteils unterirdischen öffentlichen "diskussion" liegt - wie eine eins-zu-eins-wiederholung dessen, was schon bei "emsdetten" und "erfurt" zu lesen und zu hören war. prinzipiell sehe ich keinen anlaß, von den im eingangs verlinkten beitrag zur kampfzone geäusserten positionen abzugehen. es gibt aber bei der jüngsten tat zwei aspekte (die dazu momentan als relativ gesicherte fakten gelten können), die ich bisher für unterbelichtet halte. der eine davon ist das thema der psychiatrischen behandlung einer depression bei tim k. - und die möglichen zusammenhänge einer solchen, im regelfall auch medikamentösen, therapie mit einer tat solchen kalibers hatte ich aus anlaß eines früheren "amoks" in den usa schon früher thematisiert:
(...)"was waren das für verschreibungspflichtige antidepressiva?
wenn es sich nämlich um sog. serotonin-wiederaufnahmehemmer gehandelt hat (heute bei schwereren depressionen durchaus verbreitet angewandte psychopharmaka), wäre es meiner meinung nach wichtig, sich genauer mit den folgenden fakten zu beschäftigen - ich zitiere aus einem telepolis-artikel vom januar 2005:
(...)"Das British Medical Journal berichtet. ihm sei im vergangenen Monat anonym vertrauliches Material zugespielt worden, welches einen kausalen Zusammenhang zwischen der Patienten-Medikation mit selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (SRRI, z. B. Prozac) und erhöhtem Hang zu Aggressionen, Gewalt und Suizid belege. Das Material wurde der US-Behörde für Arzneimittelsicherheit (FDA) zur Prüfung übergeben.
Bei den entsprechenden Dokumenten handele es sich anscheinend um interne Memos, Produktstudien und Bewertungspapiere des Pharmariesen Eli Lilly aus dem Jahr 1988, aus welchen klar hervorgeht, dass der Firma bekannt war, dass die Einnahme von Prozac zu einer signifikanten Zunahme von nervösen "Erregungszuständen" führen könne, was diese bisher stets bestritten hatte. Klinischen Tests zufolge sind bei 38% der damaligen Prozac-Probanden derartige Symptome aufgetreten."(...)
und speziell die folgende passage rumorte in meiner erinnerung, als ich vom jüngsten amokfall hörte:
"Pikanterweise waren eben diese Dokumente während des Wesbecker-Prozesses im Jahre 1994 verschwunden, wo sie als wichtige Beweismittel hatten dienen sollen. Der Journalist Joseph Wesbecker war 1989 mit einer 47er Magnum (kleiner fehler im tp beitrag, es war eine ak47, anmerkg. mo) Amok gelaufen und hatte dabei 8 Menschen erschossen und ein Dutzend verletzt. Eine lange Leidensgeschichte von Depressionen und Angstzuständen fand mit dem Suizid ein Ende. Einen Monat vorher hatte er auf Empfehlung seines Arztes begonnen Prozac zu nehmen.
Das Unternehmen wurde zwar mit 9 zu 3 Geschworenenstimmen freigesprochen; später kam jedoch ans Licht, dass die Firma die Kläger, Angehörige der Opfer, bereits vorher in einem geheimen Deal großzügig abgefunden hatte."(...)
alle notwendigen quellenlinks sind im beitrag zu finden; und ich finde, die damalige frage stellt sich auch hier - wie genau sah die therapie bei tim k. aus? der zuständige psychiater landet in seinem statement mal wieder beim klassiker "schizophrene psychose". das lässt sich zwar nicht völlig ausschließen, hat jedoch für die zuständige psychiatrie (als disziplin) und auch die gesellschaft den vorteil, dass in einem solchen fall tatsächlich niemand etwas hätte wissen und erst recht nicht tun können (eine solche psychose kann tatsächlich in ihrem verlauf relativ lange unerkannt bleiben, zumindest in einigen fällen). aber genau aus diesem grund finde ich solche erklärungen grundsätzlich etwas verdächtig, wenigstens solange, bis eine genauere untersuchung die medikamenten-frage geklärt hätte. aber gibt es daran von "offizieller" seite aus überhaupt ein wirkliches interesse?
dann: der verdacht des behandelnden psychiaters mutet vor dem hintergrund der allerorten als diagnose gehandelten depression schon seltsam an - depressionen gehören bei den psychiatrischen diagnosen noch zu denjenigen, die sich an sich spätestens im klinischen rahmen ganz gut abklären bzw. verifizieren lassen. und sie sind gleichfalls relativ gut in ihrer ätiologie erforscht, was bekanntlich längst nicht bei allen pathologischen psychophysischen zuständen der fall ist. das sich eine als solche diagnostizierte depression nun entweder in eine schizophrene psychose verwandelt haben oder aber mit der letzteren unerkannt als komorbidität existiert haben sollte, kommt mir vor dem hintergrund meines persönlichen wissen über depressionen doch recht unwahrscheinlich vor. falls sich das anders verhalten sollte, bitte ich um entsprechende korrekturen.
