Sonntag, 11. April 2010

assoziation: nicht wirklich fröhliche gedanken an einem dämmernden frühlingssonntagabend

"klassische" gefühle von innerer leere überkommen mich heute immer wieder, habe mich scheint´s zu sehr den zuständen gewidmet. und das bedeutet ja keinesfalls bzw. noch nicht mal überwiegend die distanziert-objektivistische betrachtung, sondern die zustände gehen an die nieren - irgendwie eine treffende metapher - und bringen die neuronen in hirn und nervensystem/-en (nicht das enterische vergessen) ihrerseits in zustände, die sich dann als bedrückende und belastende emotionen und gedanken manifestieren. aber schreiben kann ja zumindest manchmal therapeutische wirkung entfalten - nun denn.

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als fortsetzung meiner kleinen letztjährigen reihe mit dem versuch, die
folgen der (ökonomischen) krise hierzulande etwas mehr zu fassen zu bekommen, kann ich ganz persönlich feststellen, dass ich die von mir heimlich befürchteten auswirkungen gerade im sozialen bereich mehr und mehr auch in meinem umfeld wahrnehme - es ist deutlich die tendenz vorhanden, sich auf die "allerprivatesten" dinge, umstände, situationen und orte zurückzuziehen. "politik" (als sammelbegriff für alles "öffentliche") wird zusehends gar nicht mehr oder aber nur noch mit kurzen zynismen kommentiert und wahrgenommen. der wunsch, eine zusehends unbegreiflichere und vor allem auch bedrohlichere welt einfach mittels türzuschlagen "draußen" stehen zu lassen, ist ja verständlich (und ich setze das - immerhin inzwischen meist sehr bewusst - selbst ein, um die nötigen ruhepausen zu finden). andererseits: was sagt es über die zustände unserer welt aus, wenn "wir" uns zunehmend defensiv verhalten, zurückziehen und die einzige "utopie" noch darin besteht, "privat" möglichst angenehm über die runden zu kommen?

mal abgesehen davon, dass letzteres gar nicht funktionieren kann ("die welt" wird beizeiten alle scheinbar fest verschlossenen türen schlicht eintreten und aus den angeln heben), erzählt das beobachtete für mich auch laut und deutlich von allgemeiner überforderung. ein burn-out bzw. das, was sich hinter dieser diagnose alles verbergen kann, ist nichts, was alleine am (lohn-)arbeitsplatz entsteht - es ist eine frage aller lebensbereiche und ein symptom für eine umfassende dysfunktionalität - zunächst im weiteren und nahen sozialen beziehungsgeflecht, dann bzw. parallel zwangsläufig auch individuell psychophysisch.

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es ist eine gefährliche situation, wenn sich solche zustände nicht nur vereinzelt manifestieren, sondern als quasi symptomatisch für die verfassung ganzer gesellschaften wahrgenommen und auch hingenommen werden. dieses letztere nun lässt sich mit einigem recht als ausdruck auch von umfassenden legitimations- und letztlich sinnkrisen betrachten - medial wird sich diesen alarmzeichen dann am beispiel eines
nachbarlandes zb. so genährt:

(...) "In Frankreich kriecht gelbe Galle durchs Land. Das Volk misstraut allem und jedem: dem Staat, den Parteien, den Medien. Den Kirchen sowieso. Erst recht den Unternehmen. Und untereinander hegen viele Franzosen ebenfalls Argwohn. Nur ein Fünftel von ihnen glaubt noch, man könne sich gemeinhin auf Mitmenschen verlassen." (...)

mal alle berechtigten fragen nach der plausibilität und repräsentativen aussagekraft von studien wie solchen, auf denen das zitierte beruht, aussen vor gelassen: ist das nicht eigentlich genau das, was - nicht nur in frankreich - zu erwarten ist? alle genannten institutionen erscheinen zunehmend hohl, wenn nicht gleich als ausdruck organisierter zweifelhafter zwecke bis offener kriminalität, vor allem im antisozialen sinne gemeint. nur keine missverständnisse: als sympathisant des anarchistischen gedankens habe ich keine probleme damit, dass sich mehr und mehr systemtragende institutionen und ihre repräsentanten zusehends selbst unmöglich machen und teils regelrecht demontieren (banken und kirchen sind dafür nur sehr auffallende beispiele) - ich finde das eigentlich eine höchst überfällige und sehr begrüssenswerte entwicklung.

