Sonntag, 7. März 2010

assoziation: anmerkungen zum ganzen komplex schule/heime, kirche, gewalt gegen kinder etc. (3)

zum ersten und zweiten teil.

*

4. vor den im letzten beitrag geschilderten hintergründen wird vielleicht deutlich, warum ich bspw. die diskussion um das sog. zölibat in der katholischen kirche für nicht weitreichend genug halte - das zölibat sowie die spezifisch ideologischen inhalte der sekte - strafender gott, die konzepte von schuld, sühne, büße etc. - werden mit einiger wahrscheinlichkeit innerhalb des rahmens von totalen institutionen die verhältnisse nochmals verschärfen / brutalisieren, spezifisch ausformen und vielleicht auch für die auffällige menge sexualisierter gewalt innerhalb kirchlicher gemäuer mitverantwortlich sein, ursächlich jedoch - und dafür reicht ein blick auf und in andere totale institutionen mit anderem ideologischen background - scheinen sie mir nicht im zentrum zu stehen.

5. ich muss selbst sagen, dass mir die ganze mögliche tragweite der geschichte der
ehemaligen heimkinder der alten brd trotz sporadischer beschäftigung bis dato nie so recht deutlich geworden ist. die beiträge jetzt dienen auch für mich dazu, diesbezgl. bildungslücken zu beseitigen und ein gefühl für die realität dieses - ja, nennen wir es ruhig terrorsystems, zu erhalten. und womöglich müssen im weiteren verlauf sowohl die offizielle geschichte der alten brd als auch ihr selbstbild stark korrigiert werden - die folgende geschichte jedenfalls hat mich zum staunen gebracht - der aufstand von glückstadt:

(...) "Erst seit wenigen Jahren interessiert sich die Öffentlichkeit überhaupt für das Schicksal von Heimkindern in der Bundesrepublik der fünfziger und sechziger Jahre. Seit Februar 2009 beschäftigt sich auf Initiative des Bundestags sogar ein „Runder Tisch Heimkinder“ mit dem Thema. Frühere Heiminsassen verlangen vehement Aufklärung über das geschehene Unrecht. Eine Einrichtung im schleswig-holsteinischen Glückstadt tat sich in dieser Hinsicht besonders hervor. Vor genau 40 Jahren, in der Nacht vom 7. zum 8. Mai 1969, gab es dort einen Aufstand von Heimzöglingen, der möglicherweise sogar mit Hilfe von Marinesoldaten niedergeschlagen wurde. Unter den rebellierenden Jugendlichen, die als Strafe teilweise KZ-Kleidung tragen mussten, war auch der spätere RAF-Terrorist Peter-Jürgen Boock. (...)

Seit dem 1. April 1951 nannte sich die Einrichtung Landesfürsorgeheim, in das Jugendliche und junge entmündigte Erwachsene beiderlei Geschlechts eingewiesen werden konnten. Aus Mangel an geeignetem Personal griff man in dieser Zeit auch auf „vorbelastete“ Beschäftigte aus der NS-Zeit zurück. Das haben Nachforschungen der Heiminsassen beim United States Holocaust Memorial Museum in Washington ergeben. Die Besserungsanstalt war daher eher vom Charakter des Verwahrens und Wegschließens als von einer pädagogischen Erziehung geprägt. Und alle Heimzöglinge wurden zudem zu Zwangsarbeiten herangezogen. Verweigerung und Widerstand wurden mit Isolationshaft und Schlägen gemaßregelt. (...)

Der heute 57-jährige Otto Behnck aus dem schleswig-holsteinischen Schwedeneck, der im Herbst 1970 für drei Monate nach Glückstadt eingewiesen wurde, sagt rückblickend: „Man wollte uns brechen.“ Der in Kiel lebende Frank Leesemann (54) war als Jugendlicher von September 1969 bis Mitte 1971 in Glückstadt. Dort schlief er noch auf einer Matratze mit Reichsadler und Hakenkreuz. In der Kleiderkammer fiel ihm grau-weiß gestreifte Kleidung des ehemaligen NS-Arbeitslagers auf. Nach einem ersten von insgesamt über 20 Ausbruchsversuchen bekam er ein KZ-Hemd mit rotem Winkel und der Aufschrift „Außenkommando“ verpasst. Bei seiner Entlassung ließ er seine Karteikarte mitgehen, auf der das Wort Arbeitserziehungslager per Hand in Landesfürsorgeheim verändert wurde, aus „Häftling“ wurde „Zögling“, aus dem „Lagerkommandanten“ der „Heimleiter“.