ebenfalls ist zu bedenken, dass ein ausgewachsener depressiver zustand (im klinischen sinne) normalerweise symptomatisch mit einer massiven handlungshemmung und allgemeiner motivationslosigkeit daherkommt - im extremfall kann jede bewegung und gar jeder gedanke so quälend und anstrengend für die betroffenen sein (die meist auch die gesamte außenwelt bzw. deren anforderungen als extrem überfordernd wahrnehmen), dass die typischen reaktionen in einer depression als eindeutig defensiv im sinne von rückzug, sozialer isolation, "verkriechen-wollen" und apathie zu verzeichnen sind. und gerade diesen defensiven reaktionen (die durchaus fatale folgen haben können), soll durch die meisten antidepressiva entgegengewirkt werden. was uns dann direkt zur ausgangsfrage zurückbringt.
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die zweite auffälligkeit bei dieser tat wird immerhin auch öffentlich als solche benannt:
(...)"Nach Angaben des baden-württembergischen Innenministers Heribert Rech suchte sich Tim K. vor allem Mädchen und Frauen als Opfer aus. So erschoss der 17-Jährige acht Schülerinnen sowie einen Schüler, ausserdem tötete er drei Lehrerinnen. Weiter habe sieben Schülerinnen durch Schüsse verletzt. Diese seien alle ausser Lebensgefahr.
Rech bezeichnete die überwiegende Zahl von weiblichen Opfern als «auffällig».(...)
das finde ich allerdings auch; und beim aktuellen wiederlesen des "kampfzonen"-beitrags hatte ich den eindruck, dass tim k. mit seinen bisher bekannten eigenschaften "recht stiller männlicher außenseiter, waffenfixiertheit und aller wahrscheinlichkeit etlichen beziehungsstörungen beim umgang mit frauen" fast perfekt ins raster der typischen (schul-)amoktäter passt. in diesem falle würde das aus meiner sicht deutlich auf ein starkes motiv von rache primär an den weiblichen objekten der begierde hindeuten. auch das könnte eigentlich durch eine genauere untersuchung von k.´s (nicht-)beziehungen zu jungen frauen abgeklärt werden, und das wären ebenso wie die frage nach seiner möglichen medikamention eigentlich die bisher sichtbaren primären punkte, die über die tathintergründe aufklären könnten. als drittes wären dazu selbstverständlich die verhältnisse in der familie unter die lupe zu nehmen - ohne einen ordentlichen anteil an innerfamiliären fehlentwicklungen lässt sich eine solche tat eines siebzehnjährigen ebenfalls nicht begreifen. und damit meine ich nicht die anscheinenden "schludrigkeiten" des vaters beim verwahren seiner waffen (interessanterweise kommt niemand auf die idee, dass es sich bei solchen angeblichen versäumnissen u.u. auch um verkappte aufforderungen eher unbewusster art handeln kann).
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das stichwort "familie" leitet dann über zur zweiten "amok"-tat dieser tage in den usa - genauer in alabama:
(...)"Alles deutet auf eine "Familientragödie" hin, wie man das gemeinhin nennt. McLendon hat seine Mutter erschossen, seine Großeltern und einen Onkel. "Er hat seine ganze Familie ausgelöscht", sagte Robert Preachers, Chefermittler in Coffee County, in dem der Amokschütze lebte.
Der junge Mann, Mitte 20, wohnte offenbar noch bei seiner Mutter. Sie hatte er am Dienstagnachmittag in ihrem Haus in Kinston unweit der Grenze zu Florida erschossen. Ihre Leiche hatte er auf ein Ecksofa gelegt, Decken über sie geworfen und angezündet. Das Haus brannte ab. Auch die vier Hunde seiner Mutter erschoss er. Danach fuhr er in die knapp 20 Kilometer entfernte Kleinstadt Samson im benachbarten Geneva County. Vor dem Haus seiner Großeltern eröffnete er das Feuer. Beide waren sofort tot wie auch ein Onkel McLendons. In einem Nachbarhaus tötete er einen weiteren Verwandten, in einem Haus schräg gegenüber die Frau eines Sheriffs und ihr Baby. Der Polist war später an der Verfolgung des Amokschützen beteiligt, ohne zu wissen, dass seine Familie unter den Opfern ist. McLendon fuhr anschließend durch den kleinen Ort und feuerte auf alles, was sich bewegte, ehe er an einer Tankstelle hielt. Dort erschoss er offenbar wahllos eine Frau und zwei weitere Autofahrer und stieg erneut in seinen Wagen ein.