das problem: es ist weit und breit nichts wahrzunehmen, was das entstehende vakuum wirkungsvoll und vor allem positiv füllen könnte. sprich: selbstbestimmte und selbstregulierende kollektive entwicklungen zur beantwortung der wichtigsten gesellschaftlichen probleme, beruhend auf authentischer individualität. selbst wenn ich mich an meinen eigenen, in der vergangenheit hier mehrfach geäusserten verdacht klammere, dass wirklich neue politische entwicklungen sich unter umständen in formen vollziehen werden, die historisch bisher unbekannt waren und von daher vielleicht auch nur schwer wahrzunehmen sind, so bleibt doch der eindruck einer allumfassenden defensiven und abwehrenden grundhaltung, und zwar ganz pauschal "der welt" gegenüber, hartnäckig in meinem kopf sitzen.

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wenn ich denn die grundstimmung vieler zeitgenossen unserer epoche in ein paar worten zusammenfassen sollte, würde ich etwas in der art von passiv-gleichgültiges, gleichzeitig latent aggressives misstrauen wählen - zusammen mit der eingangs schon erwähnten allgemeinen tendenz zum rückzug in scheinbar private refugien bietet das ein bild, welches ich bei einem einzelnen menschen als ausdruck einer larvierten depression bezeichnen würde - "larviert" meint hier eine besondere form von versteckt, besser halb-versteckt oder noch nicht voll ausgeschlüpft, weil die depression zwar schon wahrnehmbar ist, aber der betroffene noch zu gleichgültigem funktionieren in der lage ist, wozu auch oberflächliches "spasshaben", meist unter einfluss verschiedenster psychoaktiver substanzen, gehören kann. die kurzfristige "begeisterung" für inhaltlich entleerte und oberflächliche events aller art, die immer wieder neu medial produziert wird, steht dabei für die pseudokollektiven formen des letzteren und bildet dabei gleichfalls nur die andere seite der medaille von dem, was in der letzten zeit hierzulande seitens der selbsternannten "eliten" an plumpen und altbewährten ressentiments wahlweise gegen "die griechen", "die moslems", "die arbeitsscheue hartz-IV-unterschicht" oder sonstwen versucht wird zu schüren - der versuch, die durchaus wahrnehmbaren destruktiven aggressionen wiederum in formen von gegenseitiger aufhetzung konstruierter pseudokollektive zu steuern und zu kontrollieren. aber auch hier ist mein eindruck der einer bestimmten wahllosigkeit - auch, wenn dahinter alte und traditionelle versuche der fragmentierung zwecks machterhaltung stehen, so glaube ich nicht, dass das so funktioniert wie in der unheilvollen vergangenheit - zumindest nicht in den bekannten formen.

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die da heissen: nationalismus, rassismus, sexismus und alle varianten von sozialdarwinistischen bis eugenischen ideologischen konstrukten. sicher schwirren von diesen ladenhütern machtstützender ideologien an allen ecken und enden fragmente durch die gegend; sicher sind auch die seit jahrzehnten unübersehbaren modernisierungsversuche - "wie mache ich diesen alten dreck kompatibel zum modernen zeitgeist?" - teils von mehr oder weniger großem erfolg gekrönt - und trotzdem bleibt vor allem der eindruck einer großen gleichgültigkeit, die sich wie mehltau auf das ganze gesellschaftliche leben gesenkt hat.

und so ist auch die überschrift
wie in alten zeiten des blogs, welches dankenswerterweise das folgende zeitzeugnis dokumentiert hat -

tote soldaten


- rein oberflächlich betrachtet zwar treffend (wenn man sich in den entsprechenden archiven die todesanzeigen der jahre 1939 - 45 in deutschen zeitungen betrachtet, so gibt es da nur ein paar variationen derart, dass damals von "stolzer trauer" und "für führer und vaterland" die rede war), aber bei genauerem hinsehen mutet den versuchen der erzeugung von so etwas wie nationalistischer, gar militaristischer ernsthafter bzw. erhabener (kriegs-)unterstützung (von begeisterung gar nicht zu reden), und sei´s in form von "nationaler trauer und betroffenheit", doch eher etwas absurdes an - das allermeiste wirkt inszeniert, wie show, fake und simulation. leer.