Angesichts der Erzählungen von ehemaligen Heiminsassen in Glückstadt, die von Drill und Drangsalierung, von sexuellen Übergriffen und Misshandlungen berichten, die sich ausgebeutet und zum Teil um Jahre ihrer Jugend beraubt fühlen, versteht man Ulrike Meinhofs Frage in ihrem 1971 veröffentlichten Buch Bambule nach der „Fürsorge – Sorge für wen?“. Es handelte sich dabei nicht nur um Einzelschicksale, sondern um ein gesellschaftliches Phänomen, das rund 800.000 Kinder und Jugendliche betraf - mit zum Teil psychischen Folgen bis zum heutigen Tag." (...)


es sind schlicht faschistische kontinuitäten, die sichtbar werden - und zwar in sehr deutlicher offenheit, was für andere bereiche in der brd, die eher im öffentlichen licht waren und sind, nicht in dieser art zutraf - dort war zur beruhigung des publikums mehr demokratiesimulation angesagt. heimkinder hingegen? uninteressante schicksale.

all das mehr als gute gründe für eine massive revolte:

(...) "Der Auslöser des Aufstandes war dabei eher banal. Später hieß es, dass Päckchen, die den Zöglingen von Familienangehörigen zugeschickt wurden, nicht ausgehändigt worden seien. (...)

Die in Haus 1 und 2 untergebrachten 80 Heimzöglinge zündeten Matratzen und Kleidungsstücke an, rissen sanitäre Anlagen aus den Wänden, zertrümmerten Fenster wie Möbel und attackierten das Heimpersonal. Einer der Rebellierenden war der damals 17-jährige Peter-Jürgen Boock, der nach der Heimrevolte in das hessische Jugendhaus von Rengshausen verlegt wurde. Dort kam er unter anderem mit Andreas Baader und Gudrun Ensslin in Kontakt, die sich wie Meinhof für die Interessen von Heiminsassen einsetzten, und fand kurze Zeit später Unterschlupf in deren WG, ehe er selbst zum Terroristen der zweiten Generation wurde." (...)


und jetzt kommt etwas, was sich bei einer verifikation nur als echter hammer bezeichnen ließe, der die mythen der alten brd ordentlich mit rissen versehen könnte:

"Brisant im Zusammenhang mit der Glückstädter Heimrevolte sind die Aussagen des gelernten Rohrschlossers Gerd Meyer aus Schleswig. Dieser war als damaliger Zögling Augenzeuge. Der heute 57-Jährige beteuert, gesehen zu haben, wie in Glückstadt stationierte Marinesoldaten im Innenhof vorfuhren und unter Einsatz von Tränengas den Aufstand niederschlugen. „Ich kannte doch den Unterschied von Polizei- und Bundeswehruniformen, von Polizei- und Militärfahrzeugen“, sagt Meyer. Auch Boock hatte bereits auf den verfassungswidrigen Bundeswehreinsatz hingewiesen, doch wollte man ihm keinen Glauben schenken. Im Bericht des damaligen Heimleiters Walter Blank hieß es dagegen, nur 20 Heiminsassen hätten sich an den Aktionen beteiligt und man habe noch bevor die gerufene Polizei und Feuerwehr eingreifen mussten, die Lage wieder in den Griff bekommen." (...)

warum ich das gleichfalls in mehrfacher hinsicht brisant finde, erzähle ich gleich - vorher aber noch zu weiteren folgen des aufstands:

"Als einen von zwei verantwortlichen Rädelsführern benannte Oberamtmann Blank Harry Radunz, der am 31. Mai 1969 erhängt in seiner Arrestzelle aufgefunden wurde. In der Folge häufen sich kritische Zeitungsberichte über die Zustände in Glückstadt. Die Nordwoche titelte etwa „Terror im Erziehungsheim“ und „Methoden aus dem Mittelalter“. Sogar im Kieler Landtag wurde daraufhin über Glückstadt gestritten – am Ende zunächst ohne Folgen. Das anfangs stets mit 140 Zöglingen belegte Heim wurde erst wegen rückläufiger Zahlen zum 31. Dezember 1974 geschlossen.

