Donnerstag, 27. Januar 2011

notiz: "das leben ist unmöglich geworden" - am vorabend einer weiteren revolution? [2. update am 28.01.]

das ist wortwörtlich zu nehmen - alle meldungen aus ägypten deuten darauf hin, dass die für morgen angesetzten demonstrationen zu einer echten machtprobe zwischen regime und bevölkerung werden könnten - ausgang ungewiss. in allen nur denkbaren fällen aber werden aller wahrscheinlichkeit nach massive fernwirkungen weit über die arabische welt hinaus zu verspüren sein.

ich habe zur entwicklung v.a. im nordafrikanischen raum viele gedanken im kopf, aber für den moment sei nur aus zwei texten zitiert, einmal ein ganz
aktueller...

(...) "Mohammed Kamal sitzt zusammengesunken auf einem Schemel. Er ist sichtlich schockiert, wischt sich mit einem Taschentuch das Blut aus dem Gesicht. Die lila-rote Schwellung an seinem Auge aber bleibt. "Ich habe versucht, auf einer Demonstration eine Frau zu schützen, auf die die Polzisten eingeprügelt haben, als sie am Boden lag", erzählt der Anwalt. "Ich wollte sie da rausholen und dann haben sie auf mich zu siebt eingeprügelt und haben gerufen 'Du Hundesohn'." Kamal macht eine Pause und schüttelt wiederholt den Kopf. "Das Leben hier ist unmöglich geworden. Jeden Tag trampeln sie auf der Würde der Menschen herum", bricht es aus ihm heraus.

"Schau mich an, wie sie mich zugerichtet haben. Ich bin Anwalt, aber ich muss dir sagen, in diesem Land gibt es keine Gerechtigkeit." Er blickt still zum Boden, bevor er fortfährt. "Solange es keine Gerechtigkeit gibt, geht es abwärts mit diesem Land - und am Ende auch mit Husni Mubarak und mit all denen, die hinter ihm stehen. Es wird ihnen genauso gehen wie Ben Ali in Tunesien", sagt er mit zunehmendem Ärger in der Stimme.

Und dann ist er kaum mehr zu bremsen. Er arbeite jeden Tag am Gericht. Er habe genug von dieser Bestechung. Jeden Tag lungere er mit anderen Anwälten vor den Türen der Richter herum. "Ich möchte das nicht mehr machen." Aber er sei dazu gezwungen, um seine Fälle erfolgreich abzuschließen. "Wir alle haben unsere Würde abgelegt", klagt er.

Mit den Demonstrationen wolle er auf jeden Fall weitermachen, kündigt er an. Was ihm heute wiederfahren sei, habe ihn nur bestärkt. "Ich bin 25 Jahre alt. Ich bin unter Mubarak geboren. Und ich werde mit Mubarak oder seinem Sohn ins Grab gehen", meint er bitter "Mubarak ist ein Greis, warum regiert er immer noch?", fragt er und endet wie folgt: "Entweder nimmt Gott ihn oder uns zu sich. Wir können einfach nicht mehr". (...)


der achtundzwanzigste januar in aegypten

...und ein
älterer aus dem jahr 2007:

(...) "Das Gesicht des jungen Mannes ist schmerzverzerrt, die Augen geschlossen, der Mund weit aufgerissen. Er schreit vor Schmerzen, bittet darum, dass es aufhört. Der Mann liegt auf dem Boden, der Unterkörper ist nackt, und ihm wird ein Besenstiel in den After geschoben. Die grausame Tat erschüttert Ägypten, denn die Täter sind Offiziere der Polizeistation im Kairoer Stadtteil Bulaq al-Dakrur. Zwar ist bekannt, dass in ägyptischen Polizeirevieren und im Gefängnis gefoltert wird. Aber einen so eindeutigen Beweis gab es noch nie: Ein Polizeioffizier hat die Tat mit seinem Mobiltelefon gefilmt – und an Kollegen des Opfers, des 21-jährigen Taxifahrers Emad al-Kabir gesandt, der auf der Straße in einen harmlosen Streit mit der Polizei geraten war.

Mit der Warnung, ihnen werde es genauso ergehen, wenn sie sich mit der Polizei anlegten.

Die Polizisten sollen Schmiergelder von den Taxi- und Minibusfahrern des Viertels verlangt haben, was diese ablehnten. (...)

