Montag, 31. Januar 2011

notiz: szenen einer revolutionären epoche

zuerst mal zur abwechslung eine nachricht, die vor ein paar stunden als eilmeldung in vielen europäischen medien auftauchte und - selten genug - grundsätzlich positiven inhaltes ist:

(...) "Die einflussreiche Armee in Ägypten hat sich erstmals hinter die Forderungen der Demonstranten gestellt. Am Montag versprach sie, im Konflikt zwischen der Opposition und dem Regime Zurückhaltung üben zu wollen. "Wir werden keine Gewalt gegen die Bürger einsetzen. Wir verstehen die Forderung der Demonstranten", hieß es in einer Erklärung.

"Die Meinungsfreiheit in friedlicher Form ist für alle garantiert", zitierten die amtliche Nachrichtenagentur Mena und das Staatsfernsehen aus der Erklärung. "Die Präsenz der Armee in den Straßen ist zu eurem Schutz, und um eure Sicherheit und euer Wohlbefinden zu garantieren", hieß es weiter. Die Armee rief die Bevölkerung auf, von Sabotageakten abzusehen, da diese die Sicherheit sowie das öffentliche und private Eigentum verletzten." (...)


falls es sich dabei nicht um einen sehr perfiden trick seitens führender militärs handeln sollte, bin ich geneigt zu sagen: das war´s für mubarak. wenn sich die armee bei den für morgen angesagten aktionen - landesweiter generalstreik und massendemonstrationen in größeren dimensionen als selbst am freitag - tatsächlich zurückhält, wird seine stunde und die großer (vermutlich nicht aller, das benötigt wesentlich mehr zeit) teile seines regimes am morgigen dienstag endgültig schlagen. und ich habe auch das gefühl, dass sein schicksal anders enden wird als das seines diktatorischen bruders ben ali in tunesien. mubarak erscheint unglaublich starr und realitätsfremd. kann gut sein, dass er im wahrsten sinne des wortes den abflug verpasst und stattdessen eine art ceaucescu-moment erlebt.

wie dem auch sei: tempo und ausmaß der entwicklungen sind schlicht atemberaubend und die konsequenzen noch nicht mal ansatzweise abzuschätzen. es ist im wahrsten sinne des wortes eine historische lektion, die da aus tunesien und ägypten erteilt und weltweit wahrgenommen wird. teils bin ich einfach baff.

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gesicht(er) und töne aus der tunesischen revolution - ein junge frau singt am 14. januar inmitten einer demonstration vor dem innenministerium in tunis kurz vor dem sturz des diktators ein lied über die freiheit:



...

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solche szenen machen mich - ja, unter anderem schlicht auch neidisch auf das, was die menschen da kollektiv jetzt erleben und an neuen erfahrungen machen - revolutionen sind keineswegs nur momente von angst und schrecken, wie es sich als subtext hartnäckig in vielen berichten des mainstreams hält. aber ich weiß auch nicht, ob ich sie unbedingt als
permanentes volksfest bezeichnen würde, wie das die folgende beschreibung aus kairo tut. wenn schon volksfest, dann jedenfalls nicht im hiesigen sinne:

(...) "Seit Tagen sitzen die Soldaten neben dem Ägyptischen Museum in unmittelbarer Nachbarschaft zum Platz der Befreiung, während um sie herum eine Art permanentes Volksfest tobt. Die Soldaten werden dort nicht als Fremdkörper behandelt, sondern stehen mittendrin in den Debatten darüber, wie es mit Ägypten weitergehen soll. Ihre Panzer sind vollgesprüht mit Slogans, die zum Sturz des Regimes aufrufen. Auf dem Platz sind die Soldaten und die Demonstranten schon längst zu einer Einheit verschmolzen. Da wirkt das Bild, in dem Mubarak inmitten der Militärführung sitzt und das stündlich im ägyptischen Fernsehen wiederholt wird, weit, weit weg.

Seit den Morgenstunden ist auch die Polizei zurück. Die meist verhassten Einheiten, die Bereitschaftspolizei und die Männer der Staatssicherheit aber sind weiterhin auf wundersame Weise aus dem Stadtbild verschwunden. Und die Streifen- und Verkehrspolizisten haben den Befehl, sich keiner Demonstration zu nähern und den Tahrir-Platz zu umgehen. (...)