was ja nun gerade in diesem kontext nicht das schlechteste ist - die gemetzel im namen solch fiktionaler konstrukte wie "nation" u.a. bilden bekanntlich zu einem großen teil die historie der spezies. heute aber scheint es so zu sein, dass die wirkungen des totalitären kapitalismus - vereinzelung bzw. all die (verkäuflichen) formen der pseudoindividualität, allgemeine fragmentierung, beschleunigung etc. - zusammen mit seinen massenmedialen vermittlungsebenen bestimmte, pathologische psychophysische und in der vergangenheit verbreitete menschliche strukturen mitsamt ihren spezifischen fiktionalen kompensationsversuchen alá "nation", "gott" etc. ebenfalls unterminiert bzw. durch noch zu bestimmendes anderes abgelöst haben (hier dürfte übrigens eine motivation jener "echten", d.h. reaktionären, konservativen liegen, die sich selbst nicht mehr in der aktuellen kapitalistischen variante wohlfühlen und teils schon verzweifelt versuchen, die "alten werte" wie familiensinn, "patriotismus" usw. mit allen zugehörigen sog. tugenden - disziplin, formale höflichkeit etc. - neu zu definieren und zu füllen.)

dieser gerade zwangsweise sehr grob skizzierte vorgang haut also reale und fiktionale, "alte" kompensatorische ebenen der kollektiven und individuellen sinngebung gleichzeitig zu klump. wobei letztere seitens der "eliten" regelmässig wiederzubeleben versucht werden, was aber offensichtlich nicht so recht gelingen will - wenn, dann (ausser für die ganz gestörten) nur noch als unglaubwürdige farce. der große rest bleibt gleichgültig oder konsumiert bspw. den "neuen patriotismus" anlässlich von irgendwelchen sportevents ähnlich wie eine tv-show.

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ich hoffe, dass Sie mir ungefähr folgen können - ich versuche gerade, etwas genauer zu fassen zu bekommen, was mir seit langem als vager und diffuser eindruck immer wieder durch meine wahrnehmung geistert. bei der frage an mich selbst, wie ich das umrissene denn nun selbst finde und was das womöglich für konsequenzen hat, bin ich sehr zwiegespalten. einmal finde ich, dass bereits deutlich zu sehen ist, in welche richtung eine gesellschaft driftet, die von solchen tendenzen wie dargestellt bestimmt wird - bereits öfter thema hier, ist das stichwort wieder einmal
mafiasierung - bandenbildung:


(...) "Doch der wirklich gefährliche Teil der Mafia ist unsichtbar, vor allem in Ländern, in denen sie investiert. Nehmen Sie die sizilianische Mafia. Hochintelligente, bürgerliche Verbrecher: Ärzte, Mittelständler oder Juristen, die immer erfolgreicher gesellschaftliche Schlüsselpositionen besetzen und ihre Kinder auf die Universität schicken. Oder schauen wir auf die russische Mafia, die in einem kapitalistischen System stark geworden ist, das nach unseren Schätzungen heute zu 70 Prozent vom organisierten Verbrechen betroffen ist und nun große Teile der Weltwirtschaft beeinflusst. (...)

SZ: Wie muss man sich diese wirtschaftliche Betätigung vorstellen?

Scarpinato: Wie eine Tumorzelle, die wächst und streut. Diese kriminelle Zelle erwirbt ein Hotel oder ein Restaurant; dort werden fünf, sechs Menschen platziert, die das Geschäft im Sinne dieser Clans nutzen und ausbauen. Natürlich darf man das nicht kleinreden, wenn die 'Ndrangheta in Bochum eine Pizzeria eröffnet, aber es ist ein Entwicklung, die sich durch Ermittler gut kontrollieren lässt. Im Vergleich zu unseren wirklichen Problemen ist es ein Witz.

SZ: Was ist das eigentliche Problem?

Scarpinato: Wir müssen aufhören, so zu tun, als beschränke sich die Mafia auf wenige Krisenregionen. Es geht um ganze Staaten, die unterwandert werden. Indem die Mafia dort Verbündete an zentralen Stellen platziert. Das kann der Vertreter einer Schweizer Bank, ein Politiker oder ein Mailänder Spitzenanwalt sein. Ein Schulterschluss zwischen traditioneller Mafia und Funktionären. Und derzeit entwickelt sich die organisierte Kriminalität zu komplexen kriminellen Großsystemen, die undurchschaubar werden.

SZ: Das klingt wie eine Verschwörungstheorie. Einige deutsche Ermittler halten das auch für Panikmache.

