Sonntag, 15. Juni 2008

basis: über das mögliche wesen und die neurophysiologischen grundlagen der paranoia (update)

so, da die paranoia in vielen der letzten beiträge hier und den alltäglichen schnüffelnews aus staat und wirtschaft ständig präsent ist, nehme ich das zum anlaß, diesen lange in der warteschleife hängenden beitrag jetzt einfach fertigzustellen. und dabei werde ich versuchen, den neulich hier geäusserten vorsatz auch entsprechend umzusetzen:

"...wo u.a. auch deutlich werden soll, dass die paranoia zwangsweise eine getreue begleiterin all derjenigen ist, die ihr als-ob-leben ganz oder teilweise im objektivistischen modus fristen (müssen)."

also, treten wir ein in die (virtuellen) welten der angst und des misstrauens.

*

eine der besten mir bis dato bekannten einführungen in diese welten liefert der us-amerikanische psychiater und forensische gutachter roland k. siegel in seinem buch
Der Schatten in meinem Kopf - Geschichten aus der Welt des Wahnsinns

Siegel - Schattencover

siegel beschreibt darin wirklich drastische fälle aus seiner gutachterlichen praxis, die sich hauptsächlich, aber nicht nur, um kokaininduzierte paranoide zustände drehen. was dabei so besonders ist: er versucht als gutachter in einer recht unorthodoxen art & weise, sich in die erlebniswelten seiner "klienten" so weit wie möglich hineinzuversetzen, d.h. er konstruiert sich so weitgehend realitätsgetreu wie möglich simulationen derjenigen umstände und situationen, von denen die betroffenen als bedeutungsvoll berichten und in denen sie in ihre offen paranoiden phasen eingetreten sind. seine teils sarkastische sprache und seine dialoge mit einem befreundeten - und sehr orthodox ausgerichteten - psychoanalytiker über verschiedene fälle machen das buch sehr lesenswert, ebenso die blinden flecke, die in seiner wahrnehmung und auch der des freundes deutlich werden - vom womöglich neuen blick auf das "hippe" kokain und seine folgen bei chronischem gebrauch nicht zu reden.

zunächst aber die erwähnte einführung:

(...)"Im Lexikon werden Sie Paranoia nicht finden. Das Wort ist wohl da, nicht aber das Gefühl. Der Ausdruck stammt aus dem Griechischen und bezeichnete ursprünglich einen gequälten Geist. Aber gequält wovon? Die Definition sagt: von der Einbildung, daß man von jemandem verfolgt wird. Doch wenn du unter Paranoia leidest (also paranoid oder ein Paranoiker bist), dann weißt du, daß all das keineswegs nur Einbildung ist. Die Leute verfolgen und quälen dich wirklich. Wer sind diese Leute? Warum verfolgen sie dich? Was wollen sie von dir? Das Lexikon bietet hier nur wenige Hinweise.

Du bist das Ziel einer weitverzweigten Verschwörung geworden, die wie ein unsichtbares Netz den ganzen Erdball umspannt. Sie steckt in Telefondrähten und Zeitungen, womöglich auch in Lexika. Sie quillt aus Radios und Fernsehgeräten. Sie schleicht sich ein in die Herzen und Köpfe deiner Verwandten und Freunde. Sie greift nach dir. Es kann viele Gründe geben, weshalb man gerade dich ausgewählt hat. Die Leute beneiden dich. Schließlich bist du klüger und besser als die anderen. Sie sind hinter deinem Wissen her, hinter deinem Job, vielleicht auch hinter deinem Ehegatten. Das Lexikon sagt, viele Paranoiker empfänden sich als grandios und allmächtig, aber das Lexikon hat keine Ahnung. Du besitzt tatsächlich außergewöhnliche Fähigkeiten als Wissenschaftler, Erfinder, Liebhaber oder Prophet.