Unterdessen hatte die Polizei die Verfolgung aufgenommen. Vor einer Metallfabrik hielt McLendon an und schoss auf seine Verfolger mit einem Schnellfeuergewehr. Der örtliche Polizeichef wurde dabei schwer verletzt. Der Täter flüchtete in das Fabrikgebäude und nahm sich dort das Leben."(...)
ich finde ja, dass hier die tat für sich selbst spricht - und vor allem erzählt sie von einem geplanten massaker aus vermutlichen rachemotiven, deren grundlage eindeutig innerhalb der familienverhältnisse zu suchen ist. speziell die mutter des täters wurde von diesem nicht nur "einfach" ermordet, sondern noch dazu ist deutlich sichtbar, dass er alles dafür tat, überhaupt alle zeichen für ihre existenz regelrecht auszulöschen - incl. haus & haustiere. die zielgerichtete fahrt zu den nächsten verwandten - leider wird nicht deutlich, ob das auch die großeltern mütterlicherseits waren - , macht aus meiner sicht ebenfalls klar, dass sich der täter zwar in einem psychophysischen ausnahmezustand befunden haben muss, der aber erst nach der primären tat zu einem echten amok mit dem kennzeichen des wahllosen mordens mutierte. sicher könnte auch hier eines jener klassischen psychiatrischen krankheitsbilder alá "schizophrene psychose" vorhanden gewesen sein, aber selbst in diesem falle wären die familienverhältnisse immer noch einer näheren betrachtung zwingend würdig. zu deutlich ist der vernichtungsdrang speziell gegenüber der mutter.
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wenn man also genauer hinschaut, bleiben solche taten wie die dargestellten durchaus nicht "unerklärliche einbrüche eines quasi metaphysischen bösen", wie das der offizielle diskurs einmal mehr suggeriert, sondern können uns etwas über ver-rückte gesellschaftliche verhältnisse in verschiedenen zusammenhängen erzählen. genau dieser schluß aber soll und darf nicht gezogen werden in "der-besten-aller-welten", weshalb die aktuell laufende offene krise dieses systems auch eine eigentlich wünschenswerte darstellt - der massenmord nicht nur bei solchen taten gehört letztlich zur systemimmanenten normalität.
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edit 2 am 14.03.: jetzt wird´s abstrus:
(...)"Nun haben sich erstmals die Eltern des Jungen geäußert. Sie teilten über ihren Anwalt mit, dass ihr Sohn nie in psychotherapeutischer Behandlung gewesen sei. Damit dementierten sie bisherige Behördenangaben und erklärten weiter, Tim K. sei deswegen auch in keiner Klinik behandelt worden.
Dagegen sagte Matthias Michel, der Ärztliche Direktor des Klinikums am Weißenhof, dem Südwestrundfunk: Der 17-Jährige wurde "auf ambulanter Basis" insgesamt fünf Mal in der Kinder- und Jugendpsychiatrie behandelt. Dabei seien mehrere Tests durchgeführt und eine weitere Behandlung in Winnenden empfohlen worden. Dies habe er aber abgelehnt."(...)
das spricht für mich deutlich! dafür, sich wirklich genauer mit den eltern zu beschäftigen - mit diesem inhalt ihrer ersten öffentlichen stellungnahme, die - zumindest habe ich nichts dergleichen gefunden - keinesfalls als erstes auf das leid der opfer ihres sohnes eingeht, sondern sich betont von einem möglichen hintergrund namens psychische krankheit distanziert, machen sie vor allem deutlich, dass ihnen ihr eigenes verdammtes öffentliches image am wichtigsten ist - "nicht so vorrangig, dass unser sohn ein mehrfacher mörder geworden ist - aber ein psycho war er auf keinen fall". ich finde diese schwerpunktsetzung gerade vor dem hintergrund der sehr wahrscheinlichen tatsache, dass diese eltern bis auf weiteres gesellschaftlich in gewissem sinne erledigt sind, absolut aufschlußreich.
ebenfalls so ein statement:
(...)"Der 17-jährige Tim K. sei ein "ganz normaler, ruhiger Junge" gewesen, sagte Tims Oma Ruth K. in der Bild-Zeitung. "Wir können es immer noch nicht fassen", wird die 82-Jährige zitiert. "Er war doch so ein lieber Kerl." Noch am vergangenen Sonntag sei Tim mit seinen Eltern zu Besuch gewesen. Er sei ruhig gewesen, aber nicht ruhiger als sonst. "Er hat mit der Katze auf dem Boden gelegen und geschmust. Das hat er immer gerne gemacht", sagte der Großvater des Amokläufers, Wilhelm K.."(...)