Scarpinato: Die Probleme zeigen sich aber an vielen Stellen. Etwa in Russland, wo sich das organisierte Verbrechen mit Personen aus Politik, Wirtschaft oder Finanzwelt zusammengetan hat. Das Kapital, das global verschoben wird, ist enorm. Zudem sehen Analysten mit Sorge die Bedeutung des chinesischen und indischen Wirtschaftswachstums für das organisierte Verbrechen. Wenn sich diese Raten aufrecht erhalten lassen, haben die Chinesen in 20 Jahren dieselbe Kaufkraft wie der Westen. Das würde nicht nur bedeuten, dass China das neue Dorado des Drogenkapitalismus wird, sondern auch dass illegale Märkte die legalen an Bedeutung übertroffen haben. Alle alten Mafia-Geschichten sind nur noch Folklore." (...)


ich greife das mafia-thema hier nicht umsonst immer wieder auf, weil ich finde, dass sowohl die ausbreitung "der mafia" (als sammelbegriff für alle adäquaten globalen strukturen) als auch die zunehmende ununterscheidbarkeit zwischen "legal" und "illegal" gerade im ökonomischen und politischen bereich etwas ist, was einerseits von sehr vielen mit der materie professionell befassten konstatiert wird, andererseits aber in der möglichen bedeutung größtenteils schwer unterschätzt wird. allgemeine vereinzelung und gleichgültigkeit bei parallel laufenden deutlichen tendenzen zur totalitären verdinglichung von allem lebendigen laufen in letzter konsequenz auf verschiedenste, "regional angepasste" (suchen Sie im blog einmal nach "maras") mafiöse strukturen als extreme verfallsform des sozialen hinaus. auf dieser ebene sind alle formalen und fiktionalen normen von "moral" und "ethik" auf ihren eigentlichen gehalt reduziert - nämlich gar keinen. die angebliche "ehre" der mafiosi ist sichtbar nur noch ein ganz dünnes feigenblatt; real befinden sich in solchen strukturen nur noch lauter einzelkämpfer, die einen rücksichtslosen kampf um ihr eigenes überleben - mittels aufstieg in der jeweiligen machtpyramide - austragen. wenn man sich übrigens die antiutopie des neoliberalismus betrachtet, so lässt sich die mafia durchaus als verwirklichung des dortigen antisozialen freiheitsbegriffes verstehen - eigentum und vertrag als einzige basis jeglicher sozialität. dem kann jeder mafiosi zustimmen - "verträge" bzw. ihre gestaltung bestimmt der stärkere, und die fiktion "eigentum" wird in diesem szenario der totalen verdinglichung eh zum einzig "sinnstiftenden" element.

*

man kann eine derartige gesellschaft als soziopathische dystopie betrachten, ebenfalls als eine variante von dem, was marx glaube ich als "frühe akkumulation" bezeichnet hat - eine ungebremste profit- und raubmaschine. das für ein solches szenario selbst deutlich fiktionale konstrukte und formale gesetze und normen staatlicher, religiöser oder sonstiger "traditioneller" herkunft hinderlich sind, liegt auf der hand. das mafiöse gesellschaftsideal sieht im kern eher so aus wie das, was unter "wilder westen" aus den frühen tagen der usa bekannt ist - incl. recht des stärkeren, lynchjustiz, und totaler freiheit für jegliche egozentrische anwandlung. heute hat das die form des failed state - nicht zufällig entspringen die maras den mittelamerikanischen, die piraten in ostafrika den dortigen (bürger-)kriegszonen.

