Freitag, 26. Juni 2009

notiz: "Man hält dem Wahnsinn sozusagen die gesellschaftliche Bühne frei, bis zum nächsten Auftritt"

der satz stammt aus einem zitat, welches ich aufgrund seiner punktgenau treffenden aussagen immer mal wieder anführe - ein weiterer satz lautet:

"Ich kann keinen einzigen vernünftigen Grund finden, warum psychisch kranke Personen ihre Krankheit nicht im Medium des gesellschaftlich historischen Geschehens artikulieren und realisieren (materialisieren) sollten, sei´s als Kunstwerk, exakte Wissenschaft, politisches Projekt oder eben als Menschentötungsfabrik."

während sich der beitrag, in dem dieses zitat zu finden ist, primär mit dem letzteren befasst, beginne ich die heutige notiz mit dem bezug auf´s kunstwerk, was deshalb kein zufall ist, weil sich vermutlich niemand den schlagzeilen des heutigen tages so wirklich entziehen kann, und sei´s auch nur deshalb, um sich einmal mehr über einen gigantischen medienhype zu ärgern. und sich dazu fragen zu stellen nach dem missverhältnis zwischen der aufmerksamkeit für den tod eines sängers und derjenigen, die für die täglichen systembedingten toten nicht vorhanden ist. diese und andere fragen sind notwendig, führen aber möglicherweise von der erkenntnis weg, dass auch ein michael jackson nur innerhalb dieses systems funktionieren und seinen status erwerben konnte. den finalen preis dafür hat er irgendwann in den vergangenen stunden entrichtet.

*


"Jede Gesellschaft bekommt die Freaks, die sie verdient." - so ein ebenfalls treffender satz aus einem alten tp-artikel, in dem es u.a. um die damaligen - und niemals ganz aufgeklärten - anschuldigungen gegen jackson bezgl. sexueller gewalt gegen kinder ging. dieser sich über jahre hinziehende öffentliche skandal zusammen mit vielfältigsten gesundheitlichen störungen erzeugten bei vielen eher das bild einer gleichzeitig bemitleidenswerten sowie abstoßenden und insgesamt so zerrissenen figur, das nicht nur ich zu folgender persönlichen einschätzung gelangte:

"und hinsichtlich michael jackson (...), die ich persönlich ebenfalls beide für borderlinebetroffen halte, wäre noch das element der öffentlichen identitätskonstruktionen und -wechsel zu nennen, welches bei genauerer beobachtung bei vielen sog. stars zu bemerken ist. essstörungen und selbstverletzendes verhalten als symptome verstärken ebenso wie vielfältiger drogenabusus dann nur noch die indizienreihe."

speziell bei jackson erst recht die vorliegenden informationen zur
kindheit:

(...)"Als Erziehungsmaßnahme griff Joe Jackson zum Gürtel, erzählte er in einem Interview mit dem britischen TV-Sender BBC, das die Anstalt am Sonntagabend ausstrahlen will. Popstar Michael Jackson beschuldigt seinen Vater seit langem, ihn als Kind geschlagen zu haben. Joe Jackson sagte dazu laut BBC: "Ich habe ihn gepeitscht....Ich habe ihn nie geschlagen. Man schlägt jemanden mit einem Stock."(...)

Joe Jackson bestätigte demnach, dass sein Sohn bis heute große Angst vor ihm habe. Zu Michaels früherer Äußerung, er müsse sich vor Nervosität erbrechen, wenn er seinen Vater besuche, sagte Joe Jackson: "Er muss brechen, das stimmt."(...)