Deshalb bist du ja so anziehend, so anregend, so beneidenswert. Es gibt nichts im Leben, das du nicht erreichen könntest. Du ziehst die Aufmerksamkeit der Präsidentengattin auf dich. Sie verliebt sich in dich. Natürlich kann sie dir unmöglich eine offene Liebeserklärung machen, aber sie zeigt dir heimlich ihre Liebe indirekt auf vielerlei Weise. Ihr Mann erfährt von ihren heimlichen Gefühlen und geht zum Angriff über. Er schickt dir das FBI, den Geheimdienst und schließlich die Mafia auf den Hals. Du wehrst dich mit Strafanzeigen gegen die Regierung und die Telefongesellschaft.

Dein Chef beschwert sich, du seist in deiner Arbeit nicht mehr bei der Sache. Du kündigst und verklagst ihn. Er hat dich nie anständig behandelt, jetzt soll er dafür bezahlen. Fragt dich deine Frau, ob etwas nicht in Ordnung ist, reichst du die Scheidung ein. Der Hund und die Katze sehen dich immer merkwürdiger an. Du kannst ihnen nicht mehr vertrauen. Zu Hause bist du nicht mehr sicher, also ziehst du aus. Du übernachtest in Motels, jede Nacht in einem anderen, damit deine Feinde die Spur verlieren. Du verkriechst dich unter einer Decke, die du mit Stanniolpapier überziehst, um dich vor den sterilisierenden Strahlen zu schützen, mit denen sie dir auf den Leib rücken. Und du wartest. Du hast Zeit, über das ganze Geschehen der Vergangenheit nachzudenken und nach geheimen Bedeutungen zu suchen, die dicht unter der Oberfläche verborgen liegen.

Plötzlich ist alles klar. Du siehst förmlich, wie das Netz sich langsam um dich zuzieht. Und du hörst die Stimmen, die sich gegen dich verschwören. Deine Haut reagiert mit Ausschlägen, dort, wo die Strahlen sie getroffen haben. Schwächere Naturen wären längst vor Angst gestorben. Aber du bist stark. Du weißt, wer deine Feinde sind und wo sie wohnen. Es ist Zeit, zu handeln.

Paranoide Episoden wie die oben geschilderte zeigen gewöhnlich eine schrittweise Entwicklung vom leisen Verdacht und Mißtrauen bis hin zu
massiven Wahnvorstellungen und voll ausgebildeten Halluzrnationen. Am Anfang mag nur das vage Gefühl stehen, daß die normale Welt ein wenig
von ihrer Normalität verloren hat. Langsam und kaum merklich schleicht sich ein Verdacht ein. Halluzinierte Bilder und Geräusche bestätigen diesen Verdacht. Gewöhnlich entwickelt sich dieser Zustand über Monate oder Jahre hinweg. Unter dem Einfluß bestimmter Drogen wie Kokain oder Metamphetamin kann sich der Verlauf auf wenige Stunden verkürzen. Doch ob mit oder ohne Drogen, die Paranoia ist dieselbe.

Wirklich erschreckend ist der Gedanke, daß wir alle die Wurzeln der Paranoia in uns tragen; und dieser Gedanke ist in der Tat geeignet, uns alle in einen vollentwickelten paranoiden Zustand zu versetzen. Der »paranoide Zug«, von dem der Philosoph Arthur Koestler spricht, ist untilgbarer Teil der menschlichen Natur Es wird wohl schon ein jeder einmal das beängstigende Gefühl gehabt haben, da draußen sei etwas, das auf ihn warte und es auf ihn abgesehen habe. Dunkelheit und Einsamkeit begünstigen das Aufkommen dieses Gefühls. Viele haben solche Erlebnisse, wenn sie nachts allein im Haus sind oder im Dunkeln eine unbekannte Straße entlanggehen. Andere mögen gelegentlich das unbestimmte Gefühl haben, ihr Lebensweg werde von Neidern bedroht, die sie beim Namen nennen können oder aber gar nicht kennen. Das Wesen, das wir alle fürchten, der Dämon Paranoia, ist nicht »da draußen«; er lauert im Dunkel unseres eigenen Gehirns.