„Folter in Ägypten ist systematisch“, sagt Magda Adly, die Leiterin des Nadim-Zentrums, das Folteropfer medizinisch und juristisch betreut. „Sie ist weitverbreitet, es werden immer die gleichen Techniken benutzt und es gibt faktisch keine Strafverfolgung“, sagt die gelernte Narkoseärztin, die das Zentrum 1993 mitbegründet hat. „Zunächst gibt es im Polizeirevier die „Empfangsparty“ – so nennen dies die Polizisten selber: Schwere Schläge, Tritte, die Opfer müssen sich auf den Boden legen, und auf ihrem Rücken wird herumgetrampelt. Im nächsten Schritt werden die Menschen an ihren auf den Rücken gefesselten Händen aufgehängt. Oft werden sie an einen Deckenventilator gehängt, der dann angestellt wird, so dass sich das Opfer dreht. Oder sie werden an den Füßen aufgehängt. Elektroschocks gehören ebenso zum Repertoire.“ Regelmäßig endet dies mit dem Tod der Opfer.Bedroht davon sind einfache Kriminelle ebenso wie islamistische und linke Oppositionelle, aufmüpfige Studenten oder jeder Unschuldige, der in die Hände der Polizei gerät. So wie der 18-jährige Mahmoud Tamam, der zu Tode gefoltert wurde, nachdem er Streit mit seinem Nachbarn hatte, der das gleiche Mädchen liebte. Dieser habe seinem Verwandten im Polizeidienst gesagt, dem Nebenbuhler müsse eine Lektion erteilt werden." (...)


DAS sind "unsere" verbündeten - regimes von mördern, folterern und hoch antisozialen. nicht, das das eine neuigkeit wäre. Sie und ich tragen übrigens solche verhältnisse mittels steuern (die dann in sog. militär- und waffenhilfen, polizeiliche ausbildungen etc. fließt) entscheidend mit. wen das kalt lässt oder wer das sogar gut findet (davon gibt es einen gar nicht so kleinen anteil), stellt sich selbst - erfreulicherweise - klar in position. erfreulicherweise schreibe ich deshalb, weil es höchste zeit für klare und deutliche grenzziehungen ist. dazu demnächst mehr.

für den moment aber vor allem dies:

good luck and power to the people in egypt and tunisia!

*

edit am 28.01.: es sieht zur stunde fast so aus, als würde das
bisher undenkbare nun tatsächlich geschehen:

(...) "Mit letzter Kraft stemmt sich die ägyptische Regierung gegen die Massenproteste im Land. Nach Angaben der staatlichen ägyptischen Nachrichtenagentur MENA sind über eine Million Menschen auf den Straßen. Unbestätigten Berichten zufolge sollen es bis zu zwei Millionen sein. Die Polizei setzt Gummigeschosse, Wasserwerfer und Tränengas gegen die Demonstranten ein. Die Regierung schaltete das Handy-Netz ab und kappte Internet-Verbindungen. Friedensnobelpreisträger Mohamed al-Baradei steht unter Hausarrest.

Der arabische Nachrichtensender al-Dschasira berichtet von Polizisten, die ihre Uniformen ablegen und sich den Demonstranten anschließen. Ähnliche Meldungen kommen auch über den Kurznachrichtendienst Twitter. Demnach geben sich Demonstranten und Polizisten, die eben noch gewaltsam gegeneinander vorgegangen waren, die Hände. In einem Bericht der amerikanischen Nachrichtenagentur AP wird spekuliert, Präsident Husni Mubnarak könne sich womöglich nicht mehr auf seine Polizisten verlassen und werde die Armee gegen die Demonstranten aufmarschieren lasse.

Auf Twitter heißt es, die Israelis begännen damit, ihr Botschaftspersonal aus Kairo zu evakuieren. Angeblich werden alle auf dem Kairoer Flughafen ankommenden Auslandsjournalisten sofort in Polizeigewahrsam genommen. (...)

Von Stunde zu Stunde breiten sich die Demonstrationen auf das ganze Land aus. Aus allen Großstädten werden Massenproteste gemeldet. In Suez haben Regierungsgegner demnach eine Polizeistation in Brand gesteckt. Die Stadt im Osten des Landes war schon in den vergangenen Tagen Schauplatz heftiger Straßenschlachten. In Luxur geht die Polizei mit Tränengas gegen die Demonstranten vor. Auf den Straßen würden Bilder des ägyptischen Präsidenten zerrisse, heißt es.

Weit über 100.000 Menschen sollen in Alexandria den Sturz der Regierung Mubarak fordern, berichtet die BBC. „Geh, geh, Mubarak, dein Flugzeug wartet auf dich“, skandieren sie den Berichten zufolge. (...)


es wurden heute mittag weiter auch massendemonstationen in jordanien vermeldet, und ganz aktuell kommen in der letzten halben stunde immer mehr hinweise darauf, dass sich syrien inzwischen ebenso wie ägypten vom netz abgekoppelt hat. regionale us-medien berichten dazu, dass sich einheiten der us-nationalgarde in ägypten bereit halten würden (links folgen, sobald sich das verifizieren lässt).

power to the people!