Heute weiß man von diversen als Suizide registrierten Todesfällen." (...)


wenn man sich also dieses gesamte szenario so betrachtet - die offene nazi-kontinuität mit aller brutalität, die vielen todesfälle, den möglichen bundeswehreinsatz gegen kinder - und dazu die namen ulrike meinhof und peter-jürgen boock liest, so stellen sich im hinblick auf die raf einige zumindest für mich ganz neue fragen.

*

fragen bspw. solcher art: besitzt die bis heute immer als "abstrus" bezeichnete wahrnehmung der ersten raf-generation von der brd als quasi-faschistischem staat in den realen erfahrungen ihrer ersten beiden (gründungs-)generationen ihre eigentliche basis?

denn diese beiden ersten "terroristischen" "generationen" setzten sich zu einem großteil aus menschen zusammen, die entweder am eigenen leib - bspw. der schon genannte peter-jürgen boock,
stefan wisniewskioder auch inge viett (bewegung 2. juni), unmittelbare persönliche erfahrungen mit dem heimsystem der brd hatten oder aber, wie bspw. ulrike meinhof als journalistin, nach intensiven recherchen von diesen zuständen in den heimen wussten.

und es gibt aber noch ein zweite art der totalen institution, die zur quelle späterer raf-mitgliedschaften wurde: die psychiatrie. hier heisst das stichwort
sozialistisches patientenkollektiv:

"Einige Mitglieder des SPK wechselten (...) zur RAF, darunter Klaus Jünschke, Margrit Schiller, Lutz Taufer, Bernhard Rössner, Hanna Krabbe und Siegfried Hausner, Elisabeth von Dyck, Ralf Baptist Friedrich, Sieglinde Hofmann und mutmaßlich Friederike Krabbe."

wer die zustände in der bundesdeutschen psychiatrie ende der 1960er jahre kennt, kann etliche strukturelle gemeinsamkeiten mit der situation in den heimen entdecken. auch das dürfte für einige der raf-mitglieder, die nicht alle als patientInnen ins spk kamen, eine sehr prägende lektion gewesen sein.

und vor diesem hintergrund wird die raf-spezifische wahrnehmung des staates brd durchaus nachvollziehbarer, wie ich finde - ebenso wie die täter-opfer-dialektik es verständlicher machen kann, warum betroffene aus den totalen institutionen militant zurückschlugen gegen einen staat, der ihnen aus eigenem erleben tatsächlich mit einer faschistischen fratze begegnete.

beide aspekte halte ich zumindest für diskussionswürdig.

assoziation: anmerkungen zum ganzen komplex schule/heime, kirche, gewalt gegen kinder etc. (2)

zum ersten teil.

*

2. die arten und formen der gewalt gegen kinder und jugendliche, die gerade besonders innerhalb institutioneller rahmen sichtbar werden, stellen meiner meinung nach keinesfalls alleine ein problem der katholischen kirche dar; andererseits ist es auch nicht zufällig, dass sich gerade diese sekte international mit derart verbreiteten gewaltstrukturen innerhalb der eigenen reihen konfrontiert sieht. das sich aktuell inzwischen mindestens auch eine
nichtkonfessionelle, ja sogar wg. ihres reformpädagogischen ansatzes ausgezeichnete "eliteschule" mit ihrer innerstrukturellen gewalt beschäftigen muss, unterstreicht allerdings nachdrücklich, dass hier der zipfel von etwas gelüftet worden ist, was - eigentlich schon lange erkennbar - nicht nur diese gesellschaft hier in ihrem umgang mit kindern und jugendlichen seit jahrhunderten tiefgreifend und destruktiv prägt.

ich fürchte, das, was wir gerade sehen müssen, ist eine späte ausdrucksform dessen, was bspw. alice miller seit jahrzehnten beschreibt und lloyd deMause in der extremsten erscheinungsform als
infantizid bezeichnet. und ich glaube, dass wir hier sozusagen "nur" das institutionelle komplementär zu all den fällen von schwerer bis tödlicher gewalt und vernachlässigung gegen kinder sehen, die in den letzten jahren unter namen wie kevin, jessica und zu vielen anderen auch hier im blog immer wieder thema waren. die zu starke konzentration auf die katholische kirche alleine - auch, wenn dieser verein völlig berechtigt im kreuzfeuer steht - birgt durchaus die gefahr, dass sich die restgesellschaft hier selbst entlastet. etwas, was wir im ureigensten interesse nicht durchgehen lassen dürfen.