zusammen mit den am ende des artikels ausgeführten homophoben äusserungen des vaters erhalten jacksons vorliebe für kleine jungen (und zwar unabhängig von den übergriffsvorwürfen), seine gesundheitlichen probleme und seine öffentlich vorgeführten identitätskonflikte einen nur allzu gut bekannten traumatischen hintergrund, der ihn damit millionen anderen menschen quasi gleichstellt - und der ihn gleichfalls durch seine spezifischen und zumindest äusserlich und materiell erfolgreichen kompensationsversuche von ihnen auf drastische weise trennt, aber vielleicht gerade dadurch die möglichkeit für die (westlichen) gesellschaften eröffnete, bei ihm wie auf einer riesigen projektionsfläche kollektiv verbreitete erfahrungen zu "bearbeiten" - natürlich in einer verzerrten und letztlich unwirksamen form, weil diese "bearbeitung" immer nur symbolisch sein kann. und während musikalisch nach den 1980er jahren nicht mehr wirklich viel gelaufen ist, wurden medial öfter solche
meldungen als berichtenswert erachtet:

(...)"Der "King of Pop" nahm seinen Auftritt vor dem Diskussionsforum "Oxford Union" zum Anlass, die Wohlfahrtsorganisation "Heilt die Kinder" (Heal the Kids) ins Leben zu rufen. Weil er selbst "Produkt eines Mangels an Kindheit" gewesen sei, wolle er dazu beitragen, das Verständnis zwischen Eltern und Kindern zu fördern, sagte Jackson."(...)

die selbstbeschreibung halte ich für sehr treffend im sinne einer realitätsgerechten wahrnehmung seiner authentischen existenz. und diese wie auch noch so fragmentarische adäquate wahrnehmung seitens seiner fans dürfte im zusammenspiel mit der inszenierung der anscheinend "erfolgreichen bewältigung" - und dazu noch nicht nur im gesellschaftlich akzeptablen, sondern sogar als "vorbildhaft" vermittelten rahmen - seiner traumatischen biographie einen gewaltigen teil seiner massenwirksamkeit erzeugt haben. einer aus dem millionenheer derjenigen
dies- und jenseits der borderline hat seinen gleichfalls kindheitsgeschädigten leidensgenossInnen mit seinem "erfolg" einen scheinbaren ausweg aus ihren biographischen fallen gezeigt - einen nicht grundlos populären als-ob-ausweg (andere können unsere gesellschaften schlicht aufgrund ihrer struktur auch nicht dulden, zumindest keine massenwirksamen).

*

vor diesem hintergrund halte ich auch den folgenden satz aus dem
nachruf eines jackson- und foucault-fans (diese kombination ist immerhin konsequent) schlicht für falsch:

"Einer, der das Motto “Sich neu erfinden” wohl am radikalsten mißverstanden hat."

ganz im gegenteil glaube ich, dass die zeitliche parallelität zwischen dem beginn von jacksons weltkarriere anfang der 1980er sowie der besonders durch ronald reagan in den usa und margaret thatcher in großbritannien begonnenen rücksichtslosen umsetzung derjenigen kapitalistischen strömung, unter deren bezeichnung "neoliberalismus" wir u.a. heute in eine zweite große ökonomische depression schlittern, keinesfalls zufällig ist, sondern michael jackson durch seine künstlerischen ausdrucksformen mit dem schwerpunkt der inszenierung und verwandlungen von realität in fiktionale geschichten die erwähnte umsetzung erst mit möglich gemacht hat. und in diesem sinne als mitkonstrukteur der heute verschärft erbärmlichen zustände gelten muss. perfekte bühneninszenierungen, umwälzende videoclips (mit der gewöhnung an eine erheblich beschleunigte bildersprache als sinnbild der allgemeinen - allseits propagierten -
beschleunigung überhaupt) und der jedem starkult implizite mythos des "du-kannst-es-schaffen-wenn-du-nur-willst-und-dich-anstrengst" dürften seitens jackson bezgl. massenwirksamkeit jede reagan- und thatcher-rede weit in den schatten gestellt haben - nicht nur deshalb, weil die produktionen von jackson für viele besser ausgesehen und geklungen haben als das, was die beiden letztgenannten auf ihren feldern so veranstaltet haben.