Tief im Innern des Gehirns, unterhalb des »denkenden« Teils der Großhirnrinde, befinden sich eine Neuronengruppe und hormonproduzierende Strukturen, die wir das limbische System nennen: das neurophysiologische Versteck des Dämon Paranoia. Seit mehr als zweihundert Millionen Jahren begleitet es unsere Evolution. Dieses hufeisenförmige Areal wird gelegentlich auch das »Säugetiergehirn« genannt, weil es bei den Säugern am höchsten entwickelt ist. Ein Glück für uns, denn das limbische System ist maßgeblich an der Aufrechterhaltung wichtiger homöostatischer Prozesse wie der Regulierung der Körpertemperatur beteiligt. Ohne das limbische System glichen wir den Kaltblütern, etwa den Reptilien, die einen Großteil ihrer Zeit darauf verwenden, zwischen Sonne und Schatten zu wechseln, um ihre Temperatur zu regulieren. Außerdem steuert das limbische System Reaktionen, die von großer Bedeutung für unser Uberleben sind, zum Beispiel die Schutzmechanismen des Kampfes oder der Flucht.

Ein wenig verkürzt könnte man das limbische System durch vier wichtige Überlebensfunktionen definieren: Fressen, Kampf, Flucht und Fortpflanzung. Die Schaltkreise im tiefer gelegenen Teil des limbischen Systems sind ständig damit beschäftigt, unser Überleben zu sichern. Die höher
gelegenen Teile haben etwas mit unseren Emotionen zu tun. Elektrische Erregung in den unteren Bereichen kann in den oberen Regionen Gefühle
auslösen. Spontan geschieht dies bei einem bestimmten Typus psychomotorisch-epileptischer Anfälle, die den Patienten ein unangenehmes Angstgefühl bereiten - ein rohes, primitives Gefühl, das tief aus dem Körper kommt. Vielleicht wird das limbische System deshalb gelegentlich auch das viszerale Gehirn genannt. Es fühlt. Wir können diese Gefühle nicht abschütteln. Dann übernehmen die »denkenden« Areale das Feld. Es kommt zu einer intellektuellen Fixierung auf die Angstanwandlungen im tiefer gelegenen System. Die Angst erzeugt eine Vorahnung und warnt vor drohenden Gefahren. Bedrängt von dieser tiefsitzenden Angst sucht der Verstand nach Erklärungen. Er gelangt zu dem Schluß, daß irgend etwas dich
verfolgt. Das Gehirn ist in die Fänge der Paranoia geraten.

Wenn der Dämon Paranoia Epileptiker befällt, verzerren sich ihre Züge vor Furcht und sie bewegen hastig und ausweichend Kopf und Augen.
Neurophysiologen haben Elektroden ins Gehirn solcher Patienten eingepflanzt und dabei festgestellt, daß in solchen Augenblicken starke elektrische Ströme das gesamte limbische System durchfluten. Dennoch gibt es keinen Beleg für die Annahme, neuropathologische Abnormitäten wie Epilepsie wären die Voraussetzung für paranoides Erleben. Tatsächlich können Neurologen mit elektrischer oder chemischer Stimulation solche Reaktionen auch bei normalen Personen auslösen. Die Forschung sagt uns etwas über die Hirnareale und die neurologischen Mechanismen der Paranoia. Und sie zeigt, daß wir alle dieselbe Grundausstattung geerbt haben. Der Dämon des limbischen Systems war schon unserer Begleiter, lange bevor wir zivilisierte Primaten wurden. Das dürfte auch der Grund sein, weshalb das Gefühl Paranoia so uralt zu sein scheint. Es besaß enorme Bedeutung für unser Überleben. Als die ersten Menschen aus ihren Höhlen hervorkamen, lauerten allenthalben Gefahren auf sie. Unfälle, Krankheit und Gewalt führten bei den allermeisten zu einem frühen Tod. Die Paranoia wurde zu einem wichtigen Anpassungsmechanismus, der das Überleben sicherte. Und so wurde sie ein Teil von uns.