3. wer sich schon mal näher mit den (historischen) formen militärischen drills beschäftigt hat (empfehlenswert hierzu immer noch die "männerphantasien" von theweleit, siehe literaturliste), wird zwischen einigen der jetzt bekannt gewordenen
praktiken besonders aus religiösen heimen und dem umgang gedrillter männergruppen untereinander durchaus gemeinsamkeiten erkennen können:

(...) "So berichtete ein Opfer, in den 60er-Jahren seien Übergriffe bis hin zur Prügelstrafe "tägliche Praxis" gewesen. Diese Übergriffe seien "vollkommen offen praktiziert" worden. Ein anderer Ex-Schüler bezeichnete die früheren Verhältnisse in der Schule als "absoluten Terror". Im Schlafsaal habe es Ohrfeigen für alle Schüler gegeben als Strafe dafür, dass zuvor einer von ihnen etwas gesagt habe. Eine andere Methode sei gewesen, zwei Nachtkästchen zusammenzurücken und zwei Schüler sich daraufstellen zu lassen, die sich gegenseitig ohrfeigen mussten. Wer zuerst herunterfiel, hatte verloren. Andere berichteten von Stockschlägen auf den Rücken, Kopfnüssen und Schlägen mit der flachen Hand." (...)

das gegenseitig-demütigen lassen, die bestrafung aller für das "vergehen" eines einzelnen, der ständige - offene - ein- und übergriff auf die psychophyische unversehrtheit - all das sind genau die gleichen techniken, mittels derer rekruten bis heute in vielen armeen zu soldaten verwandelt werden sollen. drill bedeutet im prinzip nichts weiter als ein set von ausgesuchten an- und übergriffen sowie kontrolliert-impulsiven demütigungen, mittels derer traumatische effekte erzielt werden, die dann von der jeweiligen institution benutzt werden können, um die gebrochene persönlichkeit in ihrem sinne neu zusammenzusetzen. in einer kaum zu übertreffenden klarheit hat das stanley kubrick in der quälend langen ersten stunde seines films "full metal jacket" am beispiel der (authentischen) nachstellung des drills bei den us-marines exemplarisch vorgeführt. man könnte auch sagen: eine schockstrategie für individuen. im rahmen der katholischen kirche mit dem vermutlichen ziel, "gottesfürchtige, anständige unddemütige" menschen zu produzieren - also von zwängen und ängsten geplagte, traumatisierte, lenkbare und autoritätshörige untertanen.

die geschilderten praktiken erinnern nicht zufällig auch an die sporadisch öffentlich werdenden "rituale" von bundeswehrrekruten bzw. ihren unmittelbaren vorgesetzten, und sie erinnern gleichfalls nicht zufällig an die zustände in einer anderen - erzstaatlichen - institution, nämlich
gefängnisse:

(...) "Doch insbesondere für Jugendliche sei die Zeit im Gefängnis hart. "Sie müssen sich behaupten, sonst gehen sie unter", sagt der Psychologe. Jugendliche versuchten, Macht über Schwächere auszuüben, so bildeten sich Hierarchien. "Sprichwörtlich" sei es, jemanden zu zwingen, den Kopf in die Kloschüssel zu stecken.

Auch "Abzocke" sei üblich: Gefangene drohen demnach anderen damit, dass sie etwas "auf die Schnauze" bekommen, wenn sie etwa keinen Tabak abgäben oder sich weigerten, "Dienstleistungen" auszuüben, wie beispielsweise die Zelle zu putzen. All das gehöre zur Subkultur. Auch Vergewaltigungen seien keine Einzelfälle." (...)


kurz: es gibt natürlich einige, eher formale und oberflächliche unterschiede zwischen (kirchlichen) heimen, kasernen und knästen - aber ihre strukturellen gemeinsamkeiten sind schon bei einem kurzen blick unübersehbar, und es sind nichts anderes als die gemeinsamkeiten
totaler institutionen:

"Neben Strafanstalten und Untersuchungshaftanstalten rechnet man dazu auch psychiatrische Anstalten, Kasernen, Arbeitslager, Internate, Schiffe, Altersheime etc. (...)