"sich neu erfinden" ist dabei eine parole, die letztlich sowohl für die heutige ideologie des allseits
"flexiblen" menschen steht als auch die älteren (alp-)träume des übermenschen, der heute u.a. in der form des cyborgs geträumt wird - und bei der es nichts misszuverstehen gibt:

"warum aber sollte jemand, der/die sich in sich und seiner/ihrer körperlichkeit sicher und wohl fühlt, den wunsch entwickeln, sich eben von dieser körperlichkeit und den damit untrennbar verbundenen vielfältigen beschränkungen und grenzen "befreien" zu wollen, sich eine neue identität verschaffen zu wollen? es macht, egal aus welcher perspektive betrachtet, keinen sinn - es macht aber dann einen sinn, wenn die ureigene menschliche körperlichkeit eben nicht mehr oder nur noch fragmentarisch als eigenes selbst empfunden wird bzw. werden kann - die bewegung hin zu fiktiven sphären, in denen die heimat ebenso fiktiver selbstentwürfe oder der konstruktion von mächtigen wesen zu suchen ist, stellt sich aus dieser perspektive als eine determinierte, also unfreie und defensive reaktion auf tatsächlich unerträgliche realitäten dar."

und jacksons biographie ist dabei aus meiner perspektive nur ein, wenn auch sehr berühmtes, beispiel für die strukturellen hintergründe, aus denen heraus die phrase des "sich neu erfindens" - ein in der realität unmöglicher vorgang - als eines der begleitenden elemente neoliberaler ideologie überhaupt erst auf so viele offene ohren stoßen konnte. verkleide dich, gib dir einen neuen namen, wechsel sogar das geschlecht - deiner biographie, die sich in der gesamten körperlichkeit manifestiert, wirst du selbst dann nicht entkommen, wenn du ein echter soziopath bist (bei denen bekanntlich konstruierte als-ob-identitäten die einzig mögliche existenzform darstellen). und gerade in den oben genannten versuchen manifestieren sich nachdrücklich biographische erfahrungen. vor deren negativen, und d.h. meistens schmerzvollen, varianten gibt es kein ausweichen, sondern nur die bestenfalls glückende verarbeitung mit anschließender integration. ich glaube, dass michael jackson beim letzteren weg vielleicht nicht so "erfolgreich", aber vermutlich gesünder und glücklicher hätte leben können.

aber solange diese gesellschaft so aussieht, wie jetzt, wird es schon einen haufen potenzielle nachfolgerInnen geben, die einen ähnlichen weg gehen werden. und solange gilt auch meine schon früher formulierte
kritik gar nicht so sehr an den kunstfiguren selbst... "... als vielmehr an einer öffentlichkeit, deren stars vielfach züge von identitätsstörungen und objektivistischem wahn aufweisen. und diesen zustand als "normalität" mißzuverstehen, müssen wir uns dringend abgewöhnen."

bis auf weiteres habe ich dem nichts hinzuzufügen.

* * *

auf einem anderen teil der bühne, von der uns ständig die vorführung von "gesellschaftlichen erfolg" - in objektivistischer logik messbar natürlich alleine am bankkonto und am grad der eigenen macht - als angeblich einzigem lohnenswerten lebensziel in gefühle eigener minderwertigkeit und anschließender scham stürzen soll, tummeln sich nach wie vor (wenn auch unter zunehmenden buh-rufen eines teils des publikums) die stars der globalisierten ökonomie in form von bankstern und managern, über die ein neuropsychologe das folgende urteil fällt:


«Emotionslose Banker, die 100 Millionen Dollar verzocken, sind Soziopathen»

im kern durchaus treffend, wird diese erkenntnis gleich wieder relativiert:

"Generell sei der Mensch kein moralisches Wesen, sondern stets auf seinen eigenen Vorteil bedacht."

auch wenn es hierbei ganz zentral auf die jeweilige definition des wortes "vorteil" ankommt, so verbreitet der zitierte hier doch wieder ein fragment jener ideologie, nach der wir alle am ende uns lediglich quantitativ von soziopathen unterscheiden würden. und das wiederum ist eine bedingung für genau jene auftritte, die in der überschrift dieses beitrags angesprochen werden. und beide sätze zusammen bringen kernelemente des ganzen
systems auf den pathologischen punkt.

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