Hippokrates und andere griechische Ärzte hielten die Paranoia für eine Krankheit von derselben Art wie die Epilepsie. Als Paranoiker bezeichneten sie Menschen, die buchstäblich »daneben« oder nicht mehr bei Verstand waren. Noch heute halten die meisten Psychiater die Paranoia für eine Geisteskrankheit, auch wenn sie lieber von »Störungen« sprechen. Doch solche Charakterisierungen sind irreführend. Paranoid zu sein oder einen paranoiden Zug zu haben bedeutet nicht notwendigerweise, daß man krank ist und einer Behandlung bedarf. Ohne Zweifel gibt es hier ein Kontinuum, das von milden paranoiden Anwandlungen bis hin zu einem heftigen, psychotischen Bruch mit der Realität reicht. Es mag berechtigt sein, paranoide Psychotiker wie Hitler oder Stalin krank oder gestört zu nennen, doch für die vielen nichtpsychotischen Fälle, in denen der alltägliche Streß zu leichteren Formen paranoider Anwandlungen führt - also für die meisten von uns - wäre diese Kennzeichnung ungerecht. Immerhin gibt es wenigstens einen namhaften Vertreter der heutigen Psychiatrie, der mit Vorliebe sagt, Paranoia sei gelegentlich der beste Weg, mit dem Leben fertigzuwerden.

Das Wesen der Paranoia in all ihren Formen ist eine spezielle Denkweise. Und das wichtigste Merkmal paranoiden Denkens ist das Mißtrauen. Tatsächlich benutzen die meisten Menschen den Ausdruck paranoid zur Kennzeichnung eines übertrieben mißtrauischen Menschen. Doch das mißtrauische Denken eines Paranoikers ist mehr als normale Vorsicht oder bloßer Argwohn, wie das Wort paranoid sie impliziert. Die Dinge sind ihm buchstäblich suspekt, das heißt, sie nötigen ihn, hinter die Dinge zu schauen, unter der Oberfläche nachzusehen, alles einer genauen Prüfung zu unterziehen und nach Hinweisen zu suchen, die sein Mißtrauen und seinen Verdacht bestätigen. Das erfordert größte Aufmerksamkeit, ein Höchstmaß an Wachsamkeit und eine Hypersensibilität für jedes noch so kleine Detail. Der Paranoiker verbeißt sich in diese Details, bläht ihre Bedeutung auf und baut sie dann in ein logisch-systematisches Muster ein. Während er seine Umwelt absucht, revidiert er das Muster unablässig, um dessen Glaubwürdigkeit abzusichern. Der Paranoiker wird rigide und unflexibel. Er ist auf jede erdenkliche Bedrohung gefaßt. Mehr als alles andere fürchtet er, die Kontrolle oder seine persönliche Autonomie zu verlieren. Er muß ständig auf der Hut vor äußeren Mächten oder Autoritäten sein.

Ein weiteres Merkmal paranoiden Denkens ist die Feindseligkeit. Der Paranoiker ist davon überzeugt, daß Teile seiner Umwelt finstere Absichten gegen ihn hegen. Und so entwickelt er ein defensives, auf ständige Abwehr programmiertes Verhältnis zur Welt. Sein Verhalten ist vielfach von Unwillen, Ärger und Feindseligkeit geprägt; dadurch provoziert er bei anderen jene Feindseligkeit, die nun ihrerseits seine ursprünglichen Befürchtungen bestätigt. In diesem Sinne ist der arme Paranoiker tatsächlich ein Verfolgter Aber es bleibt dabei, der wirkliche Feind ist der Dämon in ihm selbst. Mißtrauen und Feindseligkeit bereiten den Weg für eingebildete Wahrnehmungen. An diesem Punkt kann ein weiteres charakteristisches Merkmal paranoiden Denkens - die Projektion - ins Spiel kommen und dem Paranoiker Dinge vorgaukeln, die eines erstklassigen Zauberkünstlers würdig wären. Die Projektion ist ein unbewußter Abwehrmechanismus, durch den emotional unannehmbare Strebungen oder Spannungen abgewiesen und anderen zugeordnet (oder auf sie projiziert) werden. In der starren Ökonomie der reinen Überlebenstechniken ist dieses Vorgehen durchaus sinnvoll, denn vor einem bedrohlichen äußeren Feind kann man leichter fliehen als vor einem inneren. Die Projektion ist keineswegs immer anomal. Kinder greifen nach diesem Mittel, wenn sie sich in magische Phantasien flüchten, um mit der Welt fertigzuwerden. Und auch uns Erwachsenen ist sie nicht fremd, wenn wir andere für unsere Gefühle oder unser eigenes Versagen verantwortlich machen. Doch der Paranoiker geht einen Schritt weiter; er leugnet seine eigenen Gefühle und projiziert sie auf andere. So kann ein Paranoiker sagen: »Nicht ich hasse sie, vielmehr hassen sie mich und wollen mich zerstören.«(...)