Eine totale Institution weist nach Goffman folgende Merkmale auf:

1. Totale Institutionen sind allumfassend. Das Leben aller Mitglieder findet nur an dieser einzigen Stelle statt und sie sind einer einzigen zentralen Autorität unterworfen.
2. Die Mitglieder der Institution führen ihre alltägliche Arbeit in unmittelbarer (formeller) Gesellschaft und (informaler) Gemeinschaft ihrer Schicksalsgefährten aus.
3. Alle Tätigkeiten und sonstigen Lebensäußerungen sind exakt geplant und ihre Abfolge wird durch explizite Regeln und durch einen Stab von Funktionären vorgeschrieben.
4. Die verschiedenen Tätigkeiten und Lebensäußerungen sind in einem einzigen rationalen Plan vereinigt, der dazu dient, die offiziellen Ziele der Institution zu erreichen.

Zu ergänzen ist dies noch um einen weiteren 5. Punkt, den Goffman in seiner Aufzählung zunächst nicht nennt, dann aber im weiteren Verlauf seiner Erörterungen als "zentrales Faktum" totaler Institutionen bezeichnet. Das Funktionieren der totalen Institution erfordert die Handhabung einer Reihe von menschlichen Bedürfnissen durch die bürokratische Organisation ganzer Gruppen von Menschen, aus der automatisch eine Trennung zwischen Verwaltern (dem Personal) und Verwalteten (den Insassen) entsteht. (...)

Goffman hat den Begriff idealtypisch gebraucht. Er hat das Konstrukt "totale Institution" an der Gefängnisähnlichkeit festgemacht. Der eigentliche Witz der Begriffsbildung besteht darin, dass man die von Goffman am Beispiel der Gefängnisse herausgearbeiteten Merkmale auch an anderen sozialen Institutionen nachweisen kann, die auf den ersten Blick wenig oder gar nichts mit Gefängnissen gemein haben (Psychiatrische Anstalten, offene Anstalten, Schiffe, Schulen, ja sogar Familien). Dieser Blickwinkel gestattet es, gerade an den als normal geltenden Institutionen das Gefängnisartige zu erkennen." (...)


die hinzunahme von familien mag zuerst befremdlich erscheinen, aber wenn man sich die abhängigkeiten von kindern gerade in dysfunktionalen familien mit gewaltstrukturen betrachtet, befinden sie sich durchaus im status eines insassen in einer totalen institution. auch der entführer der zur traurigen berühmtheit gewordenen natascha kampusch hat in gewisser hinsicht speziell für sie das szenario einer totalen institution konstruiert bzw. sich selbst in der rolle installiert.

totale institutionen werden einerseits für bestrafung und abschreckung verwendet, andererseits dienen sie auch der kontrolle, korrektur, erziehung und regelmässig auch der elitebildung. sie stellen unverzichtbare elemente aller systeme dar, die auf struktureller gewalt und gesellschaftlichen hierarchien beruhen, arbeiten dafür zwangsweise wie dargestellt mit gewalttätigen ein- und übergriffen auf die psychophysis der ihnen ausgelieferten und sind vor allem als wahrhaft rechtsfreie räume anzusehen - die schlimmsten, die überhaupt vorstellbar sind (auch folterkeller und vernichtungslager zählen dazu). und sie sind wahre brutstätten für gewalt in allen formen, und zwar nicht als ausnahme, sondern als regel. sie funktionieren mittels mechanismen systematischer traumatisierung - kurz gesagt, sind sie in ihren bösartigsten formen ein
psychotischer kosmos.

totale institutionen können sich, gerade in ihren relativ "zivilen" formen, wie schulen, altenheime, psychiatrischen kliniken etc. auch durchaus wandeln, d.h. je mehr transparenz und offenheit vorhanden ist, desto mehr kann das destruktive potenzial entschärft werden - allerdings verschwindet es niemals völlig, solange der strukturelle kern vorhanden ist, und kann bei anderen rahmenbedingungen auch wieder auftreten - interessanterweise können dazu auch umstrukturierungen gehören, die bspw. als privatisierung auftreten, hier dargestellt am beispiel der institutionalisierten
psychiatrie:

(...) "Halts Maul", pflaumt der Stationsleiter den Patienten an. Als der psychisch kranke Mann nicht reagiert, sprüht er ihm Pflegeschaum - eigentlich zur Reinigung des Genitalbereichs gedacht - in den Mund. Was wie Szenen aus einer Neuverfilmung von "Einer flog übers Kuckucksnest" anmutet, spielte sich bis vor kurzem in einer der größten psychiatrischen Privatkliniken in Europa, dem Klinikum Wahrendorff bei Hannover ab.

Bekannt wurden die Praktiken auf der Station AST 2, einer geschlossenen Akutstation für Menschen ab 55, als Mitarbeiter anderer Bereiche dorthin versetzt wurden - und vor Entsetzen über die Zustände schleunigst wieder weg wollten. Nach ihren Berichten flößte Klaus W.*, seit 2004 Stationsleiter, schlafenden Patienten Flüssigkeit ein. Gesundheitliche Probleme, die bei einer Patientin daraufhin auftraten, kommentierte er lapidar, sie habe sich "verschluckt" und gehe deshalb "kaputt".

Andere zwang er unter Polizeigriff zur Einnahme von Medikamenten. Und auch die Körperpflege war für "lästige" Patienten kein Vergnügen: Sie wurden von Kopf bis Fuß mit Pflegeschaum eingesprüht, der jedoch nicht abgewaschen, sondern nur mit einem trockenen Tuch abgewischt wurde. Untergebene, die sein Verhalten kritisierten, soll er mit Druck und Drohungen zum Schweigen gebracht haben.

Die Leidenszeit auf der AST 2 hat nun ein Ende: Der Stationsleiter wurde vor die Tür gesetzt. Bis dato gibt es keinerlei Hinweise auf strafrechtliche Konsequenzen der Übergriffe.

Doch für negative Publicity sorgen nicht allein die Misshandlungsfälle. Die Klinik ist für stetig schlechter werdende Arbeitsbedingungen und kontinuierliche Attacken gegen gewerkschaftliche Strukturen bekannt. Kritiker sehen die aktuellen Misshandlungen als direkte Folge der Unternehmenspolitik: "Hier werden Vorgesetzte nicht nach Qualifikation ausgesucht, sondern danach, dass sie die Linie der Klinikleitung umsetzen", kommentiert ein Angestellter, der lieber anonym bleibt." (...)


auch hier finden wir wieder viele strukturelle gemeinsamkeiten mit den vorherigen beispielen, und eine weitere sei hervorgehoben: "Bis dato gibt es keinerlei Hinweise auf strafrechtliche Konsequenzen der Übergriffe."

staatliche repressionsorgane werden nicht von ungefähr regelmässig von apathie und lähmung befallen, wenn es darum geht, selbst schwere und schwerste gewaltdelikte in solchen institutionen zu verfolgen, und zwar nicht nur in staatlichen. das darf getrost als ausdruck davon verstanden werden, dass sie selbst - polizei und justiz - strukturell ähnlich organisiert sind bzw. solche institutionen selbst betreiben; und auch als ausdruck eines impliziten wissens, dass ohne solche institutionen im wahrsten sinne des wortes kein staat zu machen ist. es wird sehr interessant zu beobachten, ob der öffentliche druck für den staat aktuell groß genug werden wird, um einen zumindest ehemals tragenden systemteil, nämlich die institutionalisierte kirche, faktisch zu "opfern" - um den rest erhalten zu können.

*

(zum
dritten teil)

assoziation: anmerkungen zum ganzen komplex heime/schulen, kirche, gewalt gegen kinder etc. (1)

weil aus meiner sicht in der öffentlichen berichterstattung zusehends mehr durcheinandergeschmissen bzw. vermischt wird, und deshalb bestimmte dinge eher vernebelt werden - hier ein mehrteiliger versuch der zumindest groben sortierung.

