Freitag, 21. Mai 2010

aufgewärmt: amok; (in) china; oxytocin, männer & autismus

mit dem sog. amok verhält es sich zumindest an einem punkt ein bißchen wie mit erdbeben und vulkanausbrüchen: alle besitzen die gemeinsamkeit, nicht derart vorhersagbar, geschweige denn kontrollierbar - im sinne einer genauen prognose - zu sein, wie es sich womöglich große teile der derzeitigen menschlichen gesellschaften mit all ihren kontrollambitionen gerne wünschen würden. sicher ist nur, dass sowohl die menschengemachte katastrophe als auch die naturphänome (die ebenfalls in vielen fällen erst durch menschliches (nicht-)handeln katastrophische wirkungen in der menschenwelt erzeugen) kommen, mal mehr, mal weniger regelmässig.

und das gilt auch für den
amok neuen typs - mit diesem begriff hatte ich die sehr spezifischen formen des school-shootings in den usa und europa versucht, vom "klassischen" amok etwas zu differenzieren. und war damals u.a. auf die arbeiten von götz eisenberg zum thema eingegangen, der immer noch als so etwas wie der führende "amok-forscher" hierzulande gelten kann. nun bin ich auf eine interessante rezension seiner neuen arbeit zum thema gestoßen, und zwar auch und gerade wegen der folgenden passage:

(...) "In diesem Zusammenhang weist er darauf hin, dass bestimmte Eigenschaften von „Psychopathen“ – dass sie z.B. unfähig sind, sich in andere einzufühlen; dass sie anpassungsfähig, zynisch-kalt, bindungs- und skrupellos und ausschließlich an privater Nutzenmaximierung interessiert sind – durchaus auf die Hasardeure und Gurus der Finanzwelt zutreffen, die uns an den Rand des Abgrunds manövriert haben. Ja mehr noch. Unter Hinweis auf eine Studie von Paul Babiak und Robert Hare mit dem Titel „Menschenschinder oder Manager“ (München 2007), in der diese Autoren vor dem Vordringen von „Psychopathen“ in Führungspositionen warnen, fragt Eisenberg, wie wohl Menschen beschaffen sein müssen, die sich kalt und indifferent gegenüber den Schicksalen anderer Menschen verhalten. „Im Zeichen der neuen Management- und Unternehmensstrategien erhalten Leute eine Chance, die bereit sind, für ihre eigene Karriere über Leichen zu gehen, und im Namen kurzfristig erzielter Profite auch vor extrem riskanten und betrügerischen Projekten nicht zurückschrecken.“ (...)

ich habe das buch zwar noch nicht in den händen gehabt, finde es jedoch sehr positiv, dass sich das bewußtsein über bestimmte, letztlich schon länger bekannte mögliche zusammenhänge zwischen massiven psychophysischen defekten und dem aktuellen gesellschaftlichen status langsam zu verbreitern scheint. wenn ich eisenbergs thesen dazu selbst gelesen habe, kommt noch eine eigene rezension hinterher.

*

es wäre aufschlußreich, im vergleich einmal zu sehen, ob und wie sich amok-taten in den verblichenen "realsozialistischen" (= staatskapitalistischen) ländern abgespielt haben - auf die schnelle würden mir keine vergleichbaren ereignisse aus der geschichte dieser länder, oder auch aus kuba, einfallen, was natürlich bei der erinnerung an den üblichen umgang mit symptomen sozialer störungen in diesen ländern erst mal nichts zu sagen hat. trotzdem spricht einiges dafür, dass die moderneren formen des amoks ihre wurzeln auch in den jeweiligen sozioökonomischen verhältnissen haben, wozu in der kapitalistisch geprägten welt auch phänomene wie beschleunigung, stress, mobbing und (materielle) existenzunsicherheit gehören. in gewisser hinsicht durchaus unfreiwillig konnten die "realsozialistischen" staaten auch hier nicht dem (destruktiven) original das wasser reichen, was bezgl. amok dafür sprechen würde, dass diese spezielle wurzel dort nicht derart üble triebe hervorbringen konnte - im sinne eines verstärkers / triggers individueller psychophysischer biographischer dispositionen - wie in unserer heutigen welt. diese these im hinterkopf behaltend, betrachte ich die jüngsten informationen über
amok in china:

"Am Mittwochmorgen ist ein mit einem traditionellen Messer bewaffneter Mann in einen privaten Kindergarten in einem nordchinesischen Dorf in der Provinz Shaanxi eingedrungen und hat sieben Kinder, den Leiter und dessen Mutter zu Tode gehackt. Weitere elf Kinder wurden laut der amtlichen Nachrichtenagentur Xinhua verletzt, die sich auf lokale Behörden berief. Anschließend nahm sich der 48-jährige Mann in seinem Haus das Leben. Die Motive für die Tat blieben zunächst unklar.

Es war bereits der fünfte Amoklauf in einem Kindergarten in China mit Messern oder Hämmern in den letzten acht Wochen. Bisher starben dabei 17 Menschen, Dutzende wurden verletzt. (...) Alle Amokläufe wurden von Männern mittleren Alters verübt und dürften teilweise auch Nachahmungstaten gewesen sein. (...)

Die Amokläufe werden in der Volksrepublik als Zeichen für den psychologischen Stress gewertet, den der rapide gesellschaftliche, soziale und wirtschaftliche Wandel auf die Bevölkerung ausübt. Auch könnten die Fälle signalisieren, dass es zu wenig Behandlungsmöglichkeiten für psychische Probleme gibt." (...)


zynisch könnte man sagen: jetzt erst ist china wirklich in der kapitalistischen (post-)moderne angekommen. in
anderen bereichen haben sich die dortigen systemvertreter ja schon länger bemüht.

im angesicht der puren zahl von menschen unter den aktuell extrem beschleunigten bedingungen in diesem land (plus der eigenen, durchaus in vielen teilen traumatischen, chinesischen geschichte) stellt sich überhaupt grundsätzlich die frage nach psychophyischer gesundheit im weitesten sinne, und
joachim jahnke hat sich diesbezgl. neulich ein paar tiefergehende gedanken gemacht:

(...) "Unter den Bedrohungsszenarien, die zu Angst und psychischen Störungen führen, dürfte der Globalisierungsdruck auf die Arbeitsmärkte der Welt eine erhebliche Rolle spielen. Seit einigen Jahren geht dieser Druck vor allem von China und seiner hunderte von Millionen starken Unterschicht an Wanderarbeitnehmer ohne Streikreicht und unabhängige Gewerkschaften aus. Die miserablen Sozial- und Arbeitsbedingungen werden mit dem Export der billigen Waren teilweise weitergereicht, real oder als Angstkulisse.

Aus den gleichen Gründen nehmen aber psychische Erkrankungen auch in China selbst erheblich zu. In nur sechs Wochen kam es jetzt zu sechs mörderischen Attacken von geistig oder seelisch Gestörten auf Schulen in China. Zuletzt wurden sieben Kinder und der Lehrer zu Tode gehackt. Yue Guo'an, Professor für Sozialpsychologie an der Nankai Universität in Tianjin meint:

„Chinas Gesellschaft betritt eine Hoch-Risiko-Phase. Die unfaire Verteilung des Reichtums, die offizielle Korruption, das Versäumnis der Sicherung der Grundnöte der Menschen, die Unfähigkeit, alle diese Probleme zu lösen, hat eine unharmonische Umwelt geschaffen."

Huang Yueqin, die Direktorin des National Centre for Mental Health meint:

„Meine eigene Schätzung ist, daß ein Drittel der Studenten, mit denen ich studiert habe, jetzt eine Form von mentaler Krankheit haben".