ein deutlicher fehlschluß liegt für mich aber nun darin, aus dem obigen heraus eine stärkung der benannten "traditionellen" institutionen - an erster stelle die nationalstaaten - zu fordern. und das nicht nur deswegen, weil auch viele staatliche strukturen heute rund um den planeten als mafiös besetzt gelten müssen, sondern weil genau diese auf altbekannten fiktionen gebauten und angelehnten konstrukte wie staaten, nationen und institutionalisierte religionen erst überhaupt den boden für diese extremen formen der antisozialität bereitet haben. auf (philosophischen) fiktionen beruhende gesellschaftliche normen, nach objektivistischen kriterien waltende justiz und religiös begründete moralsysteme tragen allesamt die tendenz zur offenen und qualitativ soziopathischen antisozialität in sich - während sich die ersteren als historische auslaufmodelle im rahmen der zugrundliegenden traumatischen matrix (= die wirkungen der durch unsere geschichte hindurch akkumulierten individuellen und kollektiven gewalt in der spezies) betrachten lassen, stellt die offene soziopathie (und ihre potenziell antisozialen satelliten in form strukturell verwandter psychophyischer zustände) eher eine art endzustand der möglichen menschlichen entwicklung in dieser matrix dar - solche individuen sind u.a. per empathielosigkeit, unfähigkeit zur angstwahrnehmung und beziehungsunfähigkeit GANZ UND GAR NICHT ZUFÄLLIG gerade unter besonders gewalttätigen, also potenziell traumatischen sozialen bedingungen, besonders funktionsfähig. die soziopathische struktur als menschliche option scheint ein logischer, auch durchaus evolutionärer versuch zu sein, die spezies unter traumatischen bedingungen quasi über die runden zu bringen.

bedauerlicherweise lässt sich diese psychophysische mutation nur noch als "mensch neuen typs" betrachten, weil ihr so ziemlich alles fehlt - an erster stelle die liebesfähigkeit - was uns menschen als soziale wesen ausmacht. und so paradox es klingt: dazu gehört auch die fähigkeit, sich überhaupt traumatisieren lassen zu können! denn ein trauma kann nur an bestimmten bruchlinien innerhalb der psychophysis ansetzen und verwandelt dort primär vertrauen in misstrauen, (zer-)stört derart auch die allgemeine beziehungsfähigkeit, produziert rückzug in fiktionale welten, isolation - ganz allgemein gesagt, wird der objektivistische modus zur kompensation der verschütteten / verlorenen sozialen fähigkeiten extrem aktiviert und darüber der eigentlich "gesunde autismus" innerhalb unserer struktur zu einem pathologischen zustand.

*

am anfang hatte ich von der großen gleichgültigkeit geschrieben, und die ist für mich ebenfalls ein immanenter ausdruck der traumatischen matrix, die unser aller leben bis heute bestimmt. und wie ich in den vergangenen beiträgen der letzten wochen zum thema der gewalt in totalen institutionen schon angemrkt hatte, ist das, was aktuell alles sichtbar geworden ist, nur als ein teil dieser matrix zu
begreifen:

(...) "Der Bundesgerichtshof freilich hat noch 1988 "eine gelegentliche Tracht Prügel" für zulässig erklärt. Die Züchtigung mit einem "stockähnlichen Gegenstand" sei, so sagten die fünf hohen Richter im genannten Fall, "nicht pauschal zu verdammen". Es müssten, so urteilten sie allen Ernstes, alle "objektiven und subjektiven Umstände des Tatgeschehens geprüft werden". Die Untaten des Kindes mussten also zur Dicke des Schlauches und der Zahl der Schläge ins Verhältnis gesetzt werden. So war es Recht - nein, nicht bis 1800, nicht bis 1900, sondern bis zur großen Rechtsänderung von 2000.

Ist das verdrängt - aus Scham über das Vergangene, aus Stolz über das Erreichte? Die lange Geschichte der alltäglichen Prügelei in Schule und Familie ist erst vor einer historischen Sekunde zu Ende gegangen.

Es ist bezeichnend, dass zwei Jahrtausende lang "Frau Grammatika", also die Symbolfigur für Schule und Unterricht, mit der Rute in der Hand gezeigt worden ist. Und zwei Jahrtausende lang hieß das, was heute elterliche Sorge heißt, elterliche Gewalt. Martin Luther hat sie so geschildert: "Die Mutter stäupte mich um einer geringen Nuss willen, dass das Blut hernach floss." Aber, so fügte er an, die Eltern "meinten’s herzlich gut". Diese Art von Güte ist noch nicht ausgestorben.

Das Recht des Ehemanns, die Ehefrau zu züchtigen, wurde erst 1947 offiziell aufgehoben; das Recht des Lehrherrn zur väterlichen Zucht der Lehrlinge wurde erst 1951 abgeschafft; die schulischen Körperstrafen, also die von Lehrern verabreichten Ohrfeigen, Kopfnüsse und Tatzen, wurden in der Bundesrepublik erst 1973 umfassend verboten. Erst seit 1998 sind "körperliche und seelische Misshandlungen" im Bürgerlichen Gesetzbuch für unzulässig erklärt.