(aus: siegel, ronald k. "der schatten in meinem kopf"; s.11 - 16; eichborn; frankfurt a.m. 1996; isbn 3-8218-1402-0)


soweit mir bekannt ist, wird die "reine" form der paranoia - also "für sich" stehend als paranoide persönlichkeitsstörung - als diagnose heute kaum vergeben; meist tritt sie als zusätzliches attribut, etwa bei der paranoiden schizophrenie, in erscheinung. wenn man sich aber mit den verschiedenen heutigen psychiatrischen diagnosen beschäftigt, wird deutlich, dass ihre wesentlichen zutaten - ängste, misstrauen, und vor allem die konstruktion entsprechend aussehender quasivirtueller welten - bei sehr vielen diagnostischen modellen implizit vorhanden sind. dann ist ebenfalls die erwähnte funktion des limbischen systems hinsichtlich flucht- und/oder kampfsituationen von bedeutung, gerade bezüglich (post-)traumatischer zustände. und am wichtigsten ist vielleicht die feststellung, dass es fließende übergänge zwischen real begründeten ängsten und paranoiden wahngebilden gibt - das ist eine situation, die für alle, die sich heute mit destruktiven gesellschaftlichen entwicklungen beschäftigen, sehr relevant ist - als beispiel sei hier nur der breite und bunte bereich diverser verschwörungstheorien genannt, bei dem sich mehr oder weniger große teile paranoiden denkens und fühlens ohne größere probleme finden lassen. gleichzeitig aber lässt sich ebenfalls hier auch der beleg für die oben erwähnte aussage finden, paranoia "sei bisweilen der beste weg, um mit dem leben fertig zu werden".
der "gladio"-komplex bspw. enthält so ziemlich alle zutaten für eine wüste verschwörungstheorie unter beteiligung diverser geheimdienste, faschisten, geheimlogen etc. sowie verschwundenen zeugen, dokumenten, vertuschungsaktionen und intrigen - aber das alles war bzw. ist in einem gewissen sinne immer noch realität.

andererseits ließe sich auch sagen, dass derartige projekte ausdruck hochgradiger paranoia bei ihren protagonisten darstellen - die paranoia steckt hier nicht nur im detail, sondern ist geradezu systembedingt und womöglich in einem gewissen ausmaß auch systemkonstituierend.

mich interessieren nun besonders funktion, auftreten und ausmaß der paranoia hinsichtlich dreier themenkomplexe, die hier im blog immer wieder von bedeutung sind - zunächst zum
trauma in all seinen möglichen erscheinungsformen.

das man-made-violence-traumatisierte menschen i.d.r. einen höheren grad von misstrauen und auch ängstlichkeit gegenüber anderen menschen aufweisen all jene, die das glück hatten, bisher von traumatischen erlebnissen verschont zu bleiben, ist ein banaler gedanke. weitergedacht bedeutet das aber auch, dass hier eine größere anfälligkeit für paranoides empfinden zu vermuten ist - die erfahrungen von feindseligkeit seitens der mitmenschlichen umwelt, die in dem oder den traumatischen erlebnissen eingefroren sind, sorgen sowohl für eine übersteigerte wachsamkeit gegenüber dieser umwelt generell, als auch für schnelles triggern der erwähnten flucht- oder kampffunktion, die als überlebensfunktion in uns "eingebaut" ist. wie das dann individuell aussieht, kann sehr verschieden sein - jedoch ist die relative soziale isolation, in der sich traumatierte menschen oftmals wiederfinden, auch ein ergebnis der aus dem oben skizzierten resultierenden verhaltensweisen sowie der reaktionen der umwelt auf die selbigen.