Unter den Todesfällen wegen Verletzung und Gewalt entfallen 28 % auf Selbsttötung. Prof. Michael R Phillips hat im Juni 2009 in der britischen medizinischen Zeitschrift Lancet eine von der Weltgesundheitsorganisation finanzierte Studie zu mentalen Störungen in vier chinesischen Provinzen veröffentlicht. Danach haben 17,5 % der Menschen in China eine Form von mentaler Störung, fast alle (95 %) jedoch ohne Behandlung. Schon 2004 war das die wichtigste Krankheitsform in China, die mehr als 20 % der gesamten Gesundheitsbelastung darstellte." (...)


solche zustände und die daraus folgenden aussichten muss und will ich nicht mehr ausführlich kommentieren; entsprechendes ist in früheren beiträgen nachzulesen. aber es wäre vielleicht mal nötig, dass sich die hiesigen (westlichen) amok-forscher mal genauer die chinesischen varianten betrachten würden - ich vermute, da gäbe es einige interessante aha-effekte.

*

das neuropeptid / hormon oxytocin spielt ja im menschlichen sozialen leben eine nicht geringe rolle (und dürfte auch in indirekter form beim gerade thematisierten mitbeteiligt sein), beispiele sind
hier und hier nachzulesen. vor einiger zeit nun machte eine meldung die runde, die ich aufgrund ihrer möglichen implikationen recht spannend fand - "Oxytocin macht Männer sensibel":

"Das Neuropeptid Oxytocin verbessert bei Männern die Fähigkeit, sich emotional in ihre Mitmenschen hineinzuversetzen. Die Substanz sensibilisiert außerdem für „soziale Verstärker“ wie lobende oder tadelnde Gesichter. Diese Erkenntnisse gewannen Forscher um Keith Kendrick von dem Babraham-Institut in Cambridge. (...)

Oxytocin ist ein Hormon, das die emotionale Bindung zwischen Mutter und Neugeborenem stärkt. Das Neuropeptid wird mit Gefühlen wie Liebe und Vertrauen in Verbindung gebracht. Die Studie zeige, dass emotionales Einfühlungsvermögen durch Oxytocin moduliert wird und dass Ähnliches auch für Lernprozesse mit sozialen Verstärkern gelte, behaupten die Wissenschaftler. (...) Die Oxytocin-Gruppe hingegen wies eine Empathie mit Werten auf, die in der Höhe derer von Frauen lag."


na sowas - wäre es dann doch angebracht, demnächst in fussballstadien, bei schlagenden verbindungen, aufsichtsratstreffen etc. ganz ähnlich wie bei lems
futorologischem kongreß zu verfahren...

(...) "Als Tichy einen Anfall von Güte und alles umfassender Zuneigung erleidet, wird ihm klar, dass der Diktator des Landes das Trinkwasser mit Benignatoren versetzt hat, chemischen Begütigungsmitteln, die einen Aufstand der unzufriedenen Bevölkerung des Landes gegen ihn verhindern sollen." (...)

... und die männlichen teilnehmer der benannten veranstaltungen ordentlich mit
"liquid trust" einzunebeln ? glücklicherweise (oder auch nicht, je nach standpunkt) ist oxytocin meines wissens aufgrund seiner flüchtigkeit für solche manipulativen projekte nicht sonderlich geeignet. interessanter finde ich da schon wie gesagt die möglichen implikationen, die sich sich ergeben, wenn man sich klarmacht, dass (in einem der oben verlinkten älteren beiträge zum thema kurz skizziert) oxytocin aufgrund seiner fundamentalen rolle auch im hinblick auf autistische zustände beforscht wird. und da wiederum fällt mir eine etwas ältere hypothese aus der autismus-forschung ein, die sich ganz überspitzt in der frage ausdrücken lässt: sind "männlichkeit" und autismus jeweils synonyme für das gegenüber? das ergebnis der oben genannten studie jedenfalls ließe sich aus meinem verständnis heraus durchaus als indiz dafür interpretieren - vielleicht gibt´s ja "professionelle", die dieser frage zukünftig mal genauer nachgehen.

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