Zwischen den Zigarettenverkäufern und Menschen, die kostenlos Datteln verteilen, entsteht nicht nur ein neues Ägypten, sondern es greift auch ein neues Gefühl um sich. Die jahrelange kollektive Depression, die dieses eigentlich humorvolle Volk in den letzten Jahren im Griff hatte, ist verschwunden.

Zunächst machten die Menschen ihrer Wut auf die Polizei Luft. Nun stehen sie auf dem Platz, und jeder kann sich frei über die letzten Jahre auslassen. Meist beginnt das mit dem Satz, "Weißt du, wie viel ich als … verdiene?", und endet mit einer Aufzählung der wichtigsten Lebensmittelpreise, die in keinem Verhältnis dazu stehen. Die Menschen beschreiben im Detail, was sie in all den Jahren unterdrückt hat und hören sich dabei gegenseitig zu, um schließlich einander in die Arme zu nehmen. Es ist wie ein Therapierausch.

Man wird den Eindruck nicht los, dass viele immer wieder jeden Tag auf den Platz kommen um diesen Glückstrip zu erleben, der mit einem verwunderten "Ach dir ging's auch so schlecht" beginnt, um mit dem enthusiastischen Ausruf "Stürzt Mubarak! Nieder mit dem Regime!" endet." (...)


ich vermute, dass keine imagination der aktuellen realität in beiden ländern auch nur ansatzweise nahe kommt. aber es klingt verdammt gut!

*

letzteres noch vermehrt, wenn man sich die reaktionen des "offiziellen" westens und seiner speichellecker in vielen kommentarspalten quer durchs netz anschaut. während erstere an ihrer heuchelei ersticken mögen, gibt´s bei letzteren offenen rassismus, paranoide islamphobien (und ja, ich stehe dem islam so gegenüber wie jeder anderen religion auch - sie sind alle eine sackgasse, aber trotzdem lässt sich der befund so konstatieren) und europäisches herrenmenschendenken zu bewundern. im kern tiefste antisozialität und pathologischer egozentrismus ("unsere" sicherheit, "unser" einfluss, "unser" öl...)

pack alle beide, sowohl die westlichen "eliten" als auch ihre devoten untertanen. und zur aktuellen israelischen politik momentan nur ein wort: selbstzerstörerisch. für die von ihnen tolerierte entsetzliche dummheit und das kriminelle verhalten - nichts anderes ist die unterstützung einer folterdiktatur - ihrer regierenden wird letztlich die israelische bevölkerung bezahlen. aber warum sollte es denen auch besser gehen als bespw. der hiesigen bevölkerung?

*

zum wort "fernwirkungen" empfiehlt es sich, auch einen blick auf zwei kommende "groß"- oder gar "supermächte" zu werfen, und zwar in asien. während china bei seinem eigenen "twitter"-klon das wort "egypt" schlicht gestrichen hat, wird aus
indien das folgende berichtet:

(...) "In Indien sind am Sonntag Zehntausende Menschen auf die Straße gegangen, um gegen Korruption zu protestieren. Auslöser der Aktionen in Neu Delhi und anderen Großstädten waren die permanenten Korruptionsskandale, die seit Herbst die Regierung von Manmohan Singh erschüttern.

In Neu Delhi fordern tausende Demonstranten die Gründung eines gesellschaftlichen Gremiums, welches korrupte Beamte entlassen und korrupte Politiker von Wahlen ausschließen dürfen soll, wie ein Korrespondent RIA Novosti RIA Novosti vor Ort berichtet.

Die heutigen Proteste fallen mit dem 63. Todestag des weltberühmten indischen Freiheitskämpfers Mahatma Gandhi zeitlich zusammen. Fünf Oppositionelle sind in der indischen Hauptstadt in Hungerstreik getreten, um die Regierung zum Einlenken zu zwingen.

"Wir sind bereit, unsere Leben zu opfern - für die Werte, für die sich Mahatma Gandhi eingesetzt hatte", sagte einer der Streikenden, Schambu Datta (93), zu RIA Novosti. „Wir nehmen kein Essen zu sich, solange die Reaktion der Regierung ausbleibt."

Auch in der Finanzmetropole Mumbai sowie in Bangalore und Dutzenden weiteren Städten gingen viele Menschen unter ähnlichen Parolen auf die Straße." (...)


"es liegt was in der luft, ein ganz besonderer duft..." *summ*

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