es ist eine der schwächen bei siegels beschreibungen, dass er für diesen aspekt der paranoia - die begleitung bzw. genese aus traumaindizierten störungen - praktisch blind ist, obwohl er an mehreren stellen faktisch genau diese tatsache beschreibt - so zb. dann, wenn er migranten als eine paranoiaanfällige gruppe skizziert, die aufgrund von feindseligkeit der umwelt - genauer wäre es, hier rassistische affekte und aktionen zu benennen - in diesen wahrnehmungsmodus gedrängt wird. ebenfalls führt er mehrere biographische beispiele seiner klienten auf, bei denen eine gewalttätige kindheit im hintergrund deutlich wird - mit diesem wissen werden die späteren paranoiden episoden anders und besser verständlich, als die (zu) sehr auf das gehirn starrende wahrnehmung siegels sowie die schon teils grotesk anmutenden psychoanalytischen konstrukte seines freundes sie erklären können. das buch ist auch ein schönes beispiel für neurologische bzw. psychoanalytische betriebsblindheit, besonders bezgl. der sozialen umstände, in denen die paranoia gedeihen kann.

aber zurück: wenn wir uns jetzt die indizien dafür in erinnerung rufen, die dafür sprechen, kollektive traumata in vielen gesellschaften als eine wichtige und "die normalität" strukturierende matrix im hintergrund als real zu begreifen, wird auch die mehr oder weniger stillschweigende beliebtheit des leninschen satzes "vertrauen ist gut, kontrolle ist besser" verständlich - das ist eigentlich ein satz, der zum verständnis der meisten psychophysischen störungen dienen könnte, bei denen die authentischen beziehungsfähigkeiten so geschädigt sind, dass sich die wahrnehmung hin zu den kompensatorischen und objektivistischen surrogaten bewegt.

das stichwort gerade führt zum zweiten thema, dem
objektivistischen modus der menschlichen wahrnehmung. siegels sätze oben

"Es kommt zu einer intellektuellen Fixierung auf die Angstanwandlungen im tiefer gelegenen System. Die Angst erzeugt eine Vorahnung und warnt vor drohenden Gefahren. Bedrängt von dieser tiefsitzenden Angst sucht der Verstand nach Erklärungen. Er gelangt zu dem Schluß, daß irgend etwas dich verfolgt."

sowie

"Das erfordert größte Aufmerksamkeit, ein Höchstmaß an Wachsamkeit und eine Hypersensibilität für jedes noch so kleine Detail. Der Paranoiker verbeißt sich in diese Details, bläht ihre Bedeutung auf und baut sie dann in ein logisch-systematisches Muster ein. Während er seine Umwelt absucht, revidiert er das Muster unablässig, um dessen Glaubwürdigkeit abzusichern. Der Paranoiker wird rigide und unflexibel. Er ist auf jede erdenkliche Bedrohung gefaßt. Mehr als alles andere fürchtet er, die Kontrolle oder seine persönliche Autonomie zu verlieren. Er muß ständig auf der Hut vor äußeren Mächten oder Autoritäten sein."