Und erst seit dem Jahr 2000 steht dort der klare Satz, der Kindern ein "Recht auf gewaltfreie Erziehung" gibt. Dagegen gab es vor einem Jahrzehnt massive Widerstände. Es sei, so hieß es, dem "Kindeswohl wenig förderlich, wenn Selbstverständlichkeiten ständig wiederholt würden". Selbstverständlichkeiten? Die Eiszeit der Erziehung ist soeben erst zu Ende gegangen. Sie war eine Art Scharia im Westen. Die Misshandlungsskandale, die heute entdeckt werden, sind ihr Nachhall." (...)


mal abgesehen davon, dass die realität nicht nur für viele kinder und nicht nur in anderen regionen, sondern auch in diesem land bekanntlich immer noch so aussieht, dass es fraglich erscheint, bei den "skandalen" von heute von einem "nachhall" zu sprechen, geht bei dieser nötigen und sachlich durchaus richtigen darstellung eines völlig unter: nämlich dass die in juristische normen gegossenen veränderungen in jedem fall gegen den gesellschaftlichen mainstream und die relevanten teile der "eliten" sowieso erkämpft werden mussten - und das gilt eigentlich für alle "zivilisatorischen" errungenschaften, mit denen sich der "freie westen" bis heute zur abgrenzung und selbsterhöhung gegenüber anderen kulturen selbstgefällig schmückt. egal ob arbeiterInnenrechte, stellung der frau oder eben respekt vor kindern: jedes noch so kleinste fitzelchen positiver entwicklungen musste unter teils großen opfern den jeweiligen historischen machteliten aus den händen gezerrt werden; oft genug hiess das auch: kompromisse zu ertragen, weil die eigene macht nicht ausreichend war.

und das, was da dann letztlich alles in gesetzbücher und deklarationen gepackt wurde, ist selbstverständlich nicht davor gefeit, mit einem mal wieder ausradiert zu werden. immer noch stellen diese formen lediglich prothesen für mehr oder weniger gewünschtes soziales verhalten dar - und die notwendigkeit, mit strafandrohungen im falle des nichtbefolgens zu arbeiten, unterstreicht einmal mehr, dass die einzige - relative, aber stärkste denkbare - tatsächliche sicherung dessen, was allgemein als menschenrechte bezeichnet werden kann, nur darin liegt, die traumatische matrix und ihre per unendlich erscheinender individueller und kollektiver re-inszenierungen fortdauernde existenz in möglichst vielen menschen möglichst weitgehend aufzulösen. was dann ohne zweifel auch entsprechende gesellschaftliche konsequenzen hätte.


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ich komme nun langsam zum ende dieses nicht zufällig in der rubrik "assoziation" erscheinenden beitrags. hatte ich weiter oben - im teil zur mafia - von eigener zwiespältigkeit im angesicht der eingangs skizierten wahrnehmungen geschrieben und die mafiasierung als eine zu beobachtende entwicklung dargestellt, so fehlt noch sozusagen die andere seite: könnte es sein, dass innerhalb der erwähnten gleichgültigkeit auch eine tendenz der grundsätzlichen abwendung von den existierenden strukturen vorhanden ist, die sich in einer sozusagen ernüchterten, aber dadurch auch realistischeren einschätzung der eigenen mittel und kräfte ausdrückt? ich kann und will damit nicht meine eigenen, leider negativen eindrücke relativieren oder zurücknehmen, bin aber der meinung, dass sich sehr wohl gerade aktuell durch die thematisierung überhaupt - sowie teils durch ihre art und weise - der gewalt gegen kinder / jugendliche - auch solche tendenzen, wenn auch sozusagen im hintergrund, wahrnehmen lassen. heute leben immerhin zumindest relevante teile von ein paar generationen in den westlichen staaten, für die weder elterliche gewalt noch militärische dressur einen nicht zu hinterfragenden regelfall darstellten. starke minderheiten haben bisher historisch immer als katalysatoren positiver sozialer entwicklungen gewirkt - und je weniger eigene traumatische biographien diese mit sich schleppen müssen, umso mehr steigt die option für ähnliche prozesse.

ich bin mir aber durchaus nicht im klaren darüber, ob das nun eine realistische, wenn auch unwahrscheinliche möglichkeit ist oder aber eine art wunschdenken.
nötig wäre ersteres allemal, um die finsternis zumindest ein bißchen zu vertreiben.

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