*

edit 2: was ein tag... die soziale eruption in ägypten ist so gewaltig, dass sie auch den mainstreammedien nach deren eigenen gesetzen eine ausgiebige beschäftigung mit den ereignissen und teils auch den hintergründen aufzwingt. eine kleine auswahl im folgenden, aber zuerst noch zum letzten update oben: die meldungen bezgl. der syrischen netzsperre sind widersprüchlich; fakt scheint aber zu sein, dass zumindest bestimmte teile des netzes dort nicht erreichbar sind. eine totalblockade wird teils demntiert, teils weiter behauptet. zu der info mit der us-nationalgarde: es soll sich nur um eine kompanie handeln, die sich bereits seit wochen im land befindet und in irgendeiner uno-mission eingebunden ist - so zumindest quellen aus den usa. ich gebe das mal ohne kommentar weiter.

ansonsten: nachdem am abend erst in drei städten eine ausgangsperre verordnet (und prompt nicht befolgt) wurde, hat das regime die später auf das ganze land ausgeweitet. inzwischen soll sie partiell wieder aufgehoben sein. die polizei hat sich am ende nicht befähigt gezeigt, militante proteste eines solchen kalibers tatsächlich aufzuhalten (dazu hätten sie massiv schusswaffen benutzen müssen, was spätestens dann aber hinsichtlich der entschlossenheit und erbitterung vieler leute auf den straßen dort zu einer art finalen explosion geführt hätte.)

die zur hilfe beorderte armee verhält sich bisher uneindeutig - während aus alexandria und kairo von verbrüderungsszenen zwischen demonstranten und soldaten berichtet wurde, schienen in suez die einheiten deutlich feindselig gestimmt gewesen zu sein. es halten sich dazu hartnäckig berichte, die aus kairo von kämpfen zwischen armeeeinheiten und aufstandsbekämpfungspolizei erzählen - vielleicht ein ebenso entscheidender fakt wie in tunesien, dass es sich auch in ägypten um eine wehrpflichtarmee handelt. allerdings dürften die generäle dort eine andere linie fahren als in tunesien, was aber wiederum dann keine große bedeutung hätte, wenn sich die mannschaften schlicht den befehlen verweigern. die nächsten tage werden hier vermutlich klarheit schaffen.

es heisst wahrscheinlich eulen nach athen tragen, wenn ich hier nochmal die derzeit informativste nachrichtenquelle poste, aber sei´s drum: der
livestream von al jazeera (in englisch) dürfte momentan weltweit die umfassendste berichterstattung bringen (und sehr viele andere medien schöpfen aus dieser quelle). heute abend kam dort noch die meldung, dass immer mehr reiche geschäftsleute und auch figuren des regimes das land in privaten fliegern verlassen würden - die ratten verlassen ihr bisheriges bequemes und jetzt sinkendes schiff.

eindrucksvolle bilderstrecken bieten bspw.
der standard und, wie schon gewohnt, wenn auch nicht total aktuell, boston.com.

zu den reaktionen der westlichen "politik" schreibe ich momentan nichts, weil die angemessene verachtung für die heuchelei und den opportunismus nicht adäquat in worte zu fassen ist.

abschließend sei noch auf eine wie ich finde sehr interessante
meldung aus saudi-arabien verwiesen, die im ersten moment relativ unspektakulär klingt, aber bei verdeutlichung der extrem repressiven verhältnisse dort wie ein vorbeben erscheint:

"Die Sicherheitskräfte in Saudi-Arabien haben heute Dutzende von Demonstranten festgenommen. Nach Polizeiangaben wurden zwischen 30 und 50 Menschen in Jeddah in Gewahrsam genommen, die nach den jüngsten schweren Überflutungen Verbesserungen bei der Infrastruktur eingefordert hatten. Die Proteste auf einer Einkaufsstraße seien nach 15 Minuten aufgelöst worden, berichteten Augenzeugen.

In dem Königreich sind öffentliche Demonstrationen nicht zugelassen. Den Aufruf zu dem Protest, über Smartphones massenhaft verbreitet, bewerten Beobachter als offene Herausforderung der autoritären Staatsführung." (...)


und so nehmen die dinge ihren (trotz aller opfer und schmerzen) hoffentlich erfreulichen verlauf.

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