enthalten aus meiner perspektive bereits viel von den im verlinkten beitrag beschriebenen funktionsprinzipien des objektivistischen modus. in kürze:

sinneswahrnehmungen werden von einem - aus welchen gründen auch immer - materiell geschädigten wahrnehmungssystem erfasst und (fehl-)interpretiert, wobei für die fehlinterpretationen dann bereits die kompensatorisch einspringenden objektivierenden-abstrahierenden und vor allem konstruktivistisch tätigen funktionen in uns verantwortlich sind. da wir bei der paranoia von übersteigerten ängsten und misstrauen reden, ergibt sich das beschriebene aller wahrscheinlichkeit immer dann, wenn unklarheiten und ungewißheiten bezgl. bedrohlicher lebensumstände von menschen wahrgenommen werden, die das nötige weltvertrauen bzw. die nötigen positiven beziehungserfahrungen nicht oder nur unvollständig vermittelt bekommen und erfahren haben. das leben bietet bekanntlich ständig mehr oder weniger undurchschaubare momente, die aber mit korrekt funktionierenden wahrnehmungsoptionen und dem nötigen grundvertrauen durchaus toleriert werden können - wenn aber beides nicht oder nur rudimentär vorhanden ist, steigt die wahrscheinlichkeit für paranoide zustände rapide an, bedingt durch unsere neurophysiologische ausstattung und deren funktionsgesetze (soweit sie bisher erkennbar sind).

vor dem hintergrund der these von vergangenen und aktuellen kollektiven traumata verwundert dann auch die beliebtheit von verschwörungstheorien oder gar blanken wahnkonstrukten wie dem antisemitismus der nazis nicht mehr: korrekt funktionierende und ganzheitliche wahrnehmungsfähigkeiten dürften ebenso wie das benannte grundvertrauen immer noch nur bei einer minderheit aller bisher lebenden menschen realität (gewesen) sein - und die suche nach schuldigen und ursachen für die eigenen ängste und begründungen für das eigene misstrauen sind dann am befriedigsten, wenn personalisierte antworten gegeben werden können - konkrete übeltäter, bei denen dann auch noch die erwähnte projektion ins spiel kommt.

und genau aus diesen gründen gehe ich von dem aus, was ich anfangs zitiert hatte: für all jene, die sich dominant und funktionell und strukturell in einem objektivistischen wahrnehmungsmodus befinden, ist eine latente oder auch manifeste paranoia eine treue begleiterin. dieser umstand lässt sich auch als eine weitere motivation dafür begreifen, machtpositionen anzustreben: sie bieten sowohl (scheinbare) sicherheiten als auch die möglichkeiten, weitgehende kontrolle auszuüben, und derart das scheinbar bedrohliche außen in den griff zu bekommen. wie so etwas dann konkret auf den kontrollaspekt bezogen aussehen kann, lässt sich momentan tag für tag in den nachrichten betrachten.

mit authentischer sozialität hat das alles natürlich mal wieder nix zu tun, sondern eher mit einem weiteren aspekt, anhand dessen sich die diagnose einer tiefgreifenden gesellschaftlich-sozialen pathologie stellen lässt.

ein besonders gefährliches problem ergibt sich bei der paranoia aus der figur des verfolgenden verfolgten (als mertz-leserIn werden Sie sich vielleicht an sein modell der kontrolle-gegenkontrolle erinnern). siegel beschreibt diese konstellation in seinen ersten absätzen sehr detailliert, aber in etwas abgewandelter form könnte bspw. auch ein schäuble in dieser kategorie begriffen werden - die paranoid verzerrten ängste werden durch gegenmaßnahmen scheinbar gelindert, die leider nur den effekt haben, in aller regel nun bei anderen massive ängste und auch misstrauen auszulösen, was dann beim paranoiden die eigenen befürchtungen wieder verstärkt und weitere gegenkontrolle provoziert - im extrem ergibt sich ein immer enger werdender loop, der sich dann womöglich erst in extrem gewalttätigen aktionen selbst zeitweise lahmlegt.