wenn in zusammenhang mit solch einer tat worte wie "normal, ruhig, lieber kerl" fallen, gehen bei mir alle alarmleuchten an:
(...)"auffällig sind für mich u.a. die fast schon als klischeé anzusehenden aussagen über das "vertrauenswürdige" und "nette" auftreten des täters (gerne in diesem kontext auch "normal" und "unauffällig") - wie sie z.b. häufiger ebenfalls nach sog. amokläufen oder auch "banalen" mordgeschichten zu hören und zu lesen sind. möglicherweise ist dabei ein kern von wahrheit, der aber imo eher etwas über die wahrnehmungsfähigkeiten derjenigen aussagt, die solche bemerkungen wie zitiert von sich geben. eine vorläufige hypothese dazu könnte vielleicht so aussehen, dass die betreffenden regelmässig ihre informationen über andere menschen primär aus a) äusserlichkeiten und b) "normgerechten verhalten" (gekoppelt mit "autorität", bspw. einer beamteten stellung, besonders wirkungsvoll) ziehen -(...)"
die ständige betonung des attributs "ruhig" im zusammenhang mit tim k. verstehe ich hinsichtlich derjenigen seines umfelds, die dieses wort ernsthaft zur beschreibung benutzen, als ausdruck einer verschwiegenen gleichung im hintergrund:
"ruhig" = hat uns nicht gestört
ich lege mich an dieser stelle fest und behaupte, dass innerhalb solcher familienverhältnisse ein großteil der erklärung für diesen "amok" mit zu suchen ist - die eltern machen mit ihrem versuch, das bild dieser familie selbst vor dem hintergrund eines massenmordes ausgerechnet von dem scheinbaren "makel" einer möglichen psychophysischen störung freizuhalten, mehr über sich deutlich, als ihnen selbst klar sein dürfte. wobei die fragen nach einer möglichen medikamentösen behandlung von tim k. und seinem verhältnis zu frauen weiterhin solange relevant bleiben, bis eine befriedigende klärung vorhanden ist.
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edit am 17.03.: damit es nicht verlorengeht - der mainstream bringt aktuell endlich mal les- und diskutierbares zum vorschein. die gedanken einer lehrerin bringen wichtige realitätsfragmente zum vorschein...
(...)"A. berichtet halb belustigt, dass die neuen Schüler ihrer fünften Klasse mit dem Kopf in die Toilettenschüssel oder einen Eimer getaucht wurden. "Das musste halt jede aushalten in dem katholischen Mädchengymnasium", grinst sie. "Bei uns war auch so ein Typ", erzählt S. mit lauter fester Stimme, "der war irgendwie anders und immer allein. Der saß immer einsam auf einer Mauer in der Schule. Irgendwann fingen alle an, zum Spaß mit Bällen auf den zu werfen. Da saß dieser Typ ganz allein auf der Mauer und alle haben ihn beworfen und gelacht. Und die Lehrer haben dem nicht geholfen."
"Jeder hat eben so einen kleinen Amokläufer in sich", meint J. "Ja, und das Ganze fängt schon viel früher an", so S. "Das fängt doch in der Schule an. Da kann man sich nicht wehren. Man wird verprügelt und die Lehrer schauen weg. Okay, wenn sich zwei Banden schlagen, dann gehen sie vielleicht dazwischen. Aber wenn ein Einzelner fertiggemacht wird, dann spielen sie immer alles runter." "Klar", bestätigt P., "und dann kommt man nach Hause und keiner ist da, weil die Eltern arbeiten gehen müssen."
"Jeder", so S. wieder, "ist doch heutzutage nur noch mit sich selbst beschäftigt und denkt 'Mein Leben ist scheiße'. Man merkt überhaupt nicht mehr, wie es den anderen geht, weil man sich dauernd was vormacht. Da sitzen lauter Einzelne und keiner weiß, wie es dem anderen wirklich geht."(...)
...die in der zeit auf einen ganz zentralen aspekt gebracht werden:
(...)"Mörder sind Amokläufer wie Tim K. geworden, weil sie die Empathie, die Fähigkeit zum Mitfühlen mit anderen verloren oder nie gelernt haben. Unverschuldeter Empathieverlust und schuldhafte Gleichgültigkeit zwischen den Generationen ist jedoch ein Merkmal unserer Zeit."(...)
der sogleich in einem lesenswerten userkommentar präzisiert und auf seine historischen füße gestellt wird. und zum weiter oben bereits benannten aspekt der offensichtlichen "schande" der familie k. bezgl. einer möglichen psychiatrischen behandlung ihres sohnes ist ein weiterer artikel zum "tabuthema psychiatrie" empfehlenswert.
monoma - 11. Mär, 12:59
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