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1. zur sprache: in der medialen berichterstattung dominieren worte und begriffskombinationen wie "(sexueller) missbrauch", "kinderschänder", "sexskandal" und "pädophilie". ich halte die ersten drei begriffe allesamt für gleich in mehrfacher hinsicht sachlich falsch, sprachlich irreführend, inhaltlich verharmlosend und ausdrück bürgerlich-reaktionärer ideologie.

das wort "missbrauch" stammt in der schreibweise mit ß aus dem althochdeutschen und bedeutet "etwas falsch oder bösegebrauchen". das reichsstrafgesetzbuch von 1871 als erster (?) juristischer nachweis bezieht die strafrechtliche bedrohung primär auf den missbrauch "...einer in einem willenlosen oder bewußtlosen Zustande befindlichen, wie auch einer geisteskranken Frauensperson" (quelle ist der wikipediaartikel zum wort sowie verschiedene etymologische onlinelexika). missbrauch bezeichnet also im hiesigen historischen kontext den "falschen gebrauch" von "willen- und bewusstlosen" oder "geisteskranken" menschen, die in dieser bedeutung - anders lässt sich das beim besten willen nicht interpretieren - umstandslos den status einer sache, eines gegenstands oder dings zugewiesen bekommen.

nun liesse sich mit recht behaupten, dass das im besten falle die (sprachliche) wiederspiegelung der zwangsweise verdinglichenden wahrnehmung der täter darstellt - wenn man sich jedoch klar macht, dass im wort implizit auch die alternative des "richtigen gebrauches" steckt, so wird deutlich, das wir es hier eher mit dem relikt eines sehr alten patriarchalen denkmusters zu tun haben, in dem sowohl frauen als auch kinder nicht als "vollwertige" menschen, also als männer, gelten - die zuschreibungen mittels solcher attribute wie "willenlos" oder auch "geisteskrank" primär auf frauen bezogen enthalten eine ordentliche portion patriarchaler diskriminierungen, auch wenn sie scheinbar "nur" eine sachliche situationsbeschreibung darstellen. die kehrseite der medaille dieser patriarchalen tradition liegt übrigens darin, dass sich männliche betroffene sexualisierter gewalt bis heute auch wg. diesem aspekt in aller regel sehr schwer tun, sich als opfer zu begreifen - das hatte ich früher mal näher im verlauf
dieses beitrages ausgeführt. richtig krass wird der oben skizzierte hintergrund dann, wenn in schlagzeilen von "gewalt und missbrauch" die rede ist - inhaltlich wäre das "nur" doppelt gemoppelt, wenn darin nicht implizit auch die vorstellung mitschwingen würde, dass "missbrauch" irgendwie noch etwas anderes als gewalt sei, besonders mit dem attribut "sexuell". das ist aber nichts weiter als implizite verharmlosung.

"kinderschänder": das wort schande hängt etymologisch eng mit dem wort scham zusammen, und das ist dann schon der einzige, wenn auch bereits sehr an den haaren herbeigezogene, realistische bezug zum thema, weil scham für die betroffenen in der regel eine große rolle spielt. der "kinderschänder" bringt schande über das kind, was hier ebenfalls vergleichbar mit den zuschreibungen hinsichtlich "geschändeter" (= vergewaltigter) frauen ist. wenn man sich klar macht, dass schande ein synonym für den verlust der ehre darstellt, so wird deutlich, dass diese begriffswelt ebenfalls aus der oben skizzierten patriarchalen tradition stammt - diese sprachlichen konstrukte enthalten eine implizit sehr nachdrückliche zuschreibung von (mit-)schuld an die opfer (eine wahrscheinliche quelle für die real empfundene scham in vielen fällen); dazu wabert im hintergrund assoziativ der mythos von der sexuellen "verführungkraft" herum, die besonders von kindern ausgehe (und die dann angeblich ehrenwerte, "anständige" mannsbilder regelmässig überwältigt - eine denkfigur der täter-opfer-verdrehung, die sich aktuell in einigen der schlimmsten statements aus der katholischen kirche wiederfinden lässt). als letztes dann noch dazu die patriarchale wahnvorstellung vom ehr- als wertverlust - die vergewaltigten kinder (und frauen) sind nicht (mehr) "unberührt" (womöglich dank ihrer "verführungskraft"), haben also "schande" über sich (und ihre herren und besitzer) gebracht, die diese dann auch bis heute in offen patriarchalischen kulturen "sühnen müssen", damit die "ehre" des "herren" (oder auch der familie) wiederhergestellt sei - ein punkt, an dem sich besonders religionen mit patriarchalen göttern die hand reichen.

wer also bisher die begriffe "kinderschänder" oder auch "schändung" gedankenlos nachplapperte, sollte sich zukünftig etwas mehr darüber im klaren sein, in welche unheilvolle tradition er oder sie sich damit stellt.

"sexskandal": das wort ist in diesem zusammenhang für sich selbst ein skandal - einmal, weil damit regelmässig assoziationen verbunden sind, die ich hier nicht extra anführen möchte, die aber der brutalen realität in den heimen, internaten, schulen etc. völlig unangemessen sind. zweitens geht es regelmässig um gewalt, und nicht um wie auch immer geartetete formen von sexualität. vergewaltigungen und andere formen sexualisierter an- und übergriffe haben nichts mit sexualität, sondern nur mit dem ausdruck von machtverhältnissen bzw. -bedürfnissen seitens mehr oder weniger gestörter persönlichkeiten zu tun, die unter bestimmten bedingungen sexualisiert auftreten. und in den bisher bekannten fallbeschreibungen tritt sexualisierte gewalt überwiegend nur als eine facette unter anderen, nichtsexualisierten gewaltformen auf.

pädophilie: nachdem ich vor langer zeit einmal an einer öffentlichen auseinandersetzung mit einem örtlichen schwulenzentrum beteiligt war, in dessen räumen sich eine pädophile "selbsthilfegruppe" (deshalb in anführungszeichen, weil sich diese gruppe offensiv für die "gleichberechtigung" einer angeblich ebenso legitimen sexuellen variante wie homo- oder heterosexualität mitsamt der selbstdefinition als "unterdrückt" öffentlich einsetzte), habe ich weder zeit noch lust, dieses thema nochmals tiefgreifend zu beleuchten. nur soviel: aus meiner sicht spielen in der aktuellen diskussion die taten "echter" pädophiler lediglich eine nebenrolle; vielmehr halte ich den begriff der totalen institution für entscheidend (dazu mehr im zweiten teil). es gibt natürlich eine gewisse wahrscheinlichkeit dafür, dass sich im ganzen bereich des institutionellen umgangs mit kindern und jugendlichen vermehrt auch pädophile finden lassen, aber die oftmals sichtbare koppelung mit nichtsexualisierter gewalt gerade im kirchlichen rahmen deutet nicht unbedingt als haupttäter auf die pädophile fraktion hin.

wir hatten damals als hauptpunkt der diskussion von pädophiler seite immer wieder mit dem betonten argument zu tun, dass sie ihr treiben keineswegs als gewalt ansehen würden, sondern im gegenteil "aus echter liebe" ihr kindliches gegenüber achten und niemals schädigen würden. das mag aus ihrer selbstwahrnehmung heraus durchaus so erscheinen, nur ändert das nichts an der realität dessen, dass zwischen erwachsenen und kindern (ab einem bestimmten - jugendlichen - alter stellen sich andere fragen) immer ein nicht aus der welt zu schaffendes machtgefälle bis -ungleichgewicht herrscht, was sich schlicht und einfach aus faktoren wie lebenserfahrung, des massiven ungleichgewichtes der gegenseitigen abhängigkeit, aber bspw. auch schlichter körperlicher stärke ergibt. dieser umstand lässt sich auch mit noch soviel gutem willen nicht aus der welt konstruieren, und deshalb sind sexuelle verhältnisse zwischen erwachsenen und kindern immer ein problem und grundsätzlich nur einen kleinen schritt vom kippen in ein offenes gewaltverhältnis entfernt. pädophile neigungen, auch wenn sie subjektiv als "naturhaftes" erlebt werden mögen, deuten auf meiner sicht eher regelmässig auf eigene massive probleme in der persönlichkeitsstruktur des pädophilen hin, incl.gerade der unfähigkeit zu gleichberechtigten beziehungen mit erwachsenen menschen.

das bedeutet übrigens nicht, dass ich damit kindliche sexualität leugnen will - nur sollten kinder den raum haben, die ihrem alter angemessenen erfahrungen auch unter ihresgleichen machen zu können - ohne verzerrende und in aller regel schädliche einmischung von meist wesentlich älteren.

*

(zum
zweiten teil)

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