zum dritten punkt: wie sieht es mit den - neurophysiologisch bedingten - angstfreien
soziopathen aus? sie agieren ja ebenfalls konstruktivistisch (und zwar als dauerzustand bzw. grundsätzliche seinsweise). aber lässt sich bei denen eine paranoia konstatieren? ich würde eher von einer als-ob-paranoia sprechen - der kontrollmodus ist zwar ständig aktiviert, und ebenso sind die fehlenden empathiefähigkeiten und die dadurch faktisch nicht vorhandene fähigkeit zum vertrauen eine vorbedingung zur paranoiden misstrauen - aber als im herkömmlichen sinne paranoid lassen sie sich vermutlich eher nicht begreifen, und zwar eben aus dem grund der nicht wahrgenommenen angst. vielleicht könnte man es so ausdrücken: sie sind eher ein beleg dafür, dass sich der objektivistische modus tatsächlich in jedem von uns findet, und uns im falle einer paranoiden wahrnehmung unter umständen auch in einen quasi soziopathischen menschen verwandeln könnte. die vielen parallelen zwischen dem paranoiden modus und dem objektivistischen modus lassen sich am einfachsten so interpretieren, das funktionsmäßig beides eng zusammengehört, bzw. die paranoia in ihrem wesen zu großen teilen vom objektivistischen modus geprägt wird. dazu kommt bei den soziopathen ebenfalls die unheilvolle fähigkeit, bei anderen massive ängste und misstrauen auslösen zu können, aber im gegensatz zum "normalen" paranoiker" ohne entsprechende eigene erfahrungen.

und wenn ich mir das so betrachte, komme ich zu dem schluß, dass vermutlich nicht alles, was wie paranoia aussieht, auch im klassischen (psychiatrisch-neurologischen) sinne paranoia ist.

*

und an diesem punkt möchte ich Sie in Ihrer möglichen verwirrung erstmal alleine lassen. ich schreibe wieder mal an einem öffentlichen ort, was den unbestreitbaren nachteil hat, dass sich die eigenen gedanken eher komprimiert aufdrängen, und vermutlich werde ich noch die eine oder andere anmerkung bzw. korrektur nachzureichen haben, wenn ich den text noch mehrmals gelesen habe. aber für den moment finde ich, das das obige vorläufig genügend stoff zum nachdenken bietet.

*

edit am 16.06.: schon geändert habe ich oben den - jetzt korrekten - begriff des "verfolgenden verfolgten", wo vorher "verfolgenden verfolgers" stand, was nicht nur doppelt gemoppelt war, sondern auch inhaltlich richtiger quatsch.

dann: das problem, das die gruppe der "echten" soziopathen zwar viele eigenschaften des paranoiden modus´ aufweist, jedoch die - laut definition - eigentlich wichtigste, nämlich die gesteigerte angst, nicht wahrnehmen kann, beschäftigt mich gerade immer wieder. und bisher komme ich zu dem ergebnis, dass es sich hier womöglich um ein weiteres beispiel dafür handelt, was passiert, wenn psychiatrische diagnosenmodelle umstandslos und ohne rücksicht auf qualitative neurophysiologische unterschiede als global gültig gesetzt werden. ähnlich wie bei den früher beschriebenen möglichkeiten für pränatale traumata, die es "offiziell" nicht gibt und die mit einiger wahrscheinlichkeit die persönlichkeitsstruktur qualitativ ganz anders prägen als postnatale traumata, kann es hier gut sein, dass sehr unterschiedliche psychophysische störungen ähnliche symptome hervorbringen, die dann unzulässigerweise unter einen hut gepackt werden. ich finde es aber für mich momentan gerade bei diesem thema hier immer noch schwierig zu begreifen, wie etwas, das so aussieht als ob, doch etwas sehr anderes ist. von daher muss ich meine eingangs erwähnte these, das der objektivistische modus immer auch mit der paranoia einhergeht, relativieren - für die strukturellen soziopathen müsste das eher so lauten, das sie auch immer einige symptome der paranoia aufweisen, v.a. diejenigen, die mit starken kontrollambitionen daherkommen.

und zum vorläufigen schluß noch ein wort zum nur nebensächlich erwähnten drogenthema: ich halte - bis auf sehr seltene ausnahmen - drogen nicht ursächlich verantwortlich für irgendwelche psychophysischen störungen. allerdings haben kokain und auch die amphetamine durchaus das zeug dazu, paranoide zustände zu triggern und extrem zu verstärken. und das ist hinsichtlich der beliebtheit dieser stoffe gerade auch in kreisen, die sich selbst als elitäre verstehen, ein durchaus relevanter